Spieltheorien
Die Grundfragen
Warum spielt der Mensch? Es treibt ihn etwas dazu, es macht ihm Spaß und hält ihn in Gang. Langezeit hat man deshalb von einem Spieltrieb gesprochen, der wie ein natürliches Bedürfnis gestillt sein will.
Eigentlich ist der Spieltrieb mit anderen nachweisbaren Bedürfnissen wie Hunger und Durst nicht vergleichbar, und doch scheint ein Teil dieses Spieltriebes tief in unserer persönlichen Struktur verankert zu sein.
Alle Kinder spielen. Ein großer Teil des Kindesalters wird vom Spielen abgedeckt. Sie spielen nicht nur dann und womit sie es sollen, sie spielen morgens, mittags und abends, sie spielen auf Töpfen, beim Essen, während des Unterrichtes oder im Straßenverkehr.
Dieser Drang wird scheinbar durch eine Spannung oder Motivation erzeugt, die es immer weiter spielen lässt, in immer neuen Situationen immer neue Abwandlungen findet.
Wandlungen in Interesse und Perspektive
Wissenschaftler stellen Theorien auf. Andere Wissenschaftler widerlegen diese. Dadurch werden alte Theorien oftmals bedeutungslos.
Wenn sich das Interesse jedoch nur anderen Gegenständen zuwendet, werden die alten Theorien auch bedeutungslos. So ist es vielen Theorien über das Spiel ergangen, obwohl sie zum Teil noch Aspekte enthalten, die keineswegs veraltet oder überholt sind. Betrachtet man einige ältere Spieltheorien und vergleicht sie mit aktuellen, dann wird man feststellen, dass es nicht viel richtig Neues gibt.
Das Spiel ist keine leicht abgrenzbare "Sache" und deshalb gibt es auch viele verschiedene Meinungen, die alle auf einem unterschiedlichen Vorverständnis basieren.
Spiele können nutzlose Konsumgegenstände sein, die dazu dienen die Langeweile zu vertreiben oder sie können ins Zentrum des Daseins rücken, bis ein Spieler alles einsetzt; sein Geld, sein Vermögen, seine Existenz.
Spiele können für unterschiedliche Personen, ganz unterschiedliche Bedeutungen haben. Es kann eine angenehme Unterbrechung des Alltags sein oder die zentrale Art das eigene Erleben auszudrücken.
Eine Katze lässt sich einfach fixieren, sobald man ihr etwas knisterndes, raschelndes vorsetzt. Sie postiert sich und springt das Objekt an, sie fängt an damit zu spielen. Das ist eine festgelegte Verhaltensfolge.
Spielen meint eigentlich einen unbeeinflußten Prozeß, etwas das nichts zwanghaftes, nichts festgelegtes beinhaltet. Zum Beispiel das improvisierte soziale Rollenspiel bei Kindern, oder komplex ausgearbeitete Rollenspiele bei Jugendlichen und zum Teil bei Erwachsenen, wobei jeder einen Charakter spielt.
Das Bedürfnis zu spielen gehört scheinbar zu unserer anthropologischen Grundausstattung. Spiele gibt es unterschiedlichster Art in allen Völkern und Epochen. Jedoch erst seit dem Beginn des 18.Jahrhunderts entwickelte sich ein Interesse an der offenbar zwecklosen Spieltätigkeit, um doch einen Nutzen an ihr festzumachen. Erst seit diesem Zeitpunkt erlaubten die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse das Unterscheiden von Freizeit und Arbeit.
Erholung, Ausgleich und Abwechslung in Verbindung mit einem pädagogischen Nutzen, was die Bewältigung schwieriger Aufgaben in einem angenehmen Rahmen gestattet. Das zentrale Interesse war also pädagogischen Ursprungs. Man suchte Möglichkeiten das Spiel als "Erziehungsmittel" zu gebrauchen. Verursachen sollte es die gleichzeitige Befreiung und Disziplinierung der Kinder auf möglichst zwanglose Art und Weise.
