Zweite Republik in Österreich

Im November 1945 hatte es die ersten freien Nationalratswahlen im neuen Österreich gegeben. Mit 94,4 Prozent aller abgegebenen gültigen Stimmen hatten sich die damals wahlberechtigten Österreicher zu den beiden großen demokratischen Parteien bekannt - zur ÖVP (mit 49,8 Prozent) und zur SPÖ (mit 44,6 Prozent). Nur 5,4 Prozent der Stimmen entfielen auf die Kommunisten. Unabhängig von ihrem Stimmenanteil waren alle drei Parteien entschlossen, in Anbetracht der schweren Zerstörungen im Lande, in Anbetracht der Not und des Lebensmittelmangels und vor allem in Anbetracht der vierfachen militärischen Besetzung des Landes durch die Alliierten eine Konzentrationsregierung zu bilden. Die Umstände ließen ein Aufsplittern der politischen Kräfte in Regierung und Opposition nicht ratsam erscheinen. Man würde alle Kräfte brauchen um den Wiederaufbau des Landes zu bewältigen und um den alliierten Mächten mit einer Stimme und einem Willen entgegentreten zu können. Selbst die kleine KP schien als Absicherung gegenüber den Sowjets unentbehrlich.

Der Anfang vom Ende

Auf das Drängen der österreichischen Regierung, die Alliierten mögen doch ihre Kontrollmaßnahmen einschränken, die Besatzungstruppen reduzieren, dem Land möglichst bald einen - wie es bei den Alliierten oft hieß - Friedensvertrag geben und vor allem einen festen Zeitplan für den endgültigen Abzug aller Besatzungstruppen entwickeln, auf dieses Drängen antwortet der Alliierte Rat nun immer öfter mit dem Hinweis, in Österreich sei die Demokratie noch nicht ausreichend gefestigter, das Land noch nicht genügend entnazifiziert und entmilitarisiert. Die Regierung habe gegen die früheren Nationalsozialisten nicht streng genug durchgegriffen, diese säßen noch an den Schaltstellen der Wirtschaft, der öffentlichen Verwaltung, der Schulen und Hochschulen. Somit sei die Gefahr eines Wiederauflebens des Nationalsozialismus gegeben, und solange diese Gefahr bestehe, könne wohl keine Rede sein von der Aufhebung der alliierten Kontrolle oder gar der Besetzung.

Ein Volk, ein Reich - kein Österreich

Die deutschen Truppen ziehen in Österreich ein. Die abgetretene Regierung Schuschnigg hat auf Widerstand verzichtet, und dieser Verzicht bestärkt viele Österreicher in ihrer Zustimmung zum Anschluß. Die Annexion Österreichs durch Hitler-Deutschland ist ein Bruch des Völkerrechts. Doch die deutschen Truppen werden entlang der Straßen, auf denen sie nach Innsbruck, nach Salzburg, nach Linz, nach Graz und nach Wien rollen, von einem jubelnden Spalier empfangen. In den Städten selbst beherrschen die Nationalsozialisten das Straßenbild, finden sie sich zu Massenkundgebungen zusammen.

Heim aus dem Reich

Am 2. Februar 1946 richtet der österreichische Außenminister Karl Gruber ein streng vertrauliches Schreiben an den politischen Berater der britischen Besatzungsmacht in Österreich, William Mack: "Dear Sir, Anbei gestatte ich mir, Ihnen den Entwurf für einen Vertrag zur Wiederherstellung der Rechtsstellung Österreichs zu übermitteln." Der Entwurf enthält die Vorstellungen der österreichischen Regierung von einem mit den Alliierten abzuschließenden Vertrag, wobei Karl Renner schon darauf drängt, dass man den Vertrag einen "Staatsvertrag" nennen solle, da sich ja Österreich als Land nie im Krieg befunden habe und die Alliierten folglich mit Österreich auch keinen Frieden schließen könnten.

Keine Zeit für Südtirol

Wir haben gesehen, wir im Jahr 1946, als die alliierten Mächte in Paris zu ihrer Friedenskonferenz nach dem Zweiten Weltkrieg zusammentraten und auch Österreich seinen Frieden forderte, diese Alliierten Österreich gegenüber einiges in Rechnung stellten: Österreichs Beitrag zum Hitler-Krieg, die noch nicht abgeschlossene Entnazifizierung und Entmilitarisierung in Österreich. Aber bei jener Friedenskonferenz 1946 mach auch Österreich eine Rechnung auf, jedenfalls wird ein energischer Versuch dazu gemacht. Wenn schon von Fehlern und Fehlentscheidungen in der Vergangenheit die Rede ist, so wünscht Österreich die Rücknahme einer Fehlentscheidung von seinerzeit: Südtirol, durch den Vertrag von Saint-Germain Italien zugesprochen, sollte Österreich zurückgegeben werden.

Sonderfall in Österreich

Inmitten der großen Not, die der Winter 1946/47 mit sich bringt, gibt es für Österreich einen Hoffnungsschimmer, Die vier Großmächte haben Sonderbeauftragte eingesetzt, die nun doch auch für Österreich einen Vertrag vorbereiten sollen. Karl Renner hatte schon früher vorgeschlagen, ihn Staatsvertrag zu nennen, da sich Österreich mit den alliierten Mächten niemals im Krieg befunden habe.

Der Kalte Krieg in Österreich

Das westliche Bemühen um Österreich hat auch mit den zunehmenden Spannungen zwischen den Westmächten und der Sowjetunion zu tun. Noch sind die beiden Lager West und Ost in Europa nicht eindeutig abgegrenzt. Mit Sorge verfolgt der Westen die Zunahme des sowjetischen Einflusses in Ost- und Mitteleuropa. Den Sowjets ist es gelungen, in einer Reihe von Staaten kommunistische Regierungen zu etablieren - in Polen, in Bulgarien, in Rumänien und nun auch in Ungarn. Aber noch ist das politische Schicksal der Länder im Zentrum Europas nicht entschieden, um Deutschland wird noch gerungen, in der Tschechoslowakei halten einander prokommunistische und antikommunistische Kräfte die Waage. Was in Österreich geschieht, kann durchaus davon abhängen, welchen Lauf die politische Entwicklung in Deutschland und im Nachbarland Tschechoslowakei nehmen wird. Ein Schock war es schon, als die Tschechoslowakei ihre Zusagen beim Marshallplan mitzumachen, auf sowjetischen Druck zurücknehmen mussten. Aber noch regiert in Prag eine Koalition aller Parteien. Wenn auch der KP-Chef Klement Gottwald dieser Regierung als Ministerpräsident vorsteht, so gehören ihr zwölf nichtkommunistischen Minister an, vor allem Sozialdemokraten. Und Staatspräsident der Tschechoslowakei ist noch immer Eduard Benes, der zwar einen Freundschaftspakt mit Stalin abgeschlossen hat, aber einst ein enger Mitarbeiter Thomas G. Masaryks war und kein Kommunist ist.

Wetterleuchten

Mit dem Marshallplan werden Weichen gestellt - wirtschaftliche und politische. Die westlichen Industriestaaten gründen eine Dachorganisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit, die OEEC [Organization für European Economic Cooperation], wie sie damals hieß und aus der die OECD geworden ist, wie wir sie heute kennen, Damals gibt es noch keine Europäische Gemeinschaft, die OEEC ist der erste große wirtschaftliche Zusammenschluß des Westens. Und ihre Basis ist der Marshallplan, sind die amerikanischen Güter und Hilfsgelder.

Gewitter

Der Staatsvertrag lässt auf sich warten. Die Besetzung des Landes dauert an. Aber es gibt Fortschritte, der Wiederaufbau kommt jetzt rascher vorwärts, die Wirtschaft beginnt sich zu erholen. Langsam wird die Not überwunden. Wohlstand ist im Jahr 1950 in Österreich noch ein unbekanntes Wort. Aber es gibt schon ein Warenangebot, wenn auch ein bescheidenes.

Die Wende

Die Teilung Deutschlands, die Zerreißung Europas und der Koreakrieg bewirken Anfang der fünfziger Jahre eine nahezu totale Erstarrung der Weltpolitik. Österreich und die Verhandlungen um den österreichischen Staatsvertrag sind mit betroffen. Von Dezember 1950 bis Februar 1952 finden überhaupt keine Verhandlungen statt, liegt die österreichische Frage auf Eis. In Österreich selbst geht es in dieser Zeit wirtschaftlich aufwärts. Dem vierten Lohn-Preis-Abkommen, das im Herbst 1950 eine so heftige Reaktion auslöste, folgt noch ein fünftes, aber auch schon letztes Abkommen dieser Art, unterzeichnet am 16. Juli 1951. Dann wagt die österreichische Regierung den währungspolitischen Anschluß an die westliche Welt: Der künstlich gehaltene Wechselkurs zum Dollar und zu den anderen Westwährungen wird schrittweise aufgegeben, die österreichische Wirtschaft dem scharfen Wind der Weltkonkurrenz ausgesetzt, aber gleichzeitig kommt sie nun auch in den Genuß der Weltmarktpreise. Österreich beginnt durch seine Exporte sowie durch den sich resch entwickelnden Fremdenverkehr die Devisen zu verdienen, die es benötigt. Handel und Tourismus kommt das neue Umtauschverhältnis von schließlich 26 Schilling für einen Dollar sehr zugute.

Zwischen Bangen und Hoffen

Am 8. Februar 1955 treten die Abgeordneten zum Obersten Sowjet in Moskau zusammen, Sie erfahren, dass der unmittelbare Nachfolger Stalins, Georgih Mayimilianowitsch Malenkow, nicht mehr ihr Ministerpräsident ist. Er wird von Marschall Nikolaj Buulganin abgelöst. Nikita Chruschtschow aber ist als Generalsekretär der KPdSU der neue starke Mann der Sowjetunion. Das außenpolitische Referat vor dem Obersten Sowjet hält Außenminister Molotow. Er verurteilt die Wiederbewaffnung Deutschlands und dessen Einbeziehung in die NATO. Und im Zusammenhang damit erklärt er, daraus könnten sich auch Gefahren für Österreich ergeben, ein remilitarisiertes Deutschland könnte erneut einen Anschluß anstreben. Es sei wichtig, Österreich davor zu schützen. Das könnte durch den raschen Abschluß des österreichischen Staatsvertrags geschehen, vorausgesetzt, in diesem Vertrag würden Garantien verankert, dass Österreich keinen militärischen Bündnissen angeschlossen werden und keine militärischen Stützpunkte in Österreich errichtet würden. Auch müsste es Garantien dafür geben, dass Österreichs Integrität nicht angetastet werde, etwa durch einen Anschluß. Unter diesen Umständen könnte auch "an einen vollkommenen Abzug der Besatzungstruppen" gedacht werden.

Ein Tag wie kein Anderer

15. Mai 1995, elf Uhr vormittag vor dem Schloß Belvedere: Die Wagenkolonnen mit den Außenministern treffen ein. In präzisen Abständen; die Anfahrt ist streng nach Protokoll geregelt. Die Österreicher sind schon da, erwarten ihre Gäste im Großen Marmorsaal des Schlosses. Um elf Uhr kommen die Sowjets, sieben Minuten später die Briten, genau sieben Minuten später die Amerikaner und noch einmal sieben Minuten später die Franzosen. So können die einzelnen Delegationen von sämtlichen Mitgliedern der österreichischen Bundesregierung ohne Hast begrüßt werden. Dann lädt Außenminister Figl die Außenminister der vier Besatzungsmächte und ihre Hochkommissare ein, mit ihm Platz zu nehmen und zur Unterzeichnung des Staatsvertrags zu schreiten. Der Vertrag wird vorgelegt - ein dickes, in grünes Saffianleder gebundenes Buch: Nicht nur enthält der Vertrag eine Präambel, 38 Artikel mit allen ihren Paragraphen und zwei Annexe, er ist auch in vier Sprachen abgefaßt: in Russisch, Englisch, Französisch und Deutsch. Dazu Rudolf Kirchschläger: "Schon als Akt der staatlichen Würde haben wir gesagt: ,Wir wollen, dass ein Staatsvertrag, den Österreich mit anderen Staaten abschließt, auch einen authentischen Text in deutscher Sprache enthält.' Sonst würden nachkommende Generationen ihn wohl als einen Vertrag über Österreich, aber nicht als einen Vertrag mit Österreich werten." Gleichberechtigt steht also der Text nun auch in deutscher Sprache in diesem 300 Seiten starken Dokument.

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