Aufklärung
Noch im 17. Jahrhundert begann das verhältnismäßig geschlossene Weltbild des Barocks zu zerfallen. Das neue Zeitalter, das vielfach als Beginn der Moderne bezeichnet wird, wurde hauptsächlich von zwei Strömungen hervorgerufen: dem Rationalismus und dem Empirismus.
Der Rationalismus (lat. ratio = Vernunft, Verstand) hatte seine Geburtsstätte in Frankreich. Sein Begründer war der Mathematiker und Philosoph René Descartes. Er ging davon aus, das überlieferte Wissen nicht einfach hinzunehmen, sondern alles, was er zu wissen glaubte, in Zweifel zu ziehen. Dabei fand er heraus, dass zunächst nur eine einzige Erkenntnis unbezweifelbar und daher wahr sei, der Satz: Ich denke, also bin ich." Alles, was vom Verstand ebenso klar und deutlich erkannt werden kann wie dieser Satz, ist wahr.
Damit war der menschliche Verstand zum Maßstab für wahr" und nicht wahr", für richtig" und nicht richtig" geworden. Durch bloßes Denken, durch logisches Verknüpfen und Folgern konnte der Mensch zur Erkenntnis Gottes und der Gesetzmäßigkeiten in der Natur zur Wahrheit vordringen.
Die Heimat des Empirismus (Empire = Erfahrung) war England, wo zuerst John Locke die Beobachtung zur Grundlage wissenschaftlicher Aussagen machte. Denn so behauptete er menschliche Erfahrung, nachprüfbares Wissen bildet sich allein aus der Beobachtung und aus den Wahrnehmungen unserer Sinne. Es ist nichts in unserem Verstand, als was wir vorher mit den Sinnen wahrgenommen haben", heißt es bei dem englischen Philosophen David Hume. Beobachtung als Methode der Erkenntnisgewinnung: damit war der Weg für eine moderne Naturwissenschaft gebahnt.
Als die fortschrittlich gesinnten Gelehrten und Schriftsteller des frühen 18. Jahrhunderts für die neue Geistesbewegung einen Namen suchten, der auch von Nicht-Gebildeten verstanden werden konnte, bot sich ihnen das Verb aufklären" als Vergleichswort an: Wie das Licht der Sonne die Dunkelheit vertreibt und alles deutlich erkennbar macht, aufklärt", so sollte das helle Licht der Vernunft die Finsternis des Aberglaubens, der blinden Untertänigkeit, der Unduldsamkeit und dumpfen Triebhaftigkeit besiegen. Um die Mitte des Jahrhunderts war das damals neu gebildete Hauptwort Aufklärung" bereits zum Schlagwort geworden.
Die Aufklärung ist eine geistige Bewegung. Ihr oberstes Ziel war die Verbreitung der Bildung und die Erziehung des Menschen zu einer freien, von der Vernunft geleiteten Persönlichkeit. Man hielt die Erkenntnisfähigkeit des menschlichen Geistes für grenzenlos und glaubte an den ständigen Fortschritt der Vernunfterkenntnis bis zur höchsten Vollkommenheit.
Die Aufklärung wirkte sich auf allen Lebensgebieten aus: im Staatswesen und in der Rechtsauffassung genauso wie im Schulwesen; in religiösen Fragen ebenso wie in der Literatur.
Der an sich alte Gedanke des Naturrechts wird wieder aufgenommen und neu durchdacht: Jedem Menschen kommen von Natur gewissen Rechte zu, so das Recht auf Leben, auf Freiheit und auf Eigentum. Alle Menschen sind gleich, jeder ist frei geboren. Der Staat hat die Aufgabe, diese natürlichen Rechte jedes einzelnen zu schützen.
Eine neue Lehre vom Staat wird begründet: Der Staat beruht auf einer Art Gesellschaftsvertrag". Aus dem Wunsch nach Frieden und Sicherheit sind die Menschen übereingekommen, einen Herrscher einzusetzen, der die Einhaltung der Naturrechte zu gewährleisten hat. Da der Herrscher alle seine Macht vom Volk erhalten hat, kann ihm die Macht auch wieder entzogen werden, wenn er sie mißbraucht. (In diesen Gedanken liegen die Wurzeln der Französischen Revolution von 1789.)
Ein französischer Gelehrter hat diese Staatslehre mit der Forderung nach Gewaltentrennung weiterentwickelt. Diese sieht drei unabhängige Einrichtungen vor: Vertreter des Volkes bilden die gesetzgebende Körperschaft (heute bei uns der Nationalrat), die Regierung sorgt für die Durchführung und Einhaltung beschlossener Gesetze, und ein von beiden unabhängiger Richterstand spricht Recht nach den geltenden Gesetzen. Sowohl die Gedanken vom Naturrecht als auch die Lehre vom Staat wirken bis in die Gegenwart nach: in der Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen und in der Einrichtung wirklich demokratischer Staatswesen.
Auch auf religiösem Gebiet hat die Aufklärung starke Veränderungen hervorgerufen. Die beiden Kirchen, vor allem die protestantische, waren in den Lehrsätzen des 16. Jahrhunderts erstarrt, sodass viele gläubige Menschen sich im Pietismus zusammenfanden, einer Bewegung, die eine Erneuerung des frommen Lebens erstrebte und die Kirche reformieren wollte. An die Stelle der kirchlichen Organisation sollte die Liebesgemeinschaft der ernsthaft gläubigen Christen treten. Ein starkes Gefühlsleben und große Empfindsamkeit sind für die unsichtbare Kirche" des Pietismus kennzeichnend.
Die Aufklärer wollten an die Stelle der Offenbarungsreligion eine auf der Vernunft basierende Religion setzen: Alle Glaubensinhalte mussten mit dem logischen Denken in Einklang zu bringen sein. Sehr energisch wandten sich manche Aufklärer gegen die Vormundschaft der Kirche und beanspruchten für den einzelnen die Möglichkeit freier religiöser Bestätigung. Der Maßstab für den Wert einer Religion lag für den Aufklärer im Praktischen: Die Religion hat die Aufgabe, den Menschen zu bessern, ihn zu einem sittlichen Wesen zu machen.
Diese Aufgabe kann aber auch die Erziehung erfüllen. Die Aufklärer waren zutiefst davon überzeugt, dass der Fortschritt der Menschheit auf der Bildung und Erziehung jedes einzelnen beruhe. Die Einführung der allgemeinen Schulpflicht geht darauf zurück. Das bestehende Schulwesen wurde reformiert. Das Auswendiglernen von Lehrsätzen sollte durch selbständiges Lernen und durch eine lebenspraktische Ausrichtung des Unterrichts ersetzt werden. Die Erkenntnisse des Verstandes so forderte man müssen praktisch anzuwenden sein.
Zur Bildung der Erwachsenen schrieb eine Reihe bedeutender französischer Gelehrter das erste Lexikon (die Enzyklopädie"), in dem das gesamte Wissen der Zeit vom Standpunkt der Aufklärung dargestellt wurde.
Einer der genialsten Männer der französischen Aufklärung war Voltaire, ein ungeheuer vielseitiger Schriftsteller und Denker, dessen Urteile von zwei Generation wie eine Offenbarung angenommen wurden. Voltaire lebte drei Jahr am Hof Friedrichs II. von Preußen und hat den aufgeklärten Absolutismus" entscheidend geprägt. Er schrieb Dramen, Epen, Romane, philosophische Werke, Streitschriften und eine Reihe von Artikeln für die Enzyklopädie". Mit seiner angriffslustigen Schreibweise und seiner Spottsucht erregte er immer wieder Anstoß beim französischen König. Er nahm sich Hilfsbedürftiger an, besonders der Opfer von religiösem Fanatismus, und trat in zahlreichen Flugschriften unermüdlich für Toleranz ein.