Wandlungen in Interesse und Perspektive
Gegen Anfang des 19.Jahrhunderts verlagerte sich das Interesse und die Thematik der Spieltheorien. Man ließ von dem Mittel-Zweck-Denken der Aufklärungspädagogik ab und suchte nach einer allgemeinen Bedeutung des Spieles, nunmehr aus der philosophisch-anthropologischen Sicht.
Für Schiller wurde das Spiel zum Schlüsselbegriff seiner Philosophie der Freiheit, es symbolisiert den ästhetischen Zustand. Das Spiel wurde zum gefeierten "dritten" Zustand, neben dem Zwang der Naturtriebe und dem Zwang des moralischen Pflichtbewußtseins. Schiller sagt: "Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt." Ähnliche hochlobende Gedanken finden sich dann auch bei Kleist und bei Fröbel der das Spiel als "höchste Stufe der Kindesentwicklung" und sogar als "höchste Stufe der Menschenentwicklung dieser Zeit" deutet. Der Dichter Jean Paul beschäftigt sich mit dem kindlichen Spiel im Bezug auf das Phantasieleben. Der Theologe und Pädagoge Schleiermacher macht am Spiel die Zeitlichkeit unserer Existenz fest. Weiterhin bemüht er sich immer eine ethische Frage: "Darf man in den vom Spiel erfüllten Augenblick des kindlichen Spiels eingreifen?" Keineswegs gebe es eine sittliche Berechtigung die es dem Erzieher erlaubt einzugreifen, ohne das Einverständnis des Betroffenen, also des Kindes, zu haben. Das Spiel hat nun einen in sich erfüllten Eigenwert erhalten, dem die Absichten, das Nutzbarmachen und die Zweckbestimmung gegenüber deutlich nachstehen. Die Argumentation hat sich also genau in die entgegengesetzte Richtung gewendet, gegenüber der Argumentation der Aufklärer.
Jedoch wurden auch diese Theorien durch völlig andersartige abgelöst. Man wurde wieder skeptischer und überdachte noch einmal den positiven Sinn des Spiel und ob es denn einen gibt. Die Beobachtungen beschränkten sich von da an auf rational erklärbare Einzelfunktionen und Fakten. Das pädagogische Interesse vorangegangener Epochen verblasste sehr stark, denn man versuchte alles Rätselhafte, Unbestimmte und Überraschende des Spieles auf biologische, physische und psychische Reaktionen zu reduzieren.
Vergleicht man den Erklärungsversuch Herbert Spencers mit der Spieldeutung Schillers, so werden grobe Unterschiede sichtbar. Schiller sagt zum Beispiel, dass der "melodische Schlag des Singvogels" keinesfalls ein "Schrei der Begierde" sei. Spencer argumentiert genau andersherum. Das "Pfeifen des Singvogels" würde er durch molekulare Bewegungen im Nervensystem oder durch Energiestauungen in Hirnzentren, die durch die ernste Beanspruchung im Lebenskampf gerade nicht ausgelastet sind.
Das Spiel fungiert somit als Auslassventil für gestaute Kräfte. Die Überschüssigen Energien werden in Scheintätigkeiten umgesetzt.
Wandlungen in Interesse und Perspektive
Der Amerikaner Harvey Carr führte die aristotelische "Khatarsis-These" in die Spieltheorie ein. Das Spiel also als Abreaktion, Reinigung der Seele, in fiktiven und harmlosen Bereichen um sich Befriedigung und Erleichterung zu verschaffen.
Es sei eine Art "bewußter Selbsttäuschung". In der Wirklichkeit ist es nicht möglich diese Befriedigung zu erreichen, also erschafft der Mensch eine Illusion, die ihm Ersatzbefriedigung verschafft.
Der Amerikaner G. Stanley Hall fügte noch eine Ergänzung an die "Spencer-These" an. Er denkt, dass die überschüssigen Energien in ganz bestimmte Bahnen gelenkt werden, nämlich in solche, die für den Menschen bedeutungslos geworden sind, die Überreste aus früheren biologischen Evolutionsphasen.
Kinder klettern so gerne auf Bäume, weil das "auf Bäume klettern" früher einmal zum nötigen Repertoire unserer Vorfahren gehört habe.
Richtig Wissenschaftlich wurden die Spieltheorien erst unter Karl Groos. Er vereinigte viele der inzwischen Vorliegenden Theorien zusammen mit Kenntnissen aus Biologie, Völkerkunde, Geschichte und Psychologie. Er verfaßte zwei Bücher, "Die Spiele der Tiere" und "Die Spiele der Menschen". Er brachte diese in Relation zueinander und es entstand eine Übersicht, in der sich die Einzeltheorien schon durch ihr Zusammensein gegenüber ausschlossen bzw. bekräftigten. In einem Resümee räumt er den anderen Theorien ein wenig Platz ein, die Hauptfunktion aber sei eine Übungsfunktion. Begründung:
Kinder und junge Tiere haben eine relativ entlastete Jugendzeit um spielen zu können, die Natur lässt ihnen Zeit um Instinkte und Handlungsmuster formen zu können. Der Kausalforschung steht nun wieder ein teleologisches, ein vom Nutzen bestimmtes, Deutungsprinzip entgegen, ohne dass die Spannungen zwischen den vorigen Einzeltheorien gelöst wären.
Die weitere Forschung kennzeichnet sich seither durch speziellere fachspezifischere Fragestellungen. Empirische Untersuchungen, auf Erfahrungen basierende Untersuchen, entstanden in großer Zahl und eine immer größere Fülle von Deutungen waren die Konsequenz.
Es scheinen also so viele verschiedene Spieldeutungen aufstellbar zu sein, wie Fragestellungen formuliert werden können. Das ist die Lage im dritten und vierten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts.
Neuere Spieltheorien
In den neueren Theorien stellt sich ab 1968 die Sozialisationsproblematik in den Vordergrund. Sie betrachtet das Spiel unter Gesichtspunkten wie die typischen Spielgewohnheiten und bringt sie in Beziehung mit alters-, sozialschicht- oder geschlechtsspezifischen Erwartungshaltungen.
Einer der wichtigsten Ansätze auf wissenschaftlicher Ebene ist der "Symbolische Interaktionismus" eine Richtung innerhalb der Sozialphilosophie.
Alle älteren Spieltheorien bis in die zwanziger Jahre, haben das Spiel als durch triebdynamische Prozesse, psychische Erlebnisweisen oder Einstellungen definiertes Geschehen betrachtet. Das Ich des Spielers bedient sich hauptsächlich sich selbst. Also wird das Spiel nur als Erlebnis der einzelnen Spieler betrachtet.
Der weiterführende Gedanke ist, dass das Erlebnis zwischen den Spielern stattfindet. Der Kerngedanke ist, dass sich das Ich erst im Durchgang durch die Rolle des Anderen selbst findet. Die Person schafft sich im Spiel Doppelgänger, imaginären Gefährten, mit denen es sich teils identifiziert, teils auseinandersetzt.
Es spielt etwas Bestimmtes, stellt sich etwas gegenüber und kann sich darin finden und auch daran wachsen, weil es etwas Anderes und Verallgemeinerungsfähiges ist, was seine Subjektivität überschreitet.
Jean Piaget benutzt die Spielproblematik in seiner Intelligenztheorie. Sie besagt der Prozeß der Lebensanpassung eines Organismus bewege sich zwischen "Akkommodation" (= Anpassung der Organismen an ihre Umgebung) und "Assimilation" (= aktive Einverleibung von Teilen der Umgebung durch den Organismus).
Es gibt jedoch auch weiterhin Gegensätzlichkeiten in den Sichtweisen und Auffassungen. Jean Château greift den Gedanken, das Kind wolle sich im Spiel vor allem "groß zeigen" wieder auf. Belegt dieses auch mit mehreren breit angelegten empirischen Untersuchungen. In einem Aufsatz dreißig Jahre später (1974) wiederholt er diese These, das Spiel sei für das Kind in erster Linie Selbsterprobung.
Ein weiterer Gedanke ist der, der Triebdynamik im Spiel, der einen Gedanken Freuds wieder aufgreift. Normalerweise dienen alle Zweckhandlungen des Menschen dazu, Bedürfnissspannungen abzubauen. Im Spiel versucht der Spieler jedoch diese Spannungen aufzubauen und zu halten. Durch Überspannung ist dieser Spielprozeß gefährdet (z.B. Toberei) oder durch Verlust jeglicher Spannung (Langeweile). Zum Beispiel bei Versteck- oder Jagdspielen, wo eine Spannung aufgebaut wird, die dann unter Umständen völlig fällt, und durch zum Beispiel einen Rollenwechsel, die Spannung neu aufbaut. Das ist der Motor des Spieles. Das Spiel wird nicht einfach als Katharsis gedeutet, sondern durch die sich Wiederholenden selber dosierten Spannungserlebnisse, wird ein positiver mittlerer Erregungszustand erreicht.
Neuere Spieltheorien
In einem Planspiel wird die Realität "geprobt". Hier unterscheidet sich das Spiel vom Ernstfall wie Manöver vom Krieg. Das Interesse richtet sich auf Situationen mit denen sich Konflikt und Entscheidungssituationen vorweg nehmen lassen. Das Spiel ist hier also schon Spiel wenn es Varianten und wechselnde Kombinationen gibt. Das Spiel hilft für zukünftige Entscheidungen, das hat aber dann wieder nichts mit "Spielfreude", "Lustgewinn" oder "Spannungssuche" zu tun. Irgendwo verliert sich hier der Gegenstand der Spieltheorien und wird immer unschärfer, die fachlichen Spezialfragen und die Sprachmoden Entwickeln sich immer mehr auseinander.
Diesem Fehlschlagen aller Systematisierungversuche der Spieltheorien begegnet der Franzose Roger Caillois. Er versucht einen anderen Weg indem er nach dem zentralen Interesse fragt, mit dem sich der Spieler in das jeweilige Abenteuer hineinbegibt. Er stößt auf vier verschiedene Grundtypen von Spielen: das Interesse des Wettstreites (Anfangend bei dem ungeregelten um die Wette laufen, bis hin zu komplizierten Spielen wie Fußball, Billard oder Schach) das Interesse, das Glück und den Zufall herauszufordern (Von Knobeln über Münzenwerfen bis hin zum Roulette oder der Lotterie) das Interesse an Verkleidung, Maskierung und Rollentausch führt zu Rollenspielen in denen man Mutter, Kind, Ritter oder Hamlet spielen kann das Interesse, sich durch Schwünge, Rotations- oder Fallbewegungen in einen Zustand des Außersichseins oder des Rausches zu versetzen (kindische Drehspiele, Schaukeln, Tanzen bis zu Achterbahnen, Künstsprüngen, Abfahrtsläufen auf Skipisten, Rennsport)
In jeder dieser Kategorien gibt es Steigerungen bis ins Extreme, zum Beispiel russisches Roulette oder Cliff Jumping (ohne Seil und Fallschirm von einem Abhang in ein Netz unter einem Hubschrauber springen).
Die Steigerungen können auch künstliche Erschwerungen oder Verfeinerungen sein. Für jede Kategorie gibt es auch eine Korruption des Spielerischen (Gewalttätigkeit, Machtwillen, Nachlässigkeit, Realitätsverlust, Suchtgefahren).
Jede der vorhergegangen Thesen lässt sich hier in dieses Konzept irgendwie gefahrlos unterbringen. Deshalb ist dieses eine gute Lösung für die Spielproblematik.
Und insgesamt lässt sich sagen, dass egal um welche Art Spiel es sich handelt, stets ein Verständnis von Spiel als Stimulation für die Erziehung selbständiger Menschen hilfreich ist. Einen spezifischen Grund warum der Mensch spielt kann man vielleicht nicht exakt bestimmen. Aber die Überschneidungen fast aller Thesen liegen in der Entwicklung. Das Spiel ist somit wahrscheinlich eine wichtige Form der Gesamtentwicklung des Menschen in jeglicher Hinsicht.
1878 Worte in "deutsch" als "hilfreich" bewertet