Calvinistische Erwerbsethik
Im Verlauf des 17. Jahrhunderts gerieten strenggläubige englische Protestanten, die Puritaner, in immer größeren Gegensatz zur Anglikanischen Kirche. Sie forderten eine "Reinigung" des Gottesdienstes vom katholischen Kultus. Ihre neue und für die Industrialisierung so bedeutsam Arbeitsmoral, ihre Erwerbsethik, war nach dem Nationalökonomen Max Weber (1864-1920) wesentlich beeinflußt durch ihre strenge Auslegung der Prädestinationslehre des französischen Reformators Jean Calvin (1509-1564) und basierte auf folgenden Grundsätzen:
- Die Absichten Gottes sind den Menschen verborgen,
niemand weiß, ob er auserwählt oder verworfen ist;
- alles Bemühen, die Auserwähltheit zu erreichen, ist umsonst, wenn Gott einen Menschen nicht zur ewigen Seligkeit vorherbestimmt hat;
- dennoch muss jeder so leben, als ob er auserwählt sei, d. h., die Lebensführung muss tugendhaft sein; Prunk, Vergnügen und Genuß sind dagegen strikt zu vermeiden;
- der Erfolg - konkret: der wachsende Reichtum - zeigt jedoch, ob Gott ein Leben der Arbeit, des Fleißes, der Sparsamkeit und der Sittenstrenge belohnt;
- Streben nach Reichtum ist deshalb geboten und nur dann verwerflich, wenn der Wohlstand als Grundlage eines sorglosen und lustigen Lebens dienen soll. Deshalb ist der Maßstab der inneren und der äußeren Welt (Denken, sittliches Verhalten; Einstellung zur Arbeit, zum Erwerb) rationelles, nützliches Handeln, das sich in erster Linie im wirtschaftlichen Erfolg offenbart;
- Müßiggang, Zeitvergeudung, wird zum Erzlaster, zur schwersten aller Sünden. Alles, was durch Zeitverlust vom Streben nach "heiligem" Leben abhält, wie z. B. Geselligkeit, Geschwätz, Luxus, mehr Schlaf als absolut nötig, ist moralisch verwerflich;
- Arbeit ist der von Gott vorgeschriebene Selbstzweck des Lebens. Nach Paulus heißt es: "Wer nicht arbeitet, soll nicht essen";
- wer keinen wirtschaftlichen Erfolg hat, ist selbst dafür verantwortlich und zeigt, dass er nicht in der Gnade Gottes ist.
Die Test Act von 1763 schloß alle Puritaner von den Staatsämtern aus und drängte sie dadurch in die Bereiche Handwerk, Handel und Wirtschaft. Hier konnte sich ihre besondere Arbeitsethik, ihre privatwirtschaftliche "Profitlichkeit" voll entfalten und gab der Industriellen Revolution einen starken Impuls. Fast die Hälfte der bekannten Erfinder, Kaufleute und Unternehmer des 18. Jahrhunderts waren Calvinisten, obwohl nur eine kleine Minderheit der britischen Bevölkerung calvinistischen Konfessionsgemeinschaften angehörte.
Der Wirtschaftsliberalismus
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Typisch englisches Gewinnstreben im allgemeinen und die calvinistische Einstellung zu Arbeit und Erwerb im besonderen konnten sich in dem von Adam Smith (1723-1790) formulierten Wirtschaftsliberalismus frei entfalten. Sein 1779 veröffentlichtes epochemachendes Werk "An Inquiry into the nature and causes ofthe Wealth of Nations", das das Verhältnis von Arbeit, Kapital, Lohn, Preis und Grundbesitz untersucht, ist die theoretische Begründung des Individualismus im Gegensatz zu allen mittelalterlichen und merkantilistischen Gesellschaftsauffassungen.
Smith stellte in seinem Werk, das oft als "Bibel des Kapitalismus" bezeichnet wird, folgende Thesen auf:
- Der Zweck jeder Kapitalanlage ist Erzielung von Gewinn;
- Rentabilität ist der Maßstab für Investitionen;
- das natürliche Bestreben jedes Menschen, seine Lage zu verbessern, ist das entscheidende Prinzip;
- die Verfolgung des Eigeninteresses fährt indirekt zur Förderung der gesamten Volkswirtschaft und zur Steigerung des Gesamtwohls;
- der Markt muss dem "freien Spiel der Kräfte" vorbehalten bleiben;
- der Staat hat in diesem System der natürlichen Freiheit nur drei Aufgaben: 1. Schutz nach außen; 2. Rechtspflege und damit gesicherte Verhältnisse im Innern; 3. Schaffung bestimmter öffentlicher Einrichtungen wie z. B. Straßen, Münzämter, etc. Ansonsten darf er aber nicht eingreifen, da der einzelne besser weiß, welche Kapitalanlage und welches wirtschaftliche Vorgehen für ihn am besten ist;
- Kapitalbildung und Industrieentfaltung müssen "dem natürlichen Gang der Entwicklung", dem "freien Spiel der wirtschaftlichen Kräfte" überlassen bleiben. Jede künstliche wirtschaftspolitische Maßnahme lenkt die produktiven Kräfte der Arbeit und auch die Kapitalien in eine falsche Richtung;
- allein das "Naturgesetz" von Angebot und Nachfrage muss den Preis bestimmen;
- die Arbeitsteilung als leitendes Prinzip fährt zu Spezialisierung und Zeitersparnis und damit zu einer beträchtlichen Steigerung der Produktivität (Massenproduktion). Erfindungen ergeben sich konsequenterweise aus der Arbeitsteilung;
- das natürliche Bestreben jedes Menschen, seine Lage zu verbessern, ist ein so mächtiges Prinzip, dass es nicht nur alle Hemmnisse überwindet, sondern auch "allein und ohne alle Hilfe" die Gesellschaft zu Wohlstand und Reichtum fahrt.
Smiths Kernaussage bestand darin, dass zur Hervorbringung von Reichtum die drei Faktoren Boden, Arbeit und Kapital zusammentreffen müssen und dass die Produktivität um so höher ist, je mehr diese Faktoren ungehindert zusammenarbeiten könnten (= Freihandel), Damit dieses Zusammenspiel funktioniert, müssen zwei Vorbedingungen gegeben sein:
1. Konkurrenz darf bei keinem der drei Wirtschaftsfaktoren ausgeschaltet werden. Dies bedeutet die Absage an Zünfte und das Recht der Primogenitur (Bestimmung, nach der nur der Erstgeborene adligen Besitz und Titel erbt), das große Teile des Bodens dem Wirken von Angebot und Nachfrage entzog und die wirksame Verhinderung übermächtiger Konzerne.
2. Jeder, der am Wirtschaftsprozeß teilnimmt, darf sich nur von seinem Interesse, d. h. von seinem Egoismus leiten lassen.
Der wirtschaftliche Liberalismus, den Gentry und Großbürgertum in die Praxis umsetzten, äußerte sich im Prinzip des "laissez faire", dem weitgehenden Verzicht auf staatliche Eingriffe. Er führte zu Wettbewerbs- und Gewerbefreiheit, begünstigte die Entwicklung der Geldwirtschaft, die Reinvestition von Kapital und die Gründung von privaten, aber staatlich geförderten Handelsgesellschaften. Diese entstanden rund um den Globus und demonstrierten die wirtschaftliche (und politische) Vormachtstellung Englands.
Diese Faktoren und eine staatliche zielgerichtete Wirtschaftspolitik, die oft durch Monopolgesetze ideale Voraussetzungen schuf, machten England noch im 18. Jahrhundert zum "workshop of the world", zur wirtschaftlichen Führungsmacht Europas und damit der Welt.
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