Das dreißigste Jahr


1. Inhalte
1.1. Die Darstellung der Thematik
In den sieben Erzählungen, aus den Jahren 1956 und 1969, im Band "Das dreißigste Jahr", von Ingeborg Bachmann, geht es niemals nur um ein Schicksal oder um eine Handlung.
Die Autorin schafft es durch ihre bildhafte Sprache alles über die Liebe, die Menschen und die Verzweiflung zu sagen.
Die Gestalten sind alltäglich und doch von mythischer Ausstrahlung. Denn ihnen ist eines gemeinsam: Sie stellen immer Menschen dar, die sich entweder in einer Existenzkrise oder aber in einer Grenzsituation, in einem Konflikt zwischen Leben und Tod befinden.
Die Erzählungen enthüllen das Gesetz des Krieges, nicht nur in der Kriegszeit selbst, sondern auch in der Zeit vor und nach den Kriegen.
Weitere Themen sind die Zerstörung von Gefühlen, die Unterschiede zwischen Mann und Frau, bezogen auf Beziehungen und Gefühlszustände, sowie das Verhältnis von Recht und Unrecht im zwischenmenschlichen Bereich.

1.2. Skizze der Inhalte

Jugend in einer österreichischen Stadt

Die erste Erzählung in diesem Buch, beschreibt die Auswirkungen des Krieges aus autobiographischer Sicht.
Dabei stellt die Autorin die Kinder, die zu dieser Zeit leben (bewusst) in den Vordergrund.
Sie beschreibt mit bildlicher Sprache, wie die Kinder die zerstörte Welt um sich herum aufnehmen und realisieren. "Die Kinder flicken ihre Sprungseile, weil es keine neuen mehr gibt, und unterhalten sich über Zeitzünder und Tellerbomben. Die Kinder spielen. Lasst Sie Räuber durchmarschieren in den die Ruinen, aber manchmal hocken sie nur da, starren vor sich hin und hören nicht mehr drauf, wenn man sie " Kinder" ruft." (Bachmann, S.14)
Durch die verlorene Ãœbereinstimmung mit sich selbst und ihre innerliche Trauer, entwickeln sie eine eigene Sprache.
"Die Kinder sind verliebt und wissen nicht in wen. Sie kauderwelschen, spintisieren sich in eine unbestimmbare Blase, und wenn sie nicht mehr weiterwissen, erfinden sie eine eigene Sprache, die sie toll macht. Mein Fisch. Meine Angel. Mein Fuchs. Meine Falle. Mein Feuer. Du mein Wasser. Du meine Welle. Meine Erdung. Du mein Wenn. Und du mein Aber. Entweder. Oder. Mein Alles...mein Alles.... Sie stoßen einander, gehen mit Fäusten aufeinander los und balgen sich um ein Gegenwort, das es nicht gibt. Es ist nichts. Diese Kinder!" (Bachmann S.12)

Das dreißigste Jahr

Thema in dem zweiten Kapitel ist die Lebenskrise eines jungen Menschen, der mit dreißig Jahren eine erste Bilanz seiner Existenz zieht.
Bisher hatte er einfach von einem Tag zum anderen gelebt, doch plötzlich erkennt er, dass ihm nicht mehr alle Möglichkeiten offen stehen.
Aus diesem unmittelbaren Grundkonflikt entwickelt die Autorin Ingeborg Bachmann das Portrait eines jungen Mannes, der eine Identitätskrise auf seine ganz eigene Weise verarbeitet und diese am Ende überwindet.
Er löst sich zunächst aus seinem bisherigen sozialen Umfeld und begibt sich auf Reisen. Die intensive Konfrontation mit sich selbst und der eigenen Vergangenheit lässt die Spannung stetig steigen.
Der Höhepunkt ( Katharsis ) dieser Erzählung ist ein Verkehrsunfall. Erst durch die direkte Berührung mit dem Tod eines anderen, des Fahrers des Unfallwagens, gewinnt der Protagonist seinen verloren geglaubten Lebenswillen ebenso plötzlich zurück, wie er ihm abhanden gekommen war. "Endlich sagte er sich: Ich lebe ja, und mein Wunsch ist es, noch lange zu leben. Das weiße Haar, dieser helle Beweis eines Schmerzes und eines ersten Alters, wie hat es mich nur so erschrecken können? Es soll so stehenbleiben, und wenn es nach ein paar Tagen ausgefallen ist und so rasch kein anderes mehr erscheint, werde ich doch einen Vorgeschmack behalten und nie mehr Furcht empfinden vor dem Prozeß, der mir leibhaftig gemacht wird. Ich lebe ja!" (Bachmann, S.59)

Alles

Eine Grenzsituation, ein Konflikt zwischen Leben und Tod, ist auch Gegenstand dieser Erzählung.
Der Protagonist, ein junger Vater, tritt innerlich aus seinem förmlichen, vorgegebenen Leben aus, um am Ende nichts anderes als die reale Unmöglichkeit seines alleinigen Austritts aus der Gesellschaft einzusehen.
Die Geburt seines Sohnes ist für den Protagonisten Anlass zum Nachdenken: Während der Entwicklung des Jungen, bemerkt der Vater die professionelle Vorbereitung auf ein Überleben in der - nach seiner Meinung - schlechtesten aller möglichen Welten.
Diese Erkenntnis erschreckt den Vater so, dass ihm ebenso bewusst wird, dass das Kind nicht die geringste Möglichkeit hat, aus diesem vorgegebenen Kreislauf auszubrechen. Durch die Wiederholung immer gleicher Muster bestätigt das Kind seinen Vater in dessen vollkommen hoffnungsloser Weltsicht.
Erst mit dem plötzlichen Unfalltod des Kindes, erhält die Erzählung ihre entscheidende Wendung. Der Vater nimmt seinen toten Sohn und damit die Widersprüchlichkeit der menschlichen Existenz an.
Erst in dem Moment, in dem er gnadenlos auf seine Hoffnung verzichtet, wird ihm das Leben möglich.

Unter Mördern und Irren

Auch die vierte Erzählung hat beunruhigende Erfahrungen, ja Grenzsituationen der menschlichen Existenz zum Thema.
"Unter Mördern und Irren" erzählt von der österreichischen Nachkriegsgesellschaft auf der Basis totaler Verdrängung der Vergangenheit.
Zugleich, die gestörte Beziehung zwischen Mann und Frau, die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Weiterleben des faschistischen Weltbildes in den Köpfen der Männer gesetzt wird.
Ebenso wie im "Dreißigsten Jahr" und in "Alles" wählt Ingeborg Bachmann auch hier einen männlichen Ich - Erzähler.
Die vier älteren Herren, angesehene Bürger ihrer Stadt, die sich wöchentlich zum Stammtisch treffen, haben die faschistische Einstellung, in deren Geiste sie erzogen wurden und in deren Geiste sie während des Krieges handelten, mit zunehmenden Alter nicht überwunden, sondern sie lediglich geschickt verfeinert.
Durch Anpassung haben sie sich ihre sozialen Positionen auch nach dem Krieg erhalten können. Doch die gesellschaftliche Gegenwart beruht auf einer Lüge
Während die Männer sich nach Feierabend gegenseitig in ihrem Weltbild bestätigen, bleiben ihre Frauen mit all ihrem Kummer und all ihren Sorgen alleine zu Hause. Einfühlsam beschreibt die Autorin hier den genauen Gefühlszustand der Frauen. (vgl. 2.2.)

Ein Schritt nach Gomorrha

Im Gesamtwerk Ingeborg Bachmanns nimmt diese Erzählung den Platz ein, von dem aus nun die weibliche Erzählperspektive ihren Anfang nimmt.
Die Hauptrolle spielen hier die Musikerin Charlotte und das Mädchen Mara.
Im Anschluss an ein Fest, das in Charlottes Wohnung stattgefunden hat, bleibt die Gastgeberin allein mit dem Mädchen, wobei dieses keinerlei Anstalten macht zu gehen. Die Begegnung der beiden Frauen in der nächtlichen Wohnung wird für Charlotte zu einer intensiven Begegnung mit sich selbst. Im Begehren des Mädchens und in der eigenen, instinktiven Abwehr gegen das Begehren des eigenen Geschlechts erkennt sie die Brüchigkeit der allgemeinen bürgerlichen Ordnung, in die sie als verheiratete Frau fest eingebunden ist. Sie realisiert nun die Oberflächlichkeit ihres bisherigen Lebens und die eigene Feigheit, die ihr den Ausbruch aus dem Rahmen ihrer Existenz niemals gestatten wird.
In Maras bedingungsloser Unterwürfigkeit erkennt Charlotte ihr eigenes Verhalten in Bezug auf ihren Mann wieder. Ein Entrinnen aus dem Kreislauf von Herrschen und Beherrschtwerden durch die Entfaltung einer starken, weiblichen Identität erscheint völlig aussichtslos.

Ein Wildermuth
In der sechsten Erzählung geht es um nichts anderes als die Wahrheit.
Wahrheit, Gesetz, Sprache, das sind die Grundsätze des Vaters, mit denen er seinen Sohn erzieht.
"Ein Wildermuth wählt immer die Wahrheit." (Bachmann, S. 137). An diesen Satz, den er von seinem Vater, dem Lehrer Anton Wildermuth, so oft gehört hatte, dachte der Richter Anton Wildermuth, während er die schwarze Kutte ablegte.
Der Vater "war der Erfinder des Wortes ,wahr in allen seinen Bereitschaften, mit allen seinen Verbindungs - und Verknüpfungsmöglichkeiten." (Bachmann, S. 150)
Somit ist sich auch der Richter seines eigenen Wollens bewusst: "Mit der Wahrheitsfindung bin ich befasst, und nicht nur von Berufs wegen bin ich mit ihr befasst, sondern weil ich mich mit nichts andrem befassen kann." (Bachmann, S.160)
In einem Prozess gegen den Vatermörder, der "zufälligerweise" Wildermuth heisst, obwohl kein Verwandtschaftsverhältnis vorliegt, kommt, in der Konfrontation mit dem eigenen Namen, eine weit tieferliegende Verwandtschaft mit dem Mörder des Vaters an den Tag. Beim Studium der Gerichtsakten, wo er wieder und wieder seinen eigenen Namen lesen musste, und erst recht beim Anblick des Angeklagten entsteht beim Richter ein merkwürdiges Gefühl.
Im krassen Gegensatz zu den beiden männlichen "Wahrheitsliebenden", stehen sowohl die Mutter des Richters, als auch seine eigene Geliebte Wanda. Die Mutter war, im Gegensatz zur protestantischen Tradition der väterlichen Seite, eine Katholikin, aber eine, die nie zur Kirche ging. Somit konnte sie sowieso nicht Wissen, was der Wahrheit entsprach und hielt in Bezug dessen auch gerne zurück. Auch seine Geliebte Wanda nimmt es mit der Wahrheit nicht so genau und erzählt eine Geschichte auch gerne mal in vier verschiedenen Versionen.
Erzähltechnisch gibt es einen Wechsel von objektiv auktorialem Erzähler (im ersten Teil der Erzählung) zur subjektiven Ich - Perspektive (im zweiten Teil).
Undine geht
Undine, die Wasserfrau, Inkarnation der Entgrenzung.
Für die siebte und damit auch letzte Erzählung in dem Buch "Das dreißigste Jahr", ist es unmöglich eine Inhaltsangabe zu verfassen.
Diese Erzählung hat keine direkte Handlung, in der Personen miteinander interaktiv sind oder sich ein bestimmter Handlungsverlauf kennzeichnen lässt.
Das Geschriebene ist vielmehr die Klageschrift einer sensiblen, gefühlsbetonten, von Männern verletzten Frau, der diese Erzählung dazu dient, sich über den Schmerz, den ihr das männliche Geschlecht zugefügt hat, hinwegzuheben, um dann mit neuer Kraft in einen neuen Anfang eintauchen zu können. Doch ihre Zukunft ist ungewiß.
Die "Erzählung" schliesst mit einem direkten Aufruf Undines an den anderen, den Mann, das Ungeheuer in Menschengestalt:
"Beinahe verstummt,
beinahe noch
den Ruf
hörend.

Komm. Nur einmal
.
Komm."

(Bachmann, S.186)

2. Stilistik
2.1. Die Charakteristik der sprachlichen Gestaltung des Werkes insgesamt
"Keine neue Welt ohne neue Sprache" ist einer der meistzitierten Bachmannsätze und wird oft als Beleg für ihre eigene Spracherneuerung genommen.
"Der Satz steht nämlich am Ende einer ganzen Kette von Erneuerungs - und Vernichtungssätzen, in der der Sprache schließlich eine besondere Funktion zugeschrieben wird. Sie ist, im Sinne der Aufklärungskritik, Merkmal dafür, dass auch die aufgeklärte Welt nicht zum Zustand der Unschuld zurückkehren kann. Die Schändlichkeit der alten Vorurteile, selbst wenn sie durch Belehrung und Einsicht schwinden, ist im Fortbestehen der Worte festgehalten."[1]
Dieser Gedanke lässt sich z.B. in der Erzählung "Alles" wiederfinden. Hier will der männliche Ich - Erzähler seinen Sohn davor bewahren, so zu sprechen, sich so zu verhalten und vor allem so zu werden wie alle anderen in der Welt. Das versucht er, indem er ihn vor der Sprache schützt. Er will dem Kind viel lieber die Sprache der Natur beibringen: "Lehr ihn die Wassersprache!...Lehr ihn die Steinsprache!...Lehr ihn die Blättersprache!" (Bachmann, S. 68)
Sein Plan scheitert und so muss der Vater bald feststellen, dass sich die Eingliederung des kleinen Jungen in die Gesellschaft hinter seinem Rücken längst vollzogen hat.
Der Begriff> Sprache < erhält in allen Erzählungen eine "inhaltliche Ausweitung auf alle Formen von Ausdruck, Wahrnehmung, Denken und Gefühl."[2]
Während es sich in "Alles" um den Spracherwerb eines Kindes handelt, so wird in der Erzählung "Ein Schritt nach Gomorrha" die Sprache der Männer hervorgehoben. Hier übernimmt die Frau Charlotte Blick und die Strategie des Mannes. Die Sprache und scheinbar das Geschlecht haben besondere Bedeutung in Bachmanns Werk.
Das gesamte Werk ist sowohl mit bildlicher, ironischer, als auch mit provozierender und symbolischer Sprache versehen. Beispiele für die bildhafte Sprache der Autorin wären unter anderem: "... und der Sand zu singen aufgehört hat,..." (Bachmann, S. 16), "Er wirft das Netz Erinnerung aus, wirft es über sich und zieht sich selbst, Erbeuter und Beute in einem, über die Zeitschwelle, die Ortsschwelle, um zu sehen, wer er war und wer er geworden ist." (Bachmann, S. 17), "Die Worte stürzten wie tote Falter aus ihren Mündern." (Bachmann, S. 148)
So schafft es die Autorin den Leser mit in das Geschehen zu setzen, ihn mitfühlen und verstehen zu lassen. Durch die Art, wie die Autorin ein ganz alltägliches Thema in Szene setzt schafft sie es, dass der Leser nach jeder Erzählung eine Art Selbstreflexion über sein eigenes Leben tätigt.
Ihre Wortwahl unterstreicht das Thema und lässt dem Leser auch die Möglichkeit sich komplett von der Thematik zu distanzieren und sie lediglich als "einfache Erzählung" hinzunehmen.
Nur selten kommt es in Bachmanns Lyrik zu einer gemeinschaftlichen Sprache der Geschlechter. Um sich gegenseitig mitteilen zu können, heisst es gegen Ende der Erzählung "Alles" : "... müsste man zuerst den Trauerbogen zerreißen können, der von einem Mann zu einer Frau reicht." (Bachmann, S. 81)
Während des Lesens, erhält man oft das Gefühl, dass die Autorin mit den Männern "abrechnen" will. Sie stellt bewusst die Frau als Objekt dar, dass "in einer Welt der Stammtische keinen Platz hat."[3] Sie stellt die "typisch" männlichen Charaktere heraus und beschreibt in ihren Erzählungen immer wieder das schwierige Zusammenleben mit dem anderen Geschlecht.
Erzähltechnisch benutzt sie das Präteritum und die Vergangenheit in ihrem eigenen Rhythmus. Entweder berichtet ein Ich - Erzähler oder aber die dritte Person. In einigen Erzählungen gibt es einen Wechsel dieser beiden Erzähler, wie zum Beispiel in "Ein Wildermuth." Im Zusammenhang mit dem "Dreißigsten Jahr" spricht man des öfteren von lyrischer Prosa. "Bachmann wechselt von der Lyrik zur Prosa, um ihren eingezäunten, ästhetischen Ort zu verlassen und den Stoff der Erfahrung in die Literatur einzubringen. Andererseits übernimmt sie in Abgrenzung zur Epik, vor allem zum autobiographischen Erzählen, soweit es als Bericht über persönliche Erlebnisse und Entwicklungen verstanden wird, lyrische Momente in die Prosa."5

2.2. Die detaillierte sprachliche Analyse einer typischen Passage
"Ihr Ungeheuer mit euren Frauen!
Hast du nicht gesagt: Es ist die Hölle, und warum ich bei ihr bleibe, das wird keiner verstehen. Hast du nicht gesagt: Meine Frau, ja, sie ist ein wunderbarer Mensch, ja, sie braucht mich, wüßte nicht, wie ohne mich leben - ? Hast du´s nicht gesagt! Und hast du nicht gelacht und im Übermut gesagt: Niemals schwer nehmen, nie dergleichen schwer nehmen. Hast du nicht gesagt: So soll es immer sein, und das andere soll nicht sein, ist ohne Gültigkeit! Ihr Ungeheuer mit euren Redensarten, die ihr die Redensarten der Frauen sucht, damit euch nichts fehlt, damit die Welt rund ist. Die ihr die Frauen zu euren Geliebten und Frauen macht, Eintagsfrauen, Wochenendfrauen, Lebenslangfrauen und euch zu ihren Männern machen lasst. ( Das ist vielleicht ein Erwachen wert! ) Ihr mit eurer Eifersucht auf eure Frauen, mit eurer hochmütigen Nachsicht und eurer Tyrannei, eurem Schutzsuchen bei euren Frauen, ihr mit eurem Wirtschaftsgeld und euren gemeinsamen Gutenachtgesprächen, diesen Stärkungen, dem Rechtbehalten gegen draußen, ihr mit euren hilflos gekonnten, hilflos zerstreuten Umarmungen. Das hat mich zum Staunen gebracht, dass ihr euren Frauen Geld gebt zum Einkaufen und für die Kleider und für die Sommerreise, da ladet ihr sie ein ( ladet sie ein, zahlt, es versteht sich ). Ihr kauft und lasst euch Kaufen."(Bachmann, "Undine geht", S. 178/179)
Diese Passage wird von einer Außenstehenden, weiblichen Beobachterin dargestellt. Sie beschreibt zwar aus der femininen Sicht, stellt sich aber dennoch außerhalb des Frauseins. Sie klagt somit nicht nur die Männer, mit all ihren Verhaltensweisen, sondern auch die Frau, die all diese mitmacht und hinnimmt, an.
Diese Erzählung, Anfang der sechziger Jahre verfasst, beschreibt somit den damaligen, gesellschaftlichen Zeitgeist. Der Text ruft Mitgefühl hervor und spricht für alle Frauen die in dieser Zeit ausgebeutet wurden. Die Passage lässt eine Art Aufruf an alle Frauen vermuten, die den Mut fassen sollen, sich all dies nicht mehr gefallen zu lassen.
Mit den ersten sechs Zeilen dieser ausgewählten Passage wiederholt die Anklägerin die direkten Vorwürfe, die sie an den Mann und sein Verhalten hat. Sie gibt die Vorwürfe zurück, die sie einst bekommen hat. Durch die Wiederholung des Satzes:"Hast du nicht gesagt!" spricht sie die Person direkt an und rekapituliert die von dem Mann gemachten Vorwürfe. In den nächsten Zeilen, springt sie dann in den Plural, jetzt geht es nicht mehr um das>du<, sondern um>euch<, das männliche Geschlecht allgemein. Sie macht eine Aufzählung all dessen, wie sie die Männer und die Verhaltensweisen wahrnimmt. Mit den Bezeichnungen "Wochenend - frauen", "Eintagsfrauen" ..., beschreibt sie, was sie glaubt, was die Frau im Auge des Mannes verkörpert. Also das sie sie lediglich als eine Frau für einen Tag etc. annehmen.
Doch mit dem Satz: "... und euch zu ihren Männern machen lasst. (Das ist vielleicht ein Erwachen wert!)" (Zeile 9 /10) spricht die Beobachterin nun ganz direkt und mitten im Satz die Frauen an, dass sie erwachen und sich wehren sollen!
Anschließend beginnt sie von neuem mit den Vorwürfen, wobei sie mit dem ersten Teil des Satzes: "Ihr mit eurer Eifersucht auf eure Frauen,..." (Zeile 10) den Neid der Männer auf die weiblichen Besonderheiten anbringt. Sie treibt die Vorwürfe immer weiter auf die Spitze, auch in ihrer Wortwahl. Am Anfang waren die Männer noch Ungeheuer, jetzt sind sie schon Tyrannen.
Die letzten Zeilen (14 - 16) zeigen dann das Staunen der Außenstehenden, über die Möglichkeit der Männer, den Frauen materielles wie das Geld für Kleider ...,ohne weiteres zuzugestehen. Das scheint wohl ohne weitere Probleme zu funktionieren, doch werden die wahren Gefühle der Männer den Frauen vorenthalten. Sobald es um emotionale Regungen geht, sind die Männer hilflos: " ..., ihr mit euren hilflos gekonnten, hilflos zerstreuten Umarmungen." (Zeile 13)
Erst beim mehrmaligen Lesen dieser Passage, sind mir die versteckten, wichtigen Einzelheiten aufgefallen. Sprachlich hat Ingeborg Bachmann alles so fein strukturiert, dass man bei jeder Zeile aufpassen muss, dass einem nichts entgeht. Inmitten des Satzes zum Beispiel, wird ganz plötzlich eine andere Person angesprochen und es wird einem bewusst, dass nicht nur die Männer mit dieser Passage angeklagt werden. Sie zählt auf, wiederholt, stellt dar und lenkt den Leser in eine bestimmte Bahn des betrachtens.

2.3. Die Frage nach der Angemessenheit der sprachlichen Mittel
Meiner Meinung nach sind die sprachlichen Mittel angemessen. Gerade dadurch, dass es um Alltägliches geht, um Konfliktsituationen... finde ich den Schreibstil Ingeborg Bachmanns absolut passend. Besonders gelungen finde ich die Art des Schreibens, wenn es um innere Konflikte, also Gedankenhäuser geht. In der Erzählung "Alles", zum Beispiel, wird die gedankliche Position des Vaters nur durch ihre Wortwahl und die bildliche Sprache deutlich.
Sie verwendet alle Facetten der Sprache, ohne jedoch ihre poetische Quelle zu verraten oder zu verlieren. Dadurch erhalten die Erzählungen einen besonderen "Lesewert."

3. Biographische Bezüge

3.1. Die Biographie der Autorin

1926
Am 25. Juni wird Ingeborg Bachmann in Klagenfurt geboren. Vater: Hauptschuldirektor Matthias Bachmann Mutter: Olga Bachmann, geb. Haas, die Familie der Mutter betrieb eine Strickwarenerzeugung in Niederösterreich Älteste von drei Kindern.
1932 - 1936
Besuch der Volksschule.
1936 - - 1938
Bundesrealgymnasium.
1938 - - 1944
Oberschule für Mädchen.
1944 - - 1945
Abiturientenkurs an der Lehrerbildungsanstalt, bei Kriegsende abgebrochen.
1945 - - 1946
Sie beginnt im Wintersemester in Innsbruck mit dem Studium der Philosophie.
1946
Es folgt ein Semester Philosophie und Jura in Graz. Veröffentlichung der ersten Erzählung "Die Fähre."
1946 - - 1950.
Fortsetzung des Philosophiestudiums in Wien, mit den Nebenfächern Germanistik und Psychologie.
1947
Praktikum in der Nervenheilanstalt Steinhof bei Wien.
1948 - - 1949
Die ersten Gedichte erscheinen in der von Hermann Hakel herausgegebenenZeitschrift "Lynkeus."
1950
Dissertation bei Victor Kraft mit einer Arbeit über "Die kritische Aufnahme der Existenzphilosophie Martin Heideggers." Promotion am 23. März.
1950 - - 1951
Ingeborg Bachmann reist im Oktober 1950 nach Paris und von dort im Dezember nach London. Sie liest am 21. Februar 1951 bei einer Veranstaltung der Anglo - Austrian Society. Nach Wien zurückgekehrt findet sie zunächst eine Anstellung im Sekreteriat der amerik. Besatzungsbehörde. Seit Herbst arbeitet sie als script - writer und später als Redakteurin beim Sender Rot/Weiß/Rot.
1952
Ursendung des Hörspiels "Ein Geschäft mit Träumen" am 28. Februar im Sender Rot/Weiß/Rot, Wien. Veröffentlichung des Gedichtzyklus "Ausfahrt" in dem Jahrbuch "Stimmen der Gegenwart". Im Mai erste Einladung zu einer Lesung bei der 10. Tagung der Gruppe 47 an der Ostsee. Begegnet dort dem Komponisten Hans Werner Henze. Im September erste Reise nach Italien mit ihrer Schwester Isolde.
1953
Sie gibt im Frühjahr ihre Arbeit als Redakteurin im Sender auf. Bei der 12. Tagung der Gruppe 47 im Mai in Mainz erhält sie den Preis der Gruppe 47.
1953 - - 1957
Seit dem Spätsommer 1953 lebt sie als freie Schriftstellerin auf der Insel Ischia, in Neapel und Rom.
1953
Ende des Jahres erscheint der Gedichtband "Die gestundete Zeit", eine Buchreihe der Frankfurter Verlagsanstalt.
1954
Es wird ihr die Fördergabe des Kulturkreises im Bundesverband der Deutschen Industrie zugesprochen. Sie veröffentlicht zu ersten Mal Gedichte in der von Marguerite Caetani herausgegebenen mehrsprachigen Literaturzeitschrift "Botteghe Oscure."
1955
Ursendung des Hörspiels "Die Zikaden", mit der Musik von Hans Werner Henze, im Norddeutschen Rundfunk Hamburg. Auf Einladung der Harvard - Universität in Cambridge, Massachusetts, reist Ingeborg Bachmann in die USA und nimmt teil an dem internationalen Seminar der Harvard Summer School of Arts and Sciences and of Education, das von Henry Kissinger geleitet wird.
1956
Der Gedichtband "Anrufung des Großen Bären" erscheint im Piper Verlag, München.
1957
Am 26. Januar wird Ingeborg Bachmann von der Rudolf - Alexander - Schröder - Stiftung der Literaturpreis der Freien Hansestadt - Bremen 1956 für "Anrufung des Großen Bären" verliehen. Sie wird korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Uraufführung der Gedichte "Im Gewitter der Rosen" am 20. Oktober auf den Donaueschinger Musiktagen.
1957 - - 1958
Arbeit als Dramaturgin beim Bayrischen Fernsehen in München.
1958
Ursendung des Hörspiels "Der gute Gott von Manhattan" am 29. Mai.
1958 - - 1962
Mit Max Frisch in Rom und Zürich.
1959
Sie erhält für das Hörspiel "Der gute Gott von Manhattan" am 17. März den Hörspielpreis der Kriegsblinden.
1959 - - 1960
Im Wintersemester Einladung zu einer Vorlesungsreihe über "Fragen zeitgenössischer Dichtung", als erste Dozentin der neugegründeten Gastdozentur für Poetik an der Universität Frankfurt am Main.
1960
Am 8. Januar wird in Berlin die Ballettpantomime "Der Idiot", zum ersten Mal in der Textfassung von Ingeborg Bachmann aufgeführt. Die nach dem Libretto von Ingeborg Bachmann entstandene Oper "Der Prinz von Homburg von Hans Werner Henze wird am 22. Mai an der Hamburgerischen Staatsoper uraufgeführt. In Meersburg Begegnung mit Nelly Sachs.
1961
Der Erzählband "Das dreißigste Jahr" erscheint im Piper Verlag, München. Für Diese Erzählungen wird Ingeborg Bachmann der Literaturpreis 1960/61 des Verbandes der Deutschen Kritiker zuerkannt Am 20. November wird sie zum außerordentlichen Mitglied der Abteilung Literatur an der Akademie der Künste Berlin gewählt.
1963
Im Frühjahr Einladung der Ford - Foundation zu einem einjährigen Aufenthalt in Berlin. Begegnung mit Witold Gombrowicz. Anschließend nimmt sie dort ihren Wohnsitz.
1964
Im Januar Reise nach Prag, im Frühjahr Reise nach Ägypten und in den Sudan. Verleihung des Georg - Büchner - Preises durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung am 17. Oktober in Darmstadt.
1965
Uraufführung der nach der Libretto von Ingeborg Bachmann entstandenen Oper "Der junge Lord" von H.W. Henze am 7. April an der Deutschen Oper Berlin. Ende des Jahres Übersiedlung nach Rom, das fortan ihr Wohnsitz bleibt.
1968
Ingeborg Bachmann erhält am 20. November den großen Österreichischen Staatspreis für Literatur.
1971
"Malina", als Roman zum "Todesarten" - Projekt gehörend, kommt heraus.
1972
Der Erzählungsband "Simultan" erscheint im Piper Verlag, München. Ingeborg Bachmann wird am 2. Mai mit dem Anton - Wildgans - Preis 1971 der Vereinigung Österreichischer Industrieller ausgezeichnet.
1973
Im März Tod des Vaters. Sie folgt im Mai einer Einladung des Österreichischen Kulturinstituts in Warschau. Fahrt zu den Konzentrationslagern Auschwitz und Birkenau. Lesungen in Warschau und an den Universitäten Krakau, Breslau, Thorn und Posen. In ihrer römischen Wohnung erleidet sie am 26. September einen Brandunfall, an dessen Folgen sie am 17. Oktober stirbt. Ingeborg Bachmann ist auf dem Friedhof Klagenfurt - Annabichl gegraben.
(Quellen:"Texte zum Werk von Ingeborg Bachmann", Hrsg. Von Christine Koschel und Inge von Weidenbaum, Piper,1989 / "Faszination des Feuers", Christa Dericum, Herder, 1996 / "Ingeborg Bachmann zur Einführung", Stefanie Golisch, Junius, 1997)

3.2. Die Stellung des Werkes in der Vita der Autorin.
Über zwei Jahre hat die Arbeit an den Erzählungen "Das dreißigste Jahr" gedauert, nur die Korrekturen, das Weglassen und Wiederhineinnehmen. Ein zäher Kampf um jedes Detail.
Reinhard Baumgart war zuständig für die Klarheit der Erzählungen. Worte, Zeilen, Szenen, Figuren, die sich zu hoch verstiegen hatten, mussten wieder ins Konkrete zurückgeholt werden.
"Geht das Wirklich?" - "Ist das unmöglich?" - "Darf man das so sagen?". So fragte die Autorin ihren Lektor Bachmann, der dazu sagte:"An keinem Autor habe ich je eine solche schmerzfreie, ungekränkte Einsichtigkeit bei der Korrektur eines Textes erlebt." (Quelle:"Faszination des Feuers", Christa Dericum, Herder, 1996)

3.3. Die Beziehung Ingeborg Bachmanns zu dem Schriftsteller Max Frisch
Die erste Begegnung Max Frischs mit Ingeborg Bachmann fand im Jahre 1957 statt, als der für seine Identitätsproblematik bekannte Autor in München in einer Weinstube die junge Österreicherin traf, ohne dass es zu einem Gespräch kam.
Unter dem sehr starken Eindruck des Hörspiels "Der Gute Gott von Manhattan", schreibt Max Frisch einen Brief an die ihm persönlich unbekannte Verfasserin, deren Gedichtbände er wohl kannte. Trotz seines Wissens, wieviel Anerkennung die Dichterin für ihr Hörspiel gefunden hatte, drängte es Frisch zu dem Brief, in dem er sagen wollte, "wie gut es sei, wie wichtig, dass die andere Seite, die Frau, sich ausdrückt.... Wir brauchen die Darstellung des Mannes durch die Frau, die Selbstdarstellung der Frau." Natürlich musste das, nach den Kränkungen, die Ingeborg Bachmann nicht selten von Seiten männlicher Kollegen erfahren hatte, als Ermunterung und Anerkennung wirken. Sie reagierte darauf mit einer spontanen Deutlichkeit und überraschte Frisch im "Hotel du Louvre" in Paris, wo er sich wegen einer Gastspielaufführung aufhielt. Die beiden treffen sich.
Max Frisch rekapituliert den Hergang der beginnenden Liebesbeziehung: "Die ersten Küsse auf einer öffentlichen Bank, dann in den Hallen, wo es den ersten Kaffee gibt. Ihre Reise nach Zürich. Die Verstörte am Bahnhof, ihr Gepäck ihr Schirm, ihre Taschen. Eine Woche in Zürich als Liebespaar und aus klarer Erkenntnis der erste Abschied." Es soll aber nicht bei der Trennung und Ingeborg Bachmanns Rückreise nach Neapel bleiben, denn sehr bald reist Frisch ebenfalls nach Neapel. Ein für ihn typisches Schwanken und Unentschlossensein in dieser Beziehung setzt ein. Doch Max Frisch gesteht: "In ihrer Nähe gibt es nur sie, in ihrer Nähe beginnt der Wahn."
1959 macht Max Frisch Ingeborg Bachmann einen Heiratsantrag. Auf diese Beziehung lässt sie sich nicht ein. Und sie zieht auch andere Grenzen. Sie weigert sich, ihr Leben völlig auf diesen Mann auszurichten. Zwar nimmt sie Frisch als ersten Mann mit nach Klagenfurt und stellt ihn ihrer Familie vor, aber was Frisch als Geheimnistuerei vorkommt, löst seine entschiedene Eifersucht aus, eine Eifersucht, die ihn dazu treibt, ihre Briefe zu lesen.
Grundverschieden sind die Vorstellungen beider Partner in ihrer Beziehung.
Als sich Ingeborg Bachmann und Max Frisch 1963 zum letztenmal treffen, kommt es vor der endgültigen Entzweiung zu einer letzten Enthüllung: Sie hat sein Tagebuch gefunden, es gelesen und verbrannt.
Die mehrjährige Beziehung zu Frisch war - zumindest empfand sie es so - zu einem mörderischen Existenzkampf ausgeartet, der sie als Verlierer auf allen Linien zurückgelassen hatte. Versuchte Nähe und Distanz, Gemeinsamkeit und uneinholbare Ferne scheinen sich in dieser Beziehung besonders konfliktreich ausgewirkt zu haben. (Quelle:"Ingeborg Bachmann", Peter Beicken, Verlag C.H. Beck München, 1988)

4. Bewertungen
4.1. Die Bedeutung der Inhalte für das Leserpublikum:
4.1.1. Ist die Thematik ein abstruser Einzelfall oder wird mit dem Besonderen ( Individuellen ) auch Allgemeines ( Gesellschaftliches ) erfasst?
In allen Erzählungen, rundum "Das dreißigste Jahr" geht es jedesmal um einen Einzelfall des menschlichen Schicksals, das sowohl in Beziehung mit dem Individuellen, als auch mit dem Gesellschaftlichen gesetzt wird. Gerade weil es sich um Grenzsituationen des menschlichen Lebens handelt, bin ich davon überzeugt, dass sich jeder in irgendeiner Erzählung, auf irgendeine Weise wiederfinden wird. Sei es nun bei der Existenzkrise des Mannes in "Das dreißigste Jahr", oder bei den typischen Problemen der Mann - Frau Beziehung in "Ein Schritt nach Gomorrah." Die Erzählungen strahlen in jede Ecke des menschlichen Seins, in jeden Blickwinkel der Gedanken und geben so dem Leser die Möglichkeit sowohl das gesellschaftliche Phänomen, das mit dem Thema verbunden ist, als auch die Individualität jedes Einzelnen, die unmittelbar mit der Gesellschaft verbunden ist, zu erkennen.

4.1.2. Gelingt über die gewählten Inhalte die Kontaktaufnahme zur Leserin / zum Leser?
Eigentlich kann ich bei diesem Aspekt die gerade oben angeführten Punkte nur wiederholen.
Ich würde die Lektüre weder als sperrig, noch als eine Qual bezeichnen. Ganz im Gegenteil trifft der Aspekt der Herausforderung schon eher zu. Mir zumindest ging es so, dass ich bei jeder angefangenen Erzählung unbedingt wissen wollte, wie die Person das Problem nun am Ende löst. Man überlegt selber, was man an ihrer bzw. seiner Stelle getan hätte, ob man das Problem genauso angegangen wäre oder ob man nicht an einem völlig anderen Punkt angesetzt hätte.
Interessant ist mit Sicherheit auch der Aspekt, ob sich manche Leser überhaupt durch die gewählten Inhalte angesprochen fühlen. Ich zum Beispiel kann mir vorstellen, dass mancher Theoretiker mit einer der Art detaillierten Beschreibung von Gedanken und Gefühlen nichts anfangen kann. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass die Erzählungen mit ihren Themen in irgendeiner Weise jeden ansprechen, auch wenn das so mancher ungern zugeben wird.

4.2. Die Bedeutung der Stilistik für die Rezipienten: "lesbar" oder nicht?
Wie schon aufgeführt, stieß das Erzählband "Das dreißigste Jahr" weitgehend auf Ablehnung. Gerade durch die Besonderheit ihrer Literatur blieb die Autorin lange Zeit unverstanden.
Durch den, für die sechziger Jahre eher unüblichen, Schreibstil hatte Ingeborg Bachmann Mühe sich durchzusetzen. Gewöhnt war man ihre Gedichte, ihre eigene Art mit Lyrik umzugehen. Auch daran haben sich die Leser erst nach einer gewissen Zeit gewöhnt.
Das Erzählband "Das dreißigste Jahr" war am Anfang eher verpönt und galt als eine Art Provokation der Frauenbewegung. (Vgl. Punkt 6)

5. Skizze eines produktionsorientierten Interpretationsansatzes
Der biographische bzw. individualpsychologische Interpretationsansatz:
In der Biographie Ingeborg Bachmanns und vor allem in ihrer Liebesbeziehung mit Max Frisch wird ihr persönlicher Standpunkt zur Gesellschaft allgemein und ihre persönlichen Einstellungen deutlich. Sie war eine Frau mit einer feministischen Haltung, mit einem eigenen Willen und mit einem sehr eigenen Charakter. Ihre schlechten Erfahrungen mit dem männlichen Geschlecht, lassen sich in einigen Erzählungen ( z.B. "Unter Mördern und Irren", "Undine geht") wiederfinden. Man vermutet, dass sie einerseits in ihren Erzählungen ihre schlechten Erfahrungen mit dem männlichen Geschlecht verarbeitet und andererseits eine Art Aufruf an alle unterdrückten Frauen gestartet hat. Ingeborg Bachmann selber hat dazu nie präzise Stellung bezogen. Sie sagte lediglich: " ... mit der Sprache der Literatur will ich die Grenze, die logische Form der Sprache, überschreiten... ."[5]
Der historisch - politische bzw. historisch - soziologische Interpretationsansatz:
Der Erzählband "Das dreißigste Jahr" entstand 1961.In dieser Zeit musste sich Ingeborg Bachmann gegen die in der Nachkriegszeit bekanntgewordenen Schriftsteller ( Böll, Grass...)
durchsetzen. In der von Männer besetzten "Schriftstellerwelt" musste sie sich als Frau erst mal beweisen. Frauen, vor allem feministisch Eingestellte, waren in den damaligen, gesellschaftlichen Verhältnissen nicht gerne gesehen.
Die "Gruppe 47", der Ingeborg Bachmann angehörte, war von Hans Werner Richter 1947 in München gegründet worden. Sie war eine Art Dichter - und Kritikerkreis junger literarischer Kräfte Deutschlands. Sie förderten die junge deutsche Literatur durch gegenseitige Kritik bei jährlichen Tagungen. Durch ihr linkssozialistisches, politisches Engagement war sie eine der einflussreichsten Gruppierungen der deutschen Nachkriegsliteratur.
Der geistes - bzw. ideengeschichtliche Interpretationsansatz:
Der Schreibstil Ingeborg Bachmanns war zu der Zeit ein sehr ungewöhnlicher. Durch ihre "neue Sprache" brachte sie der Literatur eine völlig neue Betrachtungsweise der Lyrik und Prosa.
Die Arbeit an den Erzählungen "Das dreißigste Jahr" war auch für sie etwas völlig neues: "Nach Gedichten Prosa zu schreiben, das war zunächst wie ein Umzug im Kopf."[6]
Ingeborg Bachmann war außerdem eine der Schriftstellerinnen, die sich von dem festgesetzten Frauenbild, dass sich im Laufe der Jahrhunderte in den Köpfen der Menschen manifestiert hat, abzugrenzen.

