Bahnwärter Thiel

Gerhart Hauptmann wurde am 15. November 1862 in Ober - Salzbrunn als Sohn eines schlesischen Gasthausbesitzers geboren. Ursprünglich wollte er Landwirt werden, widmete sich aber sehr bald der Bildhauerei. Für seine Dichtung wurde der Besuch von naturwissenschaftlichen und philosophischen Vorlesungen in Jena bedeutsam. Nach Reisen in die Schweiz, nach Spanien und Italien 1883/84 scheiterte sein Versuch, als Bildhauer in Rom zu leben. Mit der Tragödie DER TOD DES TIBERIUS (1884) unternahm er einen ersten dramatischen Versuch. 1885 heiratete er die Großkaufmannstochter Marie Thienemann und wurde damit finanziell unabhängig. Gemeinsam mit seiner Frau lebte er nun in Berlin. Dann aber wurde der Einfluß von Henrik Ibsen und den russischen Naturalisten Leo Tolstoi und Fjodor Dostojewskij übermächtig. In seiner eigenen naturalistischen Erzählweise schrieb Hauptmann im Jahre 1888 die novellistische Studie der BAHNWäRTER THIEL. In seinem ersten sozialen Drama VOR SONNENAUFGANG (1889) zeigte er in krassen Farben die Kehrseite des Lebens und ließ die Menschen in ihrer Alltagssprache reden. Die Wirkung dieses Stücks war von historischer Bedeutung. Die Leute waren darüber empört und begeistert zugleich. Die illusionslose Atmosphäre, die rücksichtslose Darstellung des verkommenen Trieblebens und die profane Alltagssprache - das alles machte Gegner und Anhänger hellwach. Schon wenige Monate später folgte mit FAMILIE SELICKE (1889) der Freunde Arno Holz und Johannes Schlaf ein ganz ähnliches Thema in kleinbürgerlichen Kreisen. Hauptmann selbst rollte im FRIEDENSFEST (1890) noch einmal eine Familientragödie auf. Einen durchschlagenden Erfolg hatte der Dichter erst mit seinem dritten Familiendrama EINSAME MENSCHEN, das er 1891 schrieb. Im selben Jahr veröffentlicht er DIE WEBER die jedoch 1892 bei der ersten Aufführung von den Berliner Ordnungsbehörden verboten wird. 1904 wird seine erste Ehe geschieden, er heiratet im selben Jahr noch Margarete Marschalk. Ein Jahr später wird ihm zum dritten Male bereits der Grillparzer Preis verliehen. Gerhart Hauptmann stirbt schließlich am 6. Juni 1946, seine Beisetzung fand am 28. Juli auf Hiddensee statt.

Werke:
Vor Sonnenaufgang 1889
Die Weber 1892
Der Biberpelz 1893
Der rote Hahn 1901
Rose Bernd 1903
Die Ratten 1911
Atlantis 1912
Bahnwärter Thiel‹ 1892
Die Atriden - Tetralogie1941
Das Abenteuer meiner Jugend 1937






Bahnwärter Thiel

Seine Gefühle und seine Zuneigung zu seiner ersten Frau und zu seinem Sohn lassen ihn als liebenswerten Menschen erscheinen. Thiel schätzt die Ordnung, und sein Leben findet gut geplant statt. Er lässt seine Gefühle kaum der Umwelt spüren, es sei denn seine Emotionen übersteigen sein Zurückhaltevermögen. Den Tod seiner Frau überwindet Thiel nur mit großer Mühe und versucht seinen Schmerz mit der Liebe zu dem, seinem Sohn zu lindern. Als ihm bewußt wird, wie seine zweite Frau mit seinem Sohn umgehen zu pflegt, flüchtet er sich, nicht im Stande irgendwelche Maßnamen dagegen zu unternehmen, in seine Traumwelt, welche ihm am bitteren Ende zu erdrücken scheint!

Minna

Sie ist Thiels erste Gattin, die kränklich, blass und zierlich beschrieben wird. Bei der Geburt ihres ersten Sohnes Tobias verstirbt sie. Thiel beginnt sich in seine Traumwelt zu flüchten.

Lene

Sie wird von Thiel, nachdem seine Frau verstorben ist, geheiratet da er der Ansicht ist, dass sein Sohn Tobias unbedingt eine Mutter benötigt. Doch sie ist unbeherrscht, herrsch - und streitsüchtig und Thiel sieht sich nicht im Stande Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Nach der Geburt ihres eigenes Kindes wendet sie sich nur mehr diesem zu und mißhandelt Tobias stets wenn Thiel die Arbeit besucht. Natürlich weiß Thiel, dass Lene Tobias schlägt, doch er kann sich nicht dazu überwinden ihm zu Hilfe zu kommen.

Tobias

Thiels Sohn ist seine einzige Verbindung zur Realität. Er erinnert Thiel an Minna, die er einfach nicht vergessen will, kann. Tobias’ Äußeres ähnelt dem seiner Mutter. Als er von dem Zug erfaßt wird und wenige Stunden später stirbt bricht Thiels Verbindung zur Realität ab und er ist in seiner Traumwelt gefangen, die schließlich seiner zweiten Frau und seinem zweiten Kind zum Verhängnis wird, da er diese Personen für den Tod Tobias’ verantwortlich macht.








Schon seit fünf Jahren geht der Bahnwärter Thiel jeden Sonntag zur Messe in den Nachbarort. Nichts kann ihn von der Kirche fernhalten, außer er ist krank und muss im Bett bleiben.

Eines Tages begleitet ihn eine schmächtige und kränklich aussehende Frau zum Gottesdienst. Von da an besuchen sie gemeinsam die allsonntägliche Feier. Bald darauf heiraten sie, doch nach zwei Jahren ist der Bahnwärter wieder allein, weil seine Frau nach der Geburt seines Sohnes Tobias verstirbt.

Noch im selben Jahr heiratet. Thiel eine andere Frau. Lene ist genau das Gegenteil von Minna. Sie ist dick, unverwüstlich und ihr Gesicht ist genauso grob geschnitten wie das des Bahnwärters. Zu diesem Zeitpunkt weiß Thiel noch nichts von Lenes Herrschsucht. Als ihn der Pfarrer fragt, warum er so bald wieder heiraten wolle, meint der Bahnwärter dass es ihm hauptsächlich um das Wohl von Tobias ginge. Er habe Minna versprochen gut für das Kind zu sorgen.

Der Bahnwärter lässt die endlosen Predigten seiner Frau gewöhnlich wortlos über sich ergehen. Immer seltener wagt er es, sich Lene zu widersetzen und seinen Sohn vor ihr in Schutz zu nehmen, bis er es schließlich ganz aufgibt.

Thiel geht jetzt nicht mehr mit derselben Gleichgültigkeit zum Dienst in sein einsames Bahnwärterhäuschen. An manchen Tagen zählt er sogar die Stunden und Minuten bis zu seiner Ablöse.Während ihn mit seiner ersten Frau eine geistige Liebe verband, ist es bei Lene eher die körperliche Liebe, die ihn zu ihr zieht. Er fühlt sich seiner ersten Frau gegenüber schuldig, weil er zu schwach ist, um Tobias vor Lenes Mißhandlungen zu schützen. Mit der Zeit plagen ihn deshalb Gewissensbisse. Um sein Gewissen zu beruhigen, hält er geheime Zwiesprache mit Minna. Er widmet das Wärterhäuschen und seine Bahnstrecke ausschließlich seiner toten Frau. Lene weiß nicht einmal, wo sich Thiels Arbeitsplatz befindet.

Dieser liegt mindestens einen dreiviertelstündigen Fußmarsch von den umliegenden Orten entfernt mitten in einem Wald.
Da Thiel dort von niemandem gestört wird, kann er in aller Ruhe seiner ersten Frau gedenken und dabei bei aufgeschlagener Bibel Kirchenlieder singen. Oft gerät er dadurch in solche Ekstase, dass er meint, Minna wirklich vor sich zu sehen.

Da es auf Thiels Bahnstrecke kaum zu Vorfällen kommt, kann er sich noch genau an die einzigen vier Ereignisse in den
letzten zehn Jahren erinnern. Zum Beispiel fuhr vor einigen Jahren der kaiserliche Extrazug vorbei, und ein anderes Mal fand er eine Flasche mit vergorenem Wein.Der kleine Tobias entwickelt sich nur sehr langsam. Doch mit der Zeit zeigt er besondere Zuneigung zu seinem Vater, welche dieser erwidert. Gleichzeitig wird aber das Verhältnis zwischen Lene und Tobias immer Schlechter. Es schlägt sogar in Abneigung um, als Lene ein Kind bekommt. Tobias wird immer öfter zu schweren Arbeiten herangezogen. Dadurch wirkt seine Gestalt mehr und mehr erbarmungswürdig, während sein Brüderchen vor Gesundheit strotzt. Thiel scheint das alles nicht zu bemerken.

Eines Tages teilt Lene ihrem Mann mit, dass man ihr den gepachteten Kartoffelacker gekündigt hat. Thiel erzählt ihr von dem Stück Land neben seinem Bahnwärterhäuschen, das ihm der Bahnmeister gratis überlassen habe, weil es für diesen zu abgelegen sei.

Kurz darauf wohnt Thiel wieder einmal zufällig einer brutalen Züchtigung des kleinen Tobias durch Lene bei. Und wieder bringt er nicht die Kraft auf, ihr zu widersprechen.

Am selben Abend hat der Bahnwärter einen Alptraum. Er sieht, wie jemand Tobias auf eine entsetzliche Weise. mißhandelt. Dann träumt er, dass Minna eines der Bahngleise entlang kommt. Sie befindet sich auf der Flucht und trägt in ihren Armen etwas Blutiges, Bleiches in Tücher eingewickelt. Dieser Traum beunruhigt ihn so, dass er nach seinem Dienst sofort nach Hause eilt.

Am Tag darauf beschließt Lene, den geschenkten Acker neben den Bahngleisen zu bebauen. Dies ist Thiel überhaupt nicht recht. Er sieht aber, wie sehr sich Tobias auf den Ausflug freut und gibt nach.

So bricht Die Familie nach umständlichen Vorbereitungen auf. Am Ziel angekommen nimmt der Vater Tobias zu einer Streckenbegehung mit. Tobias stellt eine Reihe von verwundenen Fragen. Einmal zum Beispiel möchte er wissen, ob das Eichhörnchen, das ihnen über den Weg läuft, der liebe Gott sei. Nach diesem kleinen Spaziergang gibt Thiel den Jungen wieder in Lenes Obhut und geht seiner Arbeit nach.

Wenig später muss der Bahnwärter mit ansehen, wie Tobias unter den vorbeifahrenden Zug gerät. Obwohl Tobias sofort zum Bahnarzt gebracht wird, kann man nichts mehr für ihn tun.Thiel, der auf seinem Posten bleibt, bricht bewußtlos zusammen und muss in diesem Zustand nach Hause befördert werden.Als wenige Stunden später die Leiche des kleinen Tobias nachgebracht wird, findet man Lene und ihr Kind mit einem Beil grausam erschlagen vor.

Thiel wird am nächsten Morgen in einem Zustand völliger geistiger Verwirrung bei den Bahngleisen angetroffen, und man bringt ihn nach Berlin in die Irrenanstalt.







Die Novelle gliedert sich in drei Teile, man spricht von einer dramatischen Bauform.

Im ersten Hauptteil geht es um Thiels Lebensumstände. Bedrohungen werden vorweggenommen (Minnas Tod). Eine erste nicht vorweggenommene, aber verborgene Bedrohung liegt in Thiels Einsamkeit.

Im zweiten Hauptteil bahnt sich die Katastrophe deutlich erkennbar an, die Spannungskurve wächst (Lenes Strenge gegenüber Tobias). Die Wesensänderung Thiels nimmt immer eindeutiger krankhafte Züge an.
Gegen Ende des zweiten Hauptteils verlieren die Ereignisse scheinbar etwas von ihrem bedrohlichen Gewicht. Kurzzeitig hellt sich die Stimmung auf (Geschenk des Ackers), bis er im

dritten Hauptteil, dann zum Sieg kommt. Dem Zugunglück und Thiels furchtbarer Rache an Lens und ihrem Kind. Der Leser erkennt spätestens jetzt, dass es von Anfang an keine Möglichkeit der Rettung gegeben hat.


Die Novelle ist teilweise in langen, aber doch überschaubaren Sätzen geschrieben, Dialoge werden nur sehr selten verwendet.



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