In England verband sich die Aufklärung mit moralischen Bestrebungen, die aus dem strenggläubigen Prostestantismus kamen. Die Moralischen Wochenschriften" verbreiteten die neuen wissenschaftlichen und sittlichen Anschauungen im gehobenen Bürgertum und wirkten in hohem Grad meinungsbildend. Englische Dramatiker und Romanschriftsteller entlockten dem Publikum mit rührselig-moralischen Geschichten wahre Tränenbäche. Unter ihren Werken findet man das erste bürgerliche Trauerspiel ebenso wie den Briefroman. Noch in den trivialen Liebesromanen des späten 19. Jahrhundert sind die Spuren dieser rührseligen Literatur zu finden. Für die deutsche Literatur wurde der Ostpreuße Johann Christoph Gottsched zum Apostel der Aufklärung. Er war Professor in Leipzig und kämpfte mit Strenge für eine Reform der Sprache, der Dichtkunst und des Theaters. Von der Dichtkunst, die damals als erlernbar galt, forderte Gottsched, ganz im Geist der Aufklärung, dass sie belehre, erzieherisch wirke und nicht über die Beschreibung der wahrnehmbaren Natur hinausgehe. Darum verbannte er alles Übernatürliche, alles Wunderbare aus der Dichtung und zugleich damit jedes leidenschaftliche Gefühl, weil bei Leidenschaft der Gebrauch der Vernunft nicht nötig ist. In seinem Versuch einer kritischen Dichtkunst" verweist Gottsched die Deutschen auf das Vorbild der französischen Klassiker (Corneille und Racine), die nach seiner Meinung die wahren Erben der Antike seien; denn sie beachteten im Drama genau die sogenannten drei Einheiten, die Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung: Das dramatische Geschehen müsse auf einem Schauplatz, an einem Tage spielen und dürfe nur eine Handlung haben, die in sich geschlossen und logisch aufgebaut sein müsse. Die Tragödie müsse von Personen hohen Standes, Fürsten und Königen handeln; der Bürgerstand dürfe nur in der Komödie auftreten. Shakespeares Dramatik war Gottsched wegen ihrer Unregelmäßigkeit und Wildheit ein Greuel.
Gottsched gab eine Sammlung von Übersetzungen französischer Stücke heraus, die als Vorbilder dienen sollten. Er verfaßte auch selbst ein regelgemäßes Theaterstück, den Sterbenden Cato".
Der bedeutendste Dichter und Schriftsteller, der das Gedankengut der Aufklärung zu verbreiten versuchte, war Gotthold Ephraim Lessing. Aber schon in dem Trauerspiel Miß Sara Sampson" hat Lessing den Zwang der drei Einheiten abgestreift. Der Einfluß der englischen Rührstücke ist unverkennbar. Das traurige Schicksal der jungen Miß Sara, die von der früheren Geliebtes ihres Entführers vergiftet wird und ihrer Mörderin verzeiht, ließ ein empfindsames Publikum vor Rührung in Tränen zerfließen", wie es in einem Bericht über die erste Aufführung heißt. Das Drama hat insofern besondere Bedeutung, als es das erste bürgerliche Trauerspiel der deutschen Literatur ist; das heißt, dass Bürgerliche die Träger des tragischen Konflikts sind.
Zu einer Sensation wurde die Wochenschrift Briefe, die neuste Literatur betreffend", in der Lessing und seine Freunde ihre kritischen Ansichten verbreiteten. Nicht die französischen Dramatiker, sondern Shakespeare hätte man die Deutschen übersetzen und als Vorbild hinstellen sollen; denn ein Genie kann nur von einem Genie entzündet werden", meint Lessing im 17. Literaturbrief, in dem er Gottsched scharf angreift. Mit Minna von Barnhelm" schuf Lessing eines der wenigen guten Lustspiele in deutschen Sprache. Den zeitgeschichtlichen Stoff aus dem Siebenjährigen Krieg hat er frei erfunden. Alle Personen des Lustspiels sind in sich geschlossenen, klar profilierte Charaktere und keine Typen mehr. Sie enthüllen ihr Wesen und ihre Empfindungen nicht mehr in langen Selbstdarstellungen, sondern durch ihr Handeln. Auf eine lehrhafte oder moralisierende Tendenz hat Lessing ganz verzichtet. Er gab die Hamburgische Dramaturgie" heraus und wies darin die Richtung, in der sich das deutsche Drama entfalten konnte.
Von 1770 bis zu seinem Tod 1781 stand Lessing der braunschweigerischen Bibliothek in Wolfenbüttel vor. Dort vollendete er sein schon lange entworfenes Trauerspiel Emilia Galotti". Den Stoff, den er bei dem römischen Geschichtsschreiber Livius gefunden hatte, übertrug er auf einen kleinen italienischen Fürstenhof seiner Zeit. Der vorbildliche dramatische Aufbau des Trauerspiels, die strenge Motivierung und die präzise Charakterzeichnung, verbunden mit einer jeder Person angemessenen Sprache, haben die deutsche Dramatik, vor allem Schiller, stark beeinflußt. Die letzen Jahre im Leben Lessings waren ausgefüllt mit der Verteidigung gegen literarische und theologische Angriffe.
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