6. Zusammenfassende Darstellung der Rezeptionsgeschichte:
Die Erzählungen in "Das dreißigste Jahr" drehen sich um das Verhältnis von Ordnung, Sprache und Geschlecht.
In der Literaturkritik wurde hervorgehoben, dass diese Erzählungen sprachlich der Lyrik Bachmanns verwandt seien. "Die Ideen der Autorin sind nicht in episches Material umgesetzt, sondern einem, meist männlichen, Erzähler in den Mund gelegt. Das Anliegen Bachmanns wird von ihren Erzählern stellvertretend formuliert und durchgespielt, eine Schreibweise, mit der sie den Strukturen des traditionellen Erzählens entgehen wollte. Die Erzählungen enthielten "Prozesse, die an Stelle dieser Fabel treten", erklärte sie 1961 ihre Texte. Bachmann wechselt von der Lyrik zur Prosa, um ihren eingezäunten, ästhetischen Ort zu verlassen und den Stoff der Erfahrung in die Literatur einzubringen. Andererseits übernimmt sie in Abgrenzung zur Epik, vor allem zum autobiographischen Erzählen, soweit es als Bericht über persönliche Erlebnisse und Entwicklungen verstanden wird, lyrische Momente in die Prosa."6

Die Aufnahme ihrer Prosa wurden durch die Ungleichzeitigkeiten zwischen ihrer literarischen Produktion und den durch die Literaturkritik und die literaturpolitischen Debatten nach 1968 formulieren Rezeptionsmaßstäben weitestgehend blockiert.
Andere Kritiker wiederum waren der Meinung, dass "das Fehlen einer regelrechten Fabel, der hohe, zum Teil elegische Ton sowie die insistente Konzentration Bachmanns auf existentielle Fragestellungen entsprachen in keiner Weise dem herrschenden Zeitgeist der frühen sechziger Jahre, dessen literarischer Kanon sich nun weitgehend an sozialkritischen, weltzugewandten Textsorten orientierte. Spätestens ab 1959, dem Jahr, in dem Johnsons "Mutmaßungen über Jakob" und Grass "Blechtrommel" erschienen, war die Zeit des magischen Realismus ein für alle Mal vorbei. Eine Politisierung der Literatur setzte ein, zu der das Bachmannsche Werk von Anfang an konträr stand."6Die Kluft zwischen ihrer eigenen Prosa und der öffentlichen Erwartungshaltung an sie hat die Rezeption über Jahrzehnte geprägt.

7. Zusammenfassendes Urteil ("Leseempfehlung")
Ich kann die Erzählungen Ingeborg Bachmanns nur weiterempfehlen. Allein ihre eigene Art zu schreiben und die dargestellten Probleme machen sie lesenswert. Gerade weil es sich um Alltägliches handelt, ist es mir nicht schwergefallen die Situationen in denen die Erzähler steckten, zu verstehen. Sie schafft es durch ihre bildliche Sprache, die verwirrenden Gedanken der Menschen glasklar zu formulieren.
Da ich auch ihre Gedichte gelesen habe - sehr empfehlenswert - konnte ich mich schnell in ihre Art des Erzählens einlesen. Manche Leser werden zu Anfang ihre Schwierigkeiten mit der Bachmannschen Prosa haben, da sie diese Art des Schreibens nicht gewöhnt sind, aber nach zwei Erzählungen bin ich überzeugt, dass sich das von alleine löst.
Gerade Frauen werden sich in den Erzählungen wie zum Beispiel "Undine geht" wiederfinden. Mir zumindest ging es so, dass ich die Verzweiflung der dort anklagenden Frau besonders gut nachvollziehen und verstehen konnte. Aber keine Sorge, auch die Männer kommen nicht zu kurz. Ingeborg Bachmann lässt auch die Gedanken dieses Geschlechts in keinster Weise zu kurz kommen. Es lohnt sich!
Literaturverzeichnis

Manfred Jurgensen, Ingeborg Bachmann - Die neue Sprache, Verlag Peter Lang, Bern, 1981

Hans Höller, Ingeborg Bachmann, Verlag Athenäum, Frankfurt am Main, 1987

Christine Koschel und Inge von Weidenbaum, Kein objektives Urteil - nur ein lebendiges, Texte zum Werk von Ingeborg Bachmann, Verlag Piper, München, 1989

Peter Beicken, Ingeborg Bachmann, Verlag C.H. Beck, München, 1988

Christa Dericum, Faszination des Feuers, Das Leben der Ingeborg Bachmann, Verlag Herder, Freiburg, 1996

Stefanie Golisch, Ingeborg Bachmann zur Einführung, Verlag Junius, Hamburg, 1997

Ingeborg Bachmann, Das dreißigste Jahr - Erzählungen, Verlag Piper, München, 5. Auflage Mai 1998

[1] Christine Koschel, Inge von Weidenbaum,1989, S. 282
[2] ebd., S. 283
[3] Stefanie Golisch, 1997, S.100
4Koschel, Weidenbaum, a.a.O., S.271

5Koschel, Weidenbaum, a.a.O., S. 269
&ebd., S.268
7ebd.,, S.271

8Golisch, a.a.O.,1997

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