Tonio Kröger
Ãœber den Autor:
Thomas Mann wurde am 6. Juni 1875 in Lübeck geboren. Seine Kindheit hat er auch in späteren Jahren ohne jede Einschränkung als "gehegt und glücklich" bezeichnet. Sein Vater, ein angesehener Kaufmann, Konsul und später Senator, schickte Thomas auf das Realgymnasium, wo er seine mittlere Reife machen sollte um danach selber Kaufmann zu werden .Thomas Mann haßte jedoch die Schule, erinnerte sich trotzdem gerne an seinen Klassenlehrer Bäthke zurück, der dem damals Fünfzehnjährigen die Bekanntschaft mit Schillers Balladen machte. Er zeigte allerdings kein Interesse an dem Kaufmannsdaseins seines Vaters. Auch sein älterer Bruder Heinrich, mit dem er in seinen Jugendjahren eng verbunden war, zeigte keinerlei Interesse an der Weiterführung der Firma, weshalb der Vater in seinem Testament verfügte, dass die Firma nach seinem Tode 1891 aufzulösen sei, was erhebliche Vermögensverluste verursachte, den beiden Brüdern aber eine kleine Rente einbrachte von der sie leben konnten. Beide Brüder fühlten sich für den Abstieg der Familie verantwortlich. Dies drückten sie in ihren Werken aus, wenn sie Bürger karikierten oder Entbürgerlichungen darstellten.
Thomas Mann schrieb schon früh Gedichte im Stile Heinrich Heines, welchen er sehr schätzte. In einer Notiz über Heine (1908), nennt er ihn den genialsten deutschen Prosaisten bis Nietzsche. Seine ersten Dramen (Aischa, Mich könnt ihr nicht vergiften, Die Prister), die er als Schüler schrieb, dienten meist der Familienunterhatung. Lediglich einige an einen Klassenfreund und eine Tanzstundenpartnerin gerichtete Poesien waren in der Schule bekannt geworden und schadeten Thomas Manns Ansehen sehr, da man von dem Erben des väterlichen Besitzes anderes erwartete.
1893 gab Thomas Mann zusammen mit Schulkameraden eine "Monatsschrift", die er "Frühlingssturm" nannte, heraus, von der allerdings nur 2 Exemplare, welche einen Prosatext, Gedichte und Kritiken des Autors beinhalteten, veröffentlicht wurden. Diese frühen Texte zeigten schon die Anfänge einer eigenwilligen Schriftstellerpersönlichkeit, die sich in dem Bedürfnis äußerten, sich der Moderne anzuschließen. 1894 verließ Thomas Mann endlich die wenig geliebte Schule und stieß in München wieder zum Rest der Familie, welche dort seit dem Tode des Vaters lebte. Er versuchte sich dort wieder in die bürgerliche Erwerbswelt einzuordnen und begann eine Lehre bei einer Versicherungsanstalt, die aber nur wenige Monate andauerte. Sein Ruf als Lyriker begann sich, nach dem soeben erchienenen zweiten Gedichtband "Aber die Liebe", auszubreiten. Viel Lob und Aufforderungen zu weiteren Arbeiten ermutigten Thomas Mann, die Stelle aufzugeben, und stattdessen Journalist zu werden, zu dessen Zwecke er sich an der Technischen Hochschule München als Gasthörer geisteswissenschaftliche Vorlesungen anhörte. Er begann außerdem Buchbesprechungen und Artikel für die patriotisch - antisemitische Zeitschrift Das zwanzigste Jahrhundert zu schreiben.
1894 erschien die Erzählung Gefallen in der Zeitschrift Die Gesellschaft, die sich für den zeitgenössischen Naturalismus und Impressionismus einsetzte. Sehr wahrscheinlich auf Anregung seines Bruders hin, der Nietzsche sehr schätzte, begann Thomas Mann die Lektüren Nietzsches und Schopenhauers zu studieren. Nietzsche und Schopenhauer übten damals und Zeit seines Lebens den bedeutendsten Einfluß auf die Weltanschauung Thomas Manns aus. Der dichterische Träumer Mann, der in der wirklichen Welt versagte, wurde von Schopenhauers Lehre angezogen, weil sie eine äußere und eine innere Welt trennte. Sie unterschied die Welt der Vorstellung, die dem Satz vom Grunde, also der Rationalität unterworfen war, von dem Ding an sich, dem zeit - und raumlosen, chaotischen Weltgrund, den Schopenhauer den Willen nannte. Schopenhauer bewertete, wie ein großer Teil der naturalistischen Literatur, die mitleidige Sympathie mit der leidenden Kreatur hoch und erhob die Kunst in eine religiöse Sphäre als Erlösung vom Leiden der Welt. Die Kunst erlöst von der Enge der bürgerlichen Erwerbswelt und damit von der Entfremdung der eigenen Individualität. Die artistisch - ästhetische Verwandlung der Realität in alternative Phantasiegebilde gibt dem Menschen Distanz, entfremdet ihn aber ihrerseits auch und trennt den der Kunst Verfallenen vom Leben, von der Liebe, ohne die der Mensch nicht leben kann, ohne die er den lebensnotwendigen Zusammenhang mit der Gesellschaft verliert.
1895 und noch einmal 1896 - 98, lebten die beiden Schriftstellerbrüder zusammen in Italien, in Palestrina und in Rom, dazwischen und danach lebte Thomas Mann in München und eine Zeit lang im Boheme - Stadtteil Schwabing. Er arbeitete außerdem eine vorübergehend als Lektor für den Albert Langen - Verlag und dessen satirisch - humoristisch - literarische Zeitschrift Simplicissimus.
Unter den frühen Erzählungen ist Der kleine Herr Friedemann zu erwähnen, weil dort ein vergeblicher Versuch geschildert wird, das Liebesbedürfnis durch den Rückzug in ein ästhetisches Reservat zu kompensieren. Der vernichtenden Wirkung der Sexualität, des Willens zum Leben, auf das Individuum wird die ungeheure Gleichgültigkeit, sowohl der organischen Natur, als auch der gesellschaftlichen Ordnung gegen das individuelle Liebesbedürfnis gegenübergestellt. Die Erzählung lieferte den Titel für eine kleine Sammlung, die 1898 veröffentlicht wurde. Ihr Verleger, Samuel Fischer, forderte Thomas Mann auf, einen Roman zu schreiben, woraufhin er das Buch Buddenbrooks (1901) schrieb. Die vorbereitenden Notizen und die ersten Kapitel erarbeitete Thomas Mann während des zweiten Italienaufenthalts mit seinem Bruder.
Dieser erste Roman wurde ein Meisterwerk, weil es ihm gelang, eine an sich traurige Geschichte, den Verfall einer Familie ,in einer solchen Weise zu erzählen, dass der Leser ihn mit heiterer Sympathie verfolgt. Der Leser gewinnt Distanz zum erzählten Geschehen, weil ihm immer wieder Signale angeboten werden, mit denen er die Selbsttäuschungen der handelnden Personen durchschauen kann. Die Familienehre ist eine falsche Religion, eine Ideologie, der selbst die Liebe zum Opfer gebracht werden muss. Die christlich - pietische Religion wird von Anfang an im Konsul Buddenbrook als Ideologie gezeigt.
Mit dem erscheinen von Buddenbrooks trat Thomas Mann als reifer Künstler vor die Öffentlichkeit. Seine Jugendzeit war somit abgeschlossen.
1903 wurden seine brühmten Novellen Tristan und Tonio Kröger veröffentlicht. Die Erzählung Tonio Kröger (1903) gewinnt dem entbürgerlichten Künstler positive Seiten ab. Sie präsentiert das Programm eines Schriftstellers, der seine Entfremdung von der Bürgerlichkeit, zu der er doch gehört und in die er sich zurücksehnt, durch liebevolle Zuneigung zu seinen Lesern ausgleicht. Nicht zufällig tritt ein homoerotisches Motiv in Tonio Kröger an die Oberfläche. Thomas Manns Bisexualität war ihm immer eine Bestätigung seines artistischen Außenseitertums.
In der Novelle Tristan (1903) wird die Schriftstellerfigur karikiert. Ihre Außenseiterrolle ist durch ostjüdische Herkunft und soziale wie auch körperliche Impotenz markiert. Das Ressentiment des Außenseiters treibt diesen zu einer Art von Ersatzliebe und Ersatzleben, die tödlich wird.
Noch während er an den Buddenbrooks schrieb, plante Thomas Mann ein Renaissancedrama. Fiorenza (1905) besteht aus dramatischen Gesprächen, die Kunst als Kultus der Oberfläche der religiösen Radikalität einer Savonarola - Figur entgegenstellen.
1903 erschien die einbändige zweite Auflage der Buddenbrooks, die ein Verkaufserfolg wurde. Seitdem war Thomas Mann eine Berühmtheit.
1904 verliebte er sich in Katja Pringsheim, die Tochter eines Mathematikers, der an der Universität lehrte, reich war und ein großes Haus besaß. Seine Frau stammte aus der liberalen Berliner Familie Dohm. Beide waren jüdischer Herkunft. 1905 heirateten beide und zeugten im Verlaufe ihrer Ehe sechs Kinder, zu denen Thomas Mann jedoch ein eher distanziertes Verhältnis hatte. Dennoch war die Familie ihm als Gewicht seiner Existenz unentbehrlich. Hervorzuheben ist besonders die Lebensleistung Katja Manns, welche einen großen Anteil an der Vermittlung zwischen der wirklichen und der fiktionalen Welt ihres Mannes hatte. Im Haushalt übernahm Katja Mann die Leitung der "geschäftlichen" Angelegenheiten: Sie besorgte Verlagskontakte, erledigte Bücher- und Manuskriptbegutachtungen, und sie war die menschliche Beratung für Thomas Mann; kurz, sie entlastete ihren Mann durch die Organisation äußerer Pflichten und trug dazu bei, den geregelten Tagesablauf - die Bedingung für Thomas Manns dichterische Arbeit - von Störungen frei zu halten.
1909 erschien der Prinzenroman Königliche Hoheit mit dem Thema des vornehm - überlegenen
Außenseiter - Dichters, der seinen Platz in der Gesellschaft sucht, ohne sich trivialisieren zu müssen - umspielt von Thomas Mann im Symbol eines Fürsten. 1912 enstand Thomas Manns bedeutendste Novelle Der Tod in Venedig. Der große, aber in seinem Ruhm eingesperrte Schriftsteller Aschenbach wird durch eine homoerotische Leidenschaft befreit und getötet. Aschenbach verlässt seine Welt der disziplinierten Vorstellung und gibt sich dem Drang seines chaotischen Willens hin. 1924 veröffentlichte Thomas Mann den Roman Der Zauberberg, dessen Stoff er während eines Davos - Aufenthaltes seiner lungenkranken Frau gesammelt hatte. Es war wieder die Geschichte einer Entbürgerlichung, nur geschah sie nicht einem berühmten Schriftsteller, sondern einem schlichten Hamburger Bürgersohn.
Als 1914 der Krieg ausbrach, glaubte Thomas Mann sich mit seinem Volk einig. Der Krieg gegen die Demokratien sei ein Krieg für die deutsche Lebensform, für Kultur und militärische Disziplin, für einen Staat, der von politischen Fachleuten geleitet, den Bürger frei für Kultur ließe und nur so eine von politischem Eifer freie Literatur ermögliche. Er begann ein Buch Betrachtungen eines Unpolitischen das erst kurz vor Kriegsende 1918 erschien. Er hielt sich selber für antidemokratisch und konservativ, außerdem verteidigte er die deutsche Sache, weswegen ihn viele für nationalistisch hielten, was er aber in den Betrachtungen eines Unpolitischen bestreitet. Der Ausgang des Krieges erschütterte Thomas Mann schwer. Dann aber begann er sich für den Erhalt der Kultur in der Demokratie einzusetzen. 1929 wurde Thomas Mann der Nobelpreis für Literatur für sein Buch Buddenbrooks verliehen. Im Frühjahr 1933 kehrte Thomas Mann von einem Erholungsaufenthalt in der Schweiz nicht nach Deutschland zurück, da die politische Polizei die Einweisung Thomas Manns in ein Konzentrationslager beabsichtigte, weil er sich sehr gegen die nationalsozialistische Kulturbarbarei eingesetzt hatte. Thomas Mann ließ sich in der Nähe von Zürich nieder. 1936 bekannte sich Thomas Mann öffentlich zu seinem Exil und die nationalsozialistische Regierung Deutschlands verfügte die endgültige Ausbürgerung Thomas Manns, welcher kurz zuvor bereits die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft angenommen hatte.
1933 erschienen die ersten beiden Bände Die Geschichten Jaakobs und Der junge Joseph, es folgte 1936 der dritte Band Joseph in Ägypten und 1943 der vierte Band Joseph der Ernährer. Den Josephs-Roman unterbrach er 1936 für eine Goethe-Novelle, aus der der Roman Lotte in Weimar wurde, in dem Goethes Größe und seine Verehrung problematisiert werden. 1938 während des Anschlusses Österreichs reiste Thomas Mann in die USA, wo er zuerst in Princeton als Lektor an der Universität arbeitete, 1941 siedelte er nach Los Angeles um. Im amerikanischen Exil setzte er sich nach anfänglicher Zurückhaltung, für den Krieg gegen Hitler ein. 1944 wurde er amerikanischer Staatsbürger. In regelmäßigen Rundfunksendungen drückte er den Wunsch aus, die Deutschen möchten sich selber von Hitler befreien. Er litt sehr darunter, dass dies nicht geschah. 1947 erschien sein Roman Doktor Faustus. Der Aufforderung deutscher Schriftsteller, die während des Krieges emigriert waren, nach Deutschland zurückzukehren, folgte Thomas Mann nicht, was zu Mißstimmungen in Westdeutschland führte. 1949 hielt er Goethereden in beiden Teilen Deutschlands. Der Besuch in Weimar hatte Angriffe der westdeutschen Presse zur Folge.
1952 emigrierte Thomas Mann ein drittes Mal, aus den vom Antikommunismus des Senators Joseph Mc Carthy bessesenen USA, und ließ sich noch einmal in der Schweiz nieder. Seit 1951 schreibt er an der Fortsetzung des Romans Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, den er 1914 schon angefangen hatte und der 1954 erschien. Im gleichen Jahr enstand außerdem der Aufsatz Versuch über Tschechow und 1955 Versuch über Schiller. Während eines Erholungsaufenthaltes am Meer in Holland erkrankt der Achtzigjährige. Thomas Mann stirbt am 12. August 1955 in Zürich.
Inhaltsangabe:
Die Novelle beginnt mit Episoden aus der Jugend Tonios. Er ist anders als die anderen, als seine Mitschüler, als sein Freund Hans Hansen, der Pferdebücher liebt und Reitstunden nimmt, während Tonio schon ein Heft mit eigenen Versen hat, was ihm bei Lehrern und Mitschülern sehr schadet. Er selbst empfindet es als ungehörig, Verse zu machen und damit seine Zeit zu vertun, statt nützliche und praktische Dinge zu betreiben. Es erscheint ihm auch falsch, dass er ein schlechter Schüler bleibt, während Hans Hansen Primus ist. Er findet es richtig, dass sein Vater "ein langer, sorgfältig gekleideter Herr, der immer eine Feldblume im Knopfloch trug", über ihn bekümmert und erzürnt ