Racines Tragödien

Zu Beginn meines Referats möchte ich ein paar einleitende Worte zu Racine und seinen Tragödien sagen:

Jean Racine lebte von 1639 bis 1699 und hat insgesamt in seinem Leben 12

Tragödien (10 weltliche und 2 religiöse) und 1 Komödie geschrieben.

Seine erste Tragödie La Thébaide ou les Frères ennemis entstand 1664, ein Jahr später, also 1665, folgte Alexandre le grand, und im Jahre 1667 gelang ihm mit

Andromaque schließlich der Durchbruch. Es folgten dann Britannicus (1669), Bérénice (1670), Bajazet (1672), Mithridate (1673), Iphigénie (1674) und Phèdre

(1677). Nach 12jähriger Unterbrechung schrieb Racine im Jahre 1689 auf Wunsch von Madame de Maintenon, die ihn um Theaterstücke mit biblischem Thema für die Mädchenschule, bat, eine weitere Tragödie, nämlich Esther, und 1691 erschien schließlich seine letzte Tragödie, Athalie. Wie schon erwähnt, handelt es sich bei den letzten beiden Tragödien Racines um religiöse Tragödien, die sich von seinen weltlichen wesentlich unterscheiden. Die einzige Komödie Racines hat den Titel Les Plaideurs.

Nun aber zum eigentlichen Thema meines Referats: Jean Racine ist, wie wohl bekannt, neben Pierre Corneille der wichtigste Tragödiendichter der französischen Klassik. Seine Werke sind nach strengen Regeln aufgebaut, die typisch für die klassische französische Tragödie sind. Auf diese Regeln möchte ich in meinem Referat nun näher eingehen und sie anhand von einigen Beispielen aus Racines Tragödie Andromaque erklären.

Nun zu den Regeln der tragédie classique:

Zunächst ist zu sagen, dass das 17.Jahrhundert aristotelisch ist, was bedeutet, dass man die Meinung vertritt, von Kunst nur dann reden zu können, wenn sie regelmäßig ist. In anderen Worten, die französische Klassik ist von einer normativen Dichtungslehre bestimmt. Die Dichtung ist erlernbar, und es gibt fixe Regeln, an die der Dichter sich halten muss.

Welche sind nun diese Regeln?

Zunächst handelt es sich um die drei klassischen Einheiten von Handlung, Zeit und Ort, die sich auf die dramaturgische Struktur beziehen, weiters um die Prinzipien der Vraisemblance und Bienséance, welche mit der Wirkung und Funktion der Werke zutun haben.

Und schließlich gibt es noch einige Charakteristika in bezug auf die Figuren und den Aufbau der klass. frz. Tragödie.

1) Das Gebot der Unité d'action

Die erste Bedingung der klassischen französischen Tragödie ist die Einheit der

Handlung. Einheit der Handlung bedeutet, die Aufmerksamkeit des Publikums soll auf eine einzige Handlung/Intrige konzentriert werden, alle

Nebenhandlungen müssen unterdrückt werden oder mit der Haupthandlung eng verbunden sein.

Einheitlichkeit der Handlung ist nur dann gewährleistet, wenn Anfang, Mitte und Ende dargestellt werden. Es dürfen außerdem nicht alle bekannten Umstände, sondern nur die zur Sache gehörenden auf die Bühne gebracht werden und es wird immer wichtiger, die Handlung/Intrige einfach zu gestalten (principe de simplification).

2) Das Gebot der Unité de temps

Um nicht zu bewirken, dass dem Publikum die dargestellte Zeit im Bezug zur tatsächlich während der Aufführung erlebten Zeit unwahrscheinlich erscheint (und somit nicht gegen ein weiteres Gebot, nämlich das der Vraisemblance, auf welches ich dann gleich näher eingehen werde, zu verstoßen), gibt es das Prinzip der Einheit der Zeit. Einheit der Zeit bedeutet, dass die Handlung in einem Zeitraum nahe der tatsächlich erlebten Zeit stattfinden muss, und dieser Zeitraum wurde mit höchstens 24 Stunden festgelegt.

Dies machte es unmöglich, Intrigen, die sich über mehrere Jahre erstrecken, oder gar das ganze Leben eines Helden darzustellen, weshalb Corneille größte Schwierigkeiten mit diesem Gebot hatte. Racine hingegen machte es keine Schwierigkeiten, da in seinen Werken das seelische Geschehen (also Gedanken + Gefühle) und nicht die tatsächliche Handlung im Vordergrund steht und sich dieses leicht in 24 Stunden unterbringen lässt.

