Auf der Galerie
Die Erzählung "Auf der Galerie" von Franz Kafka spielt in einem Zirkus. Eine Kunstreiterin gibt eine Vorstellung während einer der Zuschauer sich überlegt, was passieren würde, wenn die Beziehung zwischen dem Zirkusdirektor und der Reiterin anders wäre und die Wirklichkeit mehr dem entspräche, was der Besucher zu sehen bekommt. Dabei begibt er sich in eine Welt in der Realität und Traum nicht mehr klar voneinander trennbar sind. Kafka lebte von 1883 bis 1924 er verfaßte den Prosatext zwischen 1916 und 1917.
Äußerlich lässt sich der Text in zwei, klar durch den einzigen Absatz getrennte Stücke, teilen. Die beiden Parts sind nicht nur inhaltlich, sondern auch rein stilistisch deutlich voneinander abgegrenzt. Im ersten Abschnitt herrscht eine große Spannung, während in diesem dem Leser kaum Zeit zum Luftholen gelassen wird und viele Partizipalkonstruktionen verwendet werden, die teilweise keine klare Bedeutung haben, so reihen sich im zweiten Teil die verschiedenen Gedanken wie Bilder eines Filmes aneinander und dem Leser bleibt Zeit zum Genießen und Staunen. Das ist eindeutig eine Assoziation mit dem wirklichen Zirkus, wo oftmals der Zuschauer vor Verwunderung sprachlos bleiben.
Inhaltlich kann man den Unterschied zwischen den beiden Sätzen als eine Trennung von Positivem und Negativem sehen. Während der Anfang teilweise sogar stark übertrieben radikal und negativ wirkt, macht Teil zwei einen wesentlich positiveren Eindruck auf den Leser.
Im ersten Abschnitt wird kein besonderer Wert auf die Darstellung des Menschen gelegt. Die Kunstreiterin scheint von jeder anderen Frau ersetzbar zu sein; Kafka schreibt von irgendeiner [...] Kunstreiterin. Der Eindruck von ihr als Person ist wenig vielversprechend. Sie reitet auf einem schwankendem Pferd ein, ist schätzungsweise Tuberkulose krank, farblos, schwach und vor allem auch willenlos, da sie sich nicht gegen die Mißhandlung durch den Zirkusdirektor wehrt. Sie hat keinen Spaß an dem was sie tut und wird früher oder später sowieso ausgetauscht werden von einer Anderen. Der Begriff ‘monatelang‘, der von Kafka im Bezug auf die Länge ihrer Anstellung im Zirkus verwendet wird, kann sowohl als ein äußerst langer sowie als ein sehr kurzer Zeitraum interpretiert werden. Wenn sie monatelang ohne Pause reiten muss, ist es sicherlich eine lange Zeit, wenn sie aber nach einigen Monaten schon so ausgelaugt und verbraucht ist, dass eine Nachfolgerin benötigt wird, ist dies eine kurze Zeit.
Der Zirkusdirektor wird im ersten Abschnitt als kalt und berechnend dargestellt und gleicht eher einem Tyrannen als einem Menschen. Das Verhältnis zwischen der Reiterin und dem Direktor ist sehr distanziert und er wird von Kafka als ihr Chef bezeichnet.
Nicht nur die Reiterin und der Direktor sind sehr unpersönlich und fast unmenschlich beschrieben, sondern das gesamte Bild scheint eher maschinell. Selbst die Zuschauer sind unpersönlich. Ihr Beifallsklatschen wird mit dem Geräusch von Dampfhämmern verglichen. Diese treiben an, geben keine Möglichkeit zur Pause und sie können auch einen zerstörenden Einfluß haben. Ein weiteres Metapher für das sich täglich wiederholende Schicksal der Kunstreiterin, das keinen Abschluß zu finden scheint bevor die Reiterin am Ende angelangt ist, sind die Ventilatoren, die niemals aufhören werden sich zu drehen. Sogar das Orchester spielt ohne Unterbrechung und gnadenlos treibt es die Reiterin im Kreis. Für die Kunstreiterin gibt es kein Ausweichen mehr und kein Zurück - genauso wie ihre Vergangenheit wird auch ihre Zukunft aussehen: grau und trostlos.
Ãœber den gesamten ersten Absatz spannt sich ein Konditionalsatz mit der Bedingung wenn...dann. Er verleiht dem Abschnitt etwas atem - und ruheloses. Der Leser ist glücklich als am Ende endlich das lang ersehnte ‘dann‘ erscheint. Genauso wäre es für die Kunstreiterin eine Erleichterung, wenn jemand in diesem Moment aufstünde und sie aus der Rotation befreien würde. Inhaltlich schreibt Kafka, dass eventuell einer der Zuschauer dem Mädchen helfen würde und sich für ihre Rechte einsetzen würde, wenn die Schau, die den Zuschauern vorgespielt wird, negativ wäre, wenn offensichtlich wäre, wie sehr sie leiden muss. Kafka schreibt von ‘Dem Halt‘. Damit meint er das Stop, das schon lange erwartet und herbeigesehnt wird und in dem er einen bestimmten Artikel vorausstellt, wird vorausgesetzt, dass jeder von dieser Möglichkeit der Unterbrechung weiß - es braucht nur jemanden, der es ausspricht.
In der Beschreibung der Charaktere unterscheiden sich der erste und der zweite Teil grundlegend. Die Kunstreiterin ist nun in Abschnitt zwei nicht mehr nur irgendein Mädchen sondern eine schöne Dame, buntgekleidet und mit einer Ausstrahlung. Anstatt peitschenschwingend ist der Direktor nun auf einmal hingebungsvoll, vorsorglich und behandelt die Reiterin mit Liebe und Ehre. Selbst das Orchester gibt der Reiterin genügend Zeit und gönnt ihr eine (Kunst - )Pause.
Das Mädchen fliegt förmlich in die Zirkusmanege, sie scheint glücklich und den Beifall der Zuschauer zu genießen. Sie ist begabt und beliebt. Außerdem ist auf einmal ist das Arbeitsverhältnis zwischen Direktor und seinen Angestellten vertauscht: die Livrierten und Knechte sind auf einmal stolz, während er selbst sich unterwirft. Das Bild scheint, zumindest auf den ersten Blick, sehr positiv und harmonisch.
Doch trotz seinen Bemühungen, dem Publikum vorzugaukeln, dass es der Kunstreiterin gutginge, gelingt es dem Direktor nicht vollständig, seine wahren Charakterzüge zu verbergen. Er ist wütend auf die Knechte, prüft jede Bewegung der Reiterin mit scharfen Blick und es gelingt ihm auch sonst an anderen Stellen nicht immer, den vorsorglichen Großvater ‘zu spielen‘.
Obwohl im zweite Teil ein positiver Eindruck auf die Audienz gewonnen werden soll, gibt es trotzdem noch Anhaltspunkte, wo der wachsame Zuschauer feststellen könnte, dass nicht alles in Ordnung ist. Der salto mortale, der tödliche Sprung, ist definitiv ein Zeichen für die gefährliche Fahrt auf der sich die Reiterin befindet. Am Ende muss sie vom Direktor gestützt werden und die ausgebreiteten Arme können auch als Zeichen der Resignation gesehen werden, vergleichbar mit dem Sterben Jesu in der Bibel. Genauso können auch zu Beginn des Absatzes sie Farben rot und weiß als der Ruf nach ‘Dem Halt‘ gedeutet werden, da sie den Farben eines Stopschildes entsprechen.
Gegen Ende der Erzählung sind Realität und Traum so durcheinander, dass der Leser beginnt sich zu fragen, welcher Teil denn nun die Wirklichkeit ist und welcher fiktiv ist. Bleibt man eng am Text, so wird eindeutig der zweite Teil als Tatsache dargestellt. Allerdings ist es heutzutage allgemein bekannt, dass nicht selten die Arbeitswelt brutal und unmenschlich ist, dass dort oft nur auf Profit und Image gesetzt wird und Menschenseelen und - leben auf der Strecke bleiben. Daher ist man sich als Leser doch dessen bewußt, dass die Realität mehr dem Teil entspricht den Kafka als Hypothese für ein Eingreifen des Zuschauers aufstellt.
Man weiß, dass viel Unrecht passiert, man weiß, dass man selbst einen Schritt auf der lange, beschwerliche Treppe, vielleicht auf eine niedere Gesellschaftsstufe, tun sollte aber trotzdem ist man zu feige dies zu tun. Das ist der Grund warum der Zuschauer, der in diesem Fall dem Leser entspricht, anfängt zu weinen. Er weint über die eigene Passivität, das eigene Wegschauen und die Mutlosigkeit.
Jeder könnte einen Unterschied machen und ein Leben beeinflussen, doch das Pferd läuft weiter.
Kafka wollte vielleicht die Zirkuswelt mit unserer Gesellschaft vergleichen, wo man nur noch für die eigenen Interessen kämpft und oft so tut, als sähe man die Probleme der anderen gar nicht. Es ist sehr gut möglich, dass zum Zeitpunkt als Kafka diese Geschichte verfaßte, nach dem 1. Weltkrieg es genau wie heute, zu wenig Menschen gab, die dazu bereit waren, anderen zu helfen.
Meiner Meinung nach war es viel einfacher und ist es heute noch, sich zurückzulehnen, und zuzuschauen, als selbst aktiv zu werden und in diesem Fall vielleicht auch einen Fehler an sich selbst nicht zu vertuschen, nämlich der Mitschuld an der Situation der heutigen Gesellschaft. Jeder Mensch formt zu einem gewissen Grad seine Umgebung mit dem eigenen Verhalten und wer möchte schon zugeben, dass man versagt hat? Die Erzählung von Kafka ist eine brillante Erläuterung dafür.
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