Novelle
Novelle (lat. Novelle sc. Lex = Nachtragsgesetz, ergänzende Rechtsordnung,
zu lat. novus = neu; dann ital. = Neuigkeit, seit der Renaissance lit. Begriff)
Die Gattung der Novelle erfreute sich zur Zeit des Realismus einer ungeheuren Beliebtheit. Der Grund für diese Vorherrschaft war nicht zuletzt die Popularität der literarischen Zeitschriften und Familienblätter, in denen die Schriftsteller publizieren konnten. Die epische Kurzform der Novelle bot dem Autor außerdem die Möglichkeit, in exemplarischen Lebensausschnitten modelhafte Situationen zu gestalten, in denen die Leser sich und ihre Zeit wiedererkennen konnten.
Die Verwandtschaft zum Drama (STORM: "Schwester des Dramas") ist größer als die zum Roman, wie aus den erfolgreich dramatisierten Novellen (SHAKESPEARE) und der Vereinigung von Dramen- und N.-dichter (KLEIST) hervorgeht.
Beide Formen verlangen geraffte Exposition, konzentriert herausgebildete Peripetie und ein Abklingen, das die Zukunft der Personen mehr ahnungsvoll andeuten als gestalten kann.
Die Auseinandersetzung mit den Gattungsgesetzen beginnt in der Romantik. Von den wesentlichen Thearetikern der Novelle zeigt F. SCHLEGEL (Nachricht von den poetischen Werken des J. Boccaccio, 1801) den symbolischen Charakter und die objektiv gestaltete Subjektivität der Novelle wie die gesellschaftliche Formeigenart als thematisch verbundene Unterhaltungskunst auf.
1. Die Geschichte der Novelle in der Epoche des Naturalismus
Will man versuchen, die Geschichte der Novelle im ausgehenden 19. Jahrhundert und im frühen 20. Jahrhundert nur von der bekannten Epochengliederung dieses Zeitraums her darzustellen, dann wird ein solches Unternehmen nicht immer ertragreich sein. Es gibt zwar ein, wenn auch nicht sehr breites, Novellenschaffen innerhalb jener literarischen Strömung, die man unter dem Begriff des Naturalismus zusammenfaßt. Dazu sind kaum die Prosaskizzen von Arno Holz und Johannes Schlaf, 'Papa Hamlet' und 'Ein Tod', zu rechnen. Der Gattungsform der Novelle näher kommen Werke wie max Kretzers 'Berliner Novellen und Sittenbilder' und Ilse Frappans 'Hamburger Novellen'.
Wichtig für diesen Zeitraum sind vor allem die Anfänge Gerhart Hauptmanns, desgleichen Novellen von Max Halbe. Nicht übergehen wird man auch die 'Litauischen Geschichten' Hermann Sudermanns. Im übrigen ist dem Literarhistoriker vertraut, dass auch Paul Ernst dem Naturalismus in seinen ersten Versuchen nicht ferngestanden hat.
Man kann auch von Ansätzen zu einem mehr impressionistischen Novellentypus sprechen. Da sind einmal die 'Kriegsnovellen' Detlev von Liliencrons. Vor allem gibt es einige Werke Artur Schnitzlers, die ein hervorragendes Beispiel impressionistischer Novellenkunst bieten.
Es ist möglich, in begrenzter Weise auch von der Novellenkunst des Expressionismus zu sprechen, sich weniger charakteristisch darbietend in dem einem anderen Stilwillen verpflichteten Werk Franz Werfels, jedoch konsequenter in dem Schaffen Georg Heyms realisiert. Indessen, wie man auch den Zeitraum epochal aufgliedert, die eigentlich genialen Novellisten des 20. Jahrhunderts sind im Ablauf dieser Epochengliederung nicht unterzubringen, nicht Thomas Mann, nicht Hofmannsthal; weder Kafka noch Musil. Selbst der zuvor genannte Gerhart Hauptmann kann nur mit Vorbehalt in den Zusammenhang des Naturalismus eingeordnet werden. Obwohl er sich in seinen Anfängen ausdrücklich zu Arno Holz und Johannes Schlaf bekannt hat - das erste Drama 'Vor Sonnenaufgang' ist ihnen gewidmet -, schon die Analyse der bedeutendsten seiner Novellen, des 'Bahnwärters Thiel', wird auf Elemente eigentümlich spiritueller Art stoßen, die mit der vorherrschenden Tendenz des Naturalismus kaum etwas zu tun haben.
Die übliche Gliederung in die 3 Epochen des Naturalismus, des Impressionismus und Expressionismus ist also für eine Darstellung der Geschichte der Novelle der Jahrhundertwende und des frühen 20. Jahrhunderts nur begrenzt möglich. Trotzdem soll sich zunächst beibehalten werden. Immerhin bietet sie eine gewisse Möglichkeit, um den Eingang in das Schaffen dieser Zeit zu erschließen.
2. Die Novelle unter dem Einfluß des Impressionismus
Detlev von Liliencron
Der Impressionismus war für die Gattungsform der Novelle nicht in dem Maße ertragreich wie der Naturalismus. Man wird in diesem Kapitel den österreichischen Novellisten Arthur Schnitzler - allerdings nur in begrenzter Weise - einbeziehen. An erster Stelle aber ist Detlev von Liliencron zu nennen. Zwar kann man in seinen lyrischen Schöpfungen den Stil der Epoche besser fassen als in seinen Novellen. Fritz martini stellt in seiner Literaturgeschichte die Gedichte als besonders beispielhaft für das Schaffen des Dichters heraus: "Er hört, sieht schmeckt die Wirklichkeit - sie löst sich, wie in der impressionistische nmalerei, in flimmernde, bewegte Striche und Punkte auf.
Bekannt sind vor allem die 'Klrigsnovellen', die Ereignisse des Krieges Preußens gegen Österreich und vor allem des deutsch-französischen Krieges 1870/71 verarbeiten. Im übrigen wurde der Dichter immer wieder von seiner norddeutschen schleswig-holsteinischen Heimat zum Schaffen angeregt. So trägt eine Gruppe von Novellen den bereichnenden Titel: 'Aus Marsch und Geest'. Auch die historischen Novellen, zusammengefaßt unter dem Titel 'König und Bauern', beziehen ihre Stoffe aus der gleichen Landschaft.
Was vor allem als bezeichnend für die Novellenkunst Liliencrons betrachtet werden muss, ist die Auflösung der geschlossenen Novellenhandlung in Einzelimpressionen, eine Auflösung, die sprachlich - dem Stil der für den französischen Impressionismus beispielhaften Prosawerke der Brüder Goncourt entsprechend - in der Vorliebe für praktische Fügungen und vor allem in der Neigung zu kurzen Ausrufesätzen zum Ausdruck kommt. Diese Eigentümlichkeit des Stils gilt für die Kriegsnovellen wie auch für die, die an der Küste Schleswigs spielen.
Expemplarisch für diese Arbeitsweise kann die Novelle 'Der Richtungspunkt' aus der Gruppe der 'Kriegsnovellen' gelten.
Beschrieben wird eine Schlacht aus dem deutsch-französischen Krieg, die ihren Höhepunkt in einem Reiterangriff hat. Liliencron lässt die auf ihn einstürmenden Eindrücke Revue passieren. Sie wechseln von Abschnitt zu Abschnitt. Zahlreiche Gestalten, vor allem die an der Schlacht beteiligten Offiziere, alle flüchtig, aber sinnlich prägnant dargestellt, ziehen an dem Auge vorüber, um alsbald wieder durch andere abgelöst zu werden.
3. Die Novelle in der Epoche des Expressionismus
Georg Heym
Der traditionellen Novelle am nächsten scheint ein Prosawerk zu kommen, das unter dem Titel 'Die Novella der Liebe' 1907 entstanden ist und von Karl Ludwig Schneider 1962 aus dem Nachlass veröffentlicht wurde. Zunächst glaubt man bei der Lektüre in eine Novelle altitalienischer Herkunft hineingeleitet zu werden. Es geht wie in Dichtungen dieser Art um die Liebe eines jungen, reichen Patriziersohnes, Julio Lanza mit Namen, zu der schönen Seraphina da Trenta, aus Bologna gebürtig, der Stadt, an deren Universität Julio zusammen mit Seraphinas Bruder Giovan Battista das ius canonicum studiert.
Ein Abenteuer, in das Seraphina gerät, gibt ihrem Verehrer Gelegenheit, ihre Eltern zu besuchen und sich ihnen bei dieser Gelegenheit bekannt zu machen. Wie Julio von dem Augenblick an, da er das Mädchen gesehen, von Liebe zu ihr erfüllt ist, so fühlt sich auch diese mit gleicher Leidenschaft zu ihrm Retter hingezogen. Ohne zu zögern, willigt sie ein, ihn in der folgenden Nacht wiederzusehen. Der Bruder Seraphinas, in das Geheimnis eingeweiht, ist bereit, für die beiden ein Wort bei dem Vater einzulegen, wobei es für ihn eine selbstverständliche Bedingung ist, dass Julio die Ehre seiner Schwester achtet.
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