Außerdem verlangt die Unité de temps, dass die tatsächliche Dauer eines jeden Aktes mit der Dauer der dargestellten Handlung übereinstimmt, wobei die Pausen jene Handlungen und Momente darstellen, die nicht auf der Bühne stattfinden.

3) Das Gebot der Unité de lieu

Die Gebote der Einheit von Handlung und Zeit bringen automatisch das Gebot der Einheit des Ortes mit sich. Einheit des Ortes bedeutet, die gesamte Handlung des Werks spielt an einem einzigen Ort. Dieser Ort ist bei der Komödie meist ein Platz in der Stadt oder das Innere eines Hauses. Bei der Tragödie ist es häufig ein Thronsaal oder ein Gemach im Palast. Die Personen sind an diesen Ort gebunden und können weder von diesem Ort noch ihrem Schicksal entfliehen.

4) Das Gebot der Vraisemblance

Mit Vraisemblance bezeichnet man die Wahrscheinlichkeitslehre der Klassik.

Wie bereits zuvor erwähnt, beruhen die drei klassischen Einheiten auf der Sorge um Vraisemblance. In anderen Worten, der gesunde Menschenverstand des Publikums darf nicht geschockt werden. Das Dargestellte muss in jeder Hinsicht wahrscheinlich erscheinen.

Der Grund, weshalb die Wahrscheinlichkeit in der Dichtung der französischen

Klassik so wichtig war, liegt in deren Funktion, nämlich dem moralischen Nutzen der Dichtung. Eben deswegen musste sie glaubhaft, das heißt wahrscheinlich und vernünftig sein.

Wahrscheinlichkeit bedeutet, die Dinge so darzustellen wie sie sein könnten bzw. sollten, und insofern ist die Wahrscheinlichkeit nicht immer deckungsgleich mit der Wirklichkeit.

5) Das Gebot der Bienséance

Mit Bienséance sind der gute Ton, gegen den nie verstoßen werden darf, sowie die Wohlanständigkeit, die stets gewahrt bleiben muss, gemeint. Daher ist jede unhöfische Redeweise zu vermeiden und alle gegen den guten Geschmack verstoßenden Ereignisse müssen hinter die Bühne verlegt werden.

Grundsätzlich unterscheidet man 2 Arten von Bienséance, die Bienséance externe und die Bienséance interne.

Mit der Bienséance externe ist die bereits erwähnte moralische Anständigkeit gemeint, die verhindern soll, dass das Publikum geschockt wird. Es wird also vom Dichter erwartet, sein Werk an die Erwartungen des Publikums anzupassen. Die Bienséance externe impliziert zum Beispiel, dass man sich auf der Bühne nicht schlägt, dort nicht ißt und auch nicht stirbt (z.B. Andromaque:

Vom Tod des Pyrrhus und der Andromaque wird nur berichtet, es wird nicht auf der Bühne dargestellt).

Außerdem verlangt die Bienséance externe, dass in jedem Genre ein angemessener Sprachstil verwendet wird und in der Tragödie muss dieser eben erhaben sein. Darüberhinaus sollte der Stil einfach und einheitlich sein.

Mit der Bienséance interne ist die innere Kohärenz der dargestellten Personen, also die Einheitlichkeit der Charaktere. Dies bedeutet, dass sich jede Person gemäß einer ihrem Charakter, der der Person am Beginn des Stücks zugeschrieben wird, eigenen Logik entwickelt.

Auch ist es eine Folge der Bienséance interne, dass die Intrige eine in sich abgeschlossene, zusammenhängende Einheit bildet und keine Eingriffe von außen erlaubt.

Le Recit

Le Recit ist der Bericht und ihm kommt im klass. frz. Theater aufgrund der Bienséance und der klassischen Einheiten große Bedeutung zu. Der Bericht ist wichtig für die Exposition und das Dénouement, außerdem werden in Form des Berichts alle grausamen, spektakulären oder mythischen Ereignisse wie ein Mord, Kampf, ein Monster, etc dargestellt.

Es ist jedoch wichtig, dass nur jene Dinge als Bericht dargestellt werden, die als Handlung nicht gezeigt werden können (bienséance, unités), denn grundsätzlich bewegt das Publikum das, was es sieht, wesentlich mehr als das, was es durch Berichte erfährt, und das "Rühren und Bewegen" des Zuschauers ("plaire et toucher") ist schließlich oberstes Ziel des Dichters.

6) Die Figuren der klassischen französischen Tragödie

Nach den strengen aus der Antike (Aristoteles) genommenen Regeln, die

für die Werke der frz. Klassik maßgeblich sind, muss der Dramenheld den obersten Schichten entnommen, also ein König, Prinz oder vornehmer Adeliger sein. Die Helden der Tragödie müssen auf jeden Fall höher stehen als durchschnittliche Menschen.

Die Zahl der Personen des Stücks muss beschränkt sein (bei Racine 8), um eine strengere Ordnung und größere Übersichtlichkeit zu erreichen.

Zum Charakter der Figuren ist zu sagen, dass der Held charakterlich immer derselbe sein muss, das heißt, er darf nicht gegen die Anlagen, die er von Anfang an besitzt, verstoßen. Eine konsequente psychologische Gestaltung ist also gefordert, es darf keinen Charakterwandel auf der Bühne geben.

Das Wesentlichste in bezug auf die Charaktere ist jedoch, dass sie Menschen mit Fehlern und Schwächen sein müssen, um es auf Französisch zu sagen

"il faut des heros médiocres". Sie dürfen weder völlig schuldig noch gänzlich frei von Schuld sein ("ni tout à fait coupable, ni tout à fait innocente").

Diese Schuld kann sich auf verschiedene Charaktereigenschaften beziehen, und oft sind damit Schwächen gemeint, die es durchaus verdienen, entschuldigt zu werden. Oft sind die Figuren blind aus Liebe und Leidenschaft und lassen sich von ihren Gefühlen leiten, machen sich also auf derartige Weise schuldig.

Abschließend ist jedoch zu sagen, dass die Figuren trotz ihrer Schwächen in gewissem Ausmaß bewundernswert bleiben sollten, und zwar sowohl in bezug auf ihr Aussehen als auch in sozialer und moralischer Hinsicht.

7) Der formale Aufbau der klassischen französischen Tragödie

Zunächst ist zu sagen, die Tragödie muss in Versen, und zwar in Alexandrinern (das sind 12 Silben, wobei nach der 6.Silbe eine Zäsur ist) geschrieben sein, wobei die Versgesetze streng durchzuführen sind. (Racine verwendet in seinen Werken paarweise gereimte Alexandriner.)

Weiters ist zu betonen, dass die Tragödie aus 5 Akten besteht, die wiederum in einzelne Szenen unterteilt sind. Die Szenen müssen miteinander verkettet sein und diese Verkettung muss genau motiviert sein. Die Bühne darf nie leer bleiben.

Eine neue Szene beginnt immer dann, wenn eine Person die Bühne betritt oder verlässt. Die Szenen sind miteinander verbunden, indem immer zumindest eine Person der ersten Szene auch in der nächsten noch auf der Bühne bleibt. Man nennt dies die "liaison de présence". Darüberhinaus gibt es auch die "liaison de fuite". Dies bedeutet, dass der- oder diejenigen, die auf der Bühne waren, diese verlassen, um denjeingen, der sie betritt, nicht zu treffen. Diese "liaison des scènes" trägt zur Schönheit des literarischen Werks bei, ist jedoch nicht unbedingt nötig, meinen so manche Dichter. Für Racine jedoch ist es eine Regel wie alle anderen auch, an die er sich strikt hält.

8) Der inhaltliche Aufbau der Tragödie -

EXPOSITION,NOEUD,PÉRIPÉTIES,DENOUEMENT

Auf inhaltlicher Ebene kann man die Tragödie in folgende Teile aufspalten:

Sie beginnt mit der Exposition, die die erste und meist auch noch die zweite Szene umfaßt. In der Exposition werden alle zum Verständnis der Situation nötigen Informationen gegeben, und es wird versucht, beim Publikum Interesse für das im Theaterstück behandelte Thema zu wecken. Manche der gegebenen Informationen sind zunächst zweideutig, manche Informationen werden bis zum Ende des ersten Akts oder gelegentlich gar bis zum Beginn des zweiten Akts zurückgehalten, um einerseits die Anfangsszene zu erleichtern (sodass das Publikum nicht mit Informationen überschüttet wird) und andererseits Spannung zu erzielen. Die Exposition sollte vollständig, kurz, klar, interessant und wahrscheinlich sein.

Nach der Exposition nimmt die Intrige ihren Lauf. Es kommt zur Verflechtung bzw. Verknotung der Handlungsstränge, deren Konflikt den Knoten bildet (Noeud). Oft befindet sich dieser Konflikt sich im Inneren des Protagonisten.

In den 30er Jahren begann die Krise erst oft im 3.Akt. Nach 1660, und zwar vor allem bei Racine, beginnt sie bereits, bevor sich der Vorhang hebt. Es gibt also bei der frz. klassischen Tragödie keine langsam ansteigende Handlung bis hin zur Klimax (wie etwa in den Werken der dt. Klassik), sondern die Handlung beginnt kurz vor dem eigentlichen Höhepunkt.

Spannung wird vor allem durch die häufig eingesetzten Péripéties erzeugt.

Péripétie bedeutet "événement imprévu qui change la face des choses". Es handelt sich um unvorhergesehene Ereignisse, die allen Schein zerstören und die Tatsachen völlig verändern. Diese unerwarteten Umschwünge sorgen das ganze Stück hindurch für Spannung. Die Péripéties verkomplizieren den Knoten also und lösen ihn nur provisorisch und illusorisch. Jede Péripétie verlängert die Spannung und lässt abwechselnd Hoffnung und Angst beim Publikum entstehen.

Die letzte Péripétie oder Katastrophe eröffnet dem Publikum schließlich das Dénouement. Dénouement bedeutet Auflösung, Entknotung, kurz es ist der Ausgang der Handlung gemeint. Dieser muss eine logische Konsequenz der Handlung sein, wenngleich er zunächst etwas überraschend auf das Publikum wirkt. Bei näherer Betrachtung muss das Dénouement also logisch und durch die Handlung des Stücks vorbereitet sein.

Weiters ist zum Dénouement zu sagen, dass mit ihm alle Handlungsstränge abgeschlossen werden müssen, das heißt, es darf nichts übrig bleiben, weder etwas, das die Zuschauer wissen sollten/müssen, noch etwas, das sie noch hören wollen.

Zur Art des Ausgangs ist zu sagen, Aristoteles bevorzugte ein unglückliches Ende, und diese Meinung hat sich lange (bis ca. 1636) gehalten (stets unheilvolle, schreckliche Ausgänge).

Der Ausgang kann aber auch komplex sein: glückliches Ende für die 'Guten', unheilvolles für die 'Bösen'. Das Werk Andromaque hält ein schlechtes Ende für Oreste, Hermione und Pyrrhus bereit, aber ein gutes für seine Opfer, nämlich Astyanax und seine Mutter.

Abschließend ist zur Handlung der klassischen frz. Tragödie zu sagen, dass hinter der genau dargestellten Innenhandlung die Außenhandlung zurückzutreten hat. Letztere (AH) muss sich aus der ersteren (IH) folgern lassen.

Es gibt also im klassischen Drama eher wenig tatsächliches Geschehen (AH),

es wird vielmehr auf die Gedanken und Gefühle der Figuren (amour/passion/ jalousie) sowie ihre charakterliche Entwicklung eingegangen.

Die Dramenstoffe sind der antiken Sage oder der Geschichte entnommen.

Abschließend möchte ich sagen, dass es noch einige weitere Regeln des klass. frz. Dramas (z.B. in bezug auf Sprache und Stil) gibt, und ich wäre auch noch gerne auf einige Besonderheiten der Racine'schen Tragödien, die

nicht unbedingt typisch für die klass. frz. Tragödie sind, eingegangen (z.B. Racines bevorzugte Themen und Motive, das von ihm verwendete Schema der "chaine amoureuse", die Formel von Roland Barthes ("la relation d'autorité", "le pouvoir impuissant"), die beabsichtigte Wirkung und Funktion seiner Stücke

u.v.m.), doch da ich ohnehin schon etwas zu lange referiert habe, bleibt mir nur noch, mich für die Aufmerksamkeit zu bedanken, und falls es noch irgendwelche Fragen gibt, bitte ich, sie jetzt zu stellen.

2193 Worte in "französisch"  als "hilfreich"  bewertet