Nathan der Weise
(Literarische Erörterung)
A Im Jahre 1779 schrieb Gotthold Ephraim Lessing das in Blankversen verfaßte dramatische Gedicht "Nathan der Weise".Vorausgegangen waren während Lessings Tätigkeit als Biblio - thekar in Wolfenbüttel zahlreiche Auseinandersetzungen mit der Orthodoxie und schließlich das Verbot der Veröffentlichung von religionskritschen Schriften gegenden Hamburger Haupt - pastor Melchior Goeze. Daraufhin entschloß sich Lessing "gegen die Unduldsamkeit in religi - ösen Fragen vorzugehen" "ich muss versuchen, ob man mich auf meiner alten Kanzel, dem Theater, wenigstens noch ungestört will predigen lassen." (2 / S.181) Er schuf sein letztes dramatisches Werk, "Nathan der Weise".
Ort des Geschehens ist das spätmittelalterliche Jerusalem. Die fünf Aufzüge führen in das Haus des reichen Juden Nathan, der Recha,eine Christin ,als Tochter angenommen hat. Mit dieser Handlung verknüpft, ist eine zweite, die sich auf dem Hof des moslemischen Sultans Saladin und dessen Schwester Sittah abspielt.
B In der Schlußszene des 5. Aktes kommen die dramatische Gestaltung, sowie Lessings Absich - ten und Ziele des Werkes besonders stark zu Wirkung.
II.1. Da "Nathan der Weise" weder als Tragödie noch als Komödie zu bezeichnen ist, sondern eine Mischung aus beiden Gattungen des Dramas ist, kann man versuchen, in der Schlußszene ernste, rührende und komische Elemente zu erkennen.(Anmerkung, Reclam S.142) Im letzten Auftritt bietet Sultan Saladin dem jüdischen Geschäftsmann Nathan die sofortige Rückzahlung des geliehenen Geldes an. Nathan geht auf die großzügigen Angebote der Vergeltung für seine Hilfe aus der Geldnot nicht ein. Er weist Saladin fast ungeduldig zurück und zeigt sich von der seelischen Not seiner weinenden Stieftochter Recha viel mehr gerührt: "Und warum zuerst von dieser Kleinigkeit ? - Ich sehe dort Ein Aug' in Tränen, das zu trocknen, mir Weit angelegner ist." (V 3700 ff) In diesen Worten kommt die liebevolle Beziehung Nathans zu seiner Adoptivtochter Recha deutlich zum Ausdruck. Recha bestätigt die Zuneigung zu ihrem Stiefvater und fühlt sich als seine Tochter, obwohl sie erfahren hat, dass sie ein angenommenes Kind ist.In dieser Vater - Tochterbeziehung ist das "rührende Element" (Anmerkung, Reclam S.143) deutlich spürbar. Der junge Tempelherr, der Recha einst vom Feuertod gerettet hatte, liebt diese und hofft auf ihre Zuneigung, da er sie zur Frau nehmen will .Saladin bestärkt Recha, dessen Zuneigung zu erwidern.Mit den drängenden Worten"bekenn ihm deine Liebe! trage dich ihm an"(V 3730) tritt Saladin leidenschaftlich für den Tempelherrn ein. Als Nathan in den Verlauf der Handlung eingreift, indem er ruft :"halt Saladin! "(V3741) kommt es zu einem dramatischen Höhepunkt der Handlung. Er berichtet, Recha habe einen Bruder, der an einer Bindung seiner Schwester mitzureden habe. In einem spannenden Dialog erfährt der ungeduldige Tempelherr, dass er kein von "Stauffen" sei, sondern "Leu von Filnek" heiße, und sein Vater Nathans Freund gewesen sei. Auf die Frage nach Rechas Bruder vernimmt der Tempelherr, dass er dieser selbst sei. Recha reagiert ungläubig und bezweifelt die Wahrheit."Kann nicht sein! nicht sein! Sein Herz weiß nichts davon!" (V 3796) Der junge Tempelherr reagiert auf die aufgedeckte Geschwisterbeziehung demütig, indem er meint, Nathan gebe ihm damit unendlich mehr, als er ihm nehme. Die Spannung der dramatischen Gestaltung der Schlußszene kommt zu einem weiteren Höhepunkt, als Saladin und Sittah im Tempelherrn ihren Neffen ,den Sohn Saladins Bruder Assad erkennen.Voller Freude fallen sich alle Familienmitglieder und auch deren Freund Nathan in die Arme.In diesem Schlußbild ist eine Mischung von ernsten, rührenden und auch komischen Elementen des dramatischen Gedichtes enthalten.
Mit der Erweiterung der Familie durch Saladin und Sittah kommt die islamische Weltreligion hinzu und es bilden Christen, Mohammedamer und ein Jude eine große Familie mit den drei Religionen.
II 1. In der Schlußszene mit der Versöhnung aller Beteiligten kommt die Ringparabel, die Lessing im Zentrum des dramatischen Gedichtes (III.6.) eingebaut hat, zur Wirkung. Die Ringparabel aus Boccaccios "Decamerone" baute Lessing als Grundlage für sein belehrendes Beispiel in das dramatische Gedicht ein. Nathan wird vom Sultan befragt, welche der drei Weltreligionen er für die wahre halte. Er antwortet sehr geschickt mit der Parabel von den drei Ringen, die einander so stark gleichen, dass sie nach ihrem Wert nicht mehr zu unterscheiden sind. Nach diesem Gleichnis kann keiner der drei Religionen der Vorzug gegeben werden, denn auch vor Gott seien alle gleich wertig. Den Wert des Ringes sieht ein kluger Richter schließlich nur im richtigen praktischen Handeln, da dieses eine Bewertung der Echtheit des Ringes bewirken könne. Nach Lessing liegt es an jedem einzelnen, seinen Ring zum echten zu machen."Es eifre jeder seiner unbestochnen von Vorurteilen freien Liebe nach! es strebe von euch jeder um die Wette, Die Kraft des Steins in seinem Ring' an Tag Zu legen!" (V 2040 ff)
III 1. Dieser Aufforderung Nathans kommen die Personen in der Schlußszene spürbar nach. Die Familienzugehörigkeit wird mit Freude und Rührung aufgenommen."Geschwister!" "sie Ge - schwister!"(V 3792) rufen Sittah und Saladin, als sie von der Geschwisterbeziehung Rechas und des Tempelherrn erfahren.Sie tolerieren dabei die unterschiedliche Religionszugehörigkeit. Auch Nathan beweist Liebe und Toleranz, als er Recha freimütig mit ihrem christlichen Namen "Blanda" nennt. Schließlich stellt sich die Familienzugehörigkeit des Sultan Saladin und seiner Schwester Sittah heraus.Sie erfahren durch Nathans Buch, dass ihr Bruder Assad der Vater von Recha und deren Bruder ist. Aus Freude ruft Saladin dem Tempelherrn übermütig zu:"Nun musst du doch wohl, Trotzkopf, musst mich lieben!" (V 3844) Er nennt ihn freudig: "Mein Sohn ! mein Assad! meines Assads Sohn!" (V 3846) Mit diesem Ausruf beweist er, dass sich die lang aufgestaute Spannung gelöst hat. Lessings großes Anliegen war, das harmonische Zusam - menleben der Religionen zu bewirken und zu fördern. Auch der junge Tempelherr ,der noch stark mit Vorurteilen belastet ist, erkennt, dass religiöse Toleranz für ein Leben in Harmonie nötig ist.
Menschliches Verhalten und die Ablehnung von Aggressivität beim Streben nach der positiven Wirkung "des Steins in seinem Ring ..." (V 2042) fordert Lessing in Nathans Erzählung vom Richterspruch: "Komme dieser Kraft mit Sanftmut, Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohl - tun, Mit innigster Ergebenheit in Gott Zu Hilf' !" (V III.Akt,7.A) Lessing sieht den Wert eines Menschen nicht "abhängig von seinem äußeren Glaubensbekenntnis (2 / S.181), sondern er - achtet seinen Beitrag zur harmonischen Entwicklung einer menschlichen Gesellschaft als viel wichtiger. Wahre Religion bedeutet für Lessing Humanität. Der Wert geoffenbarter Religionen könne sich "nur in der sittlichen Bewährung ihrer Anhänger zeigen." (1 / S.81)
C Diese Vorstellung einer Idealwelt wurde Lessing oft als Utopie ausgelegt. So schreibt Theo Herold nach Lessings Selbstdeutung sei Nathan "eine Utopie der idealen Kommunikations - gemeinschaft." (3 / S.81) Lessing sieht in seinem Werk "Nathan der Weise" den Entwurf einer Welt, wie sie sein könnte, wenn sich die Menschen nach seinen dargelegten Vorstellungen ver - halten würden. Im sittlichen Empfinden und dementsprechenden Handeln liegt bei Lessing die Voraussetzung für ein gutes Zusammenleben aller Menschen.Mit seinem dramatischen Gedicht "Nathan der Weise" zeigt er das Zusammenwachsen von Menschen verschiedener Herkunft und Religion zu einer großen Familie auf, die stellvertretend für das tolerante Zu - sammenleben aller Menschen der Welt stehen könnte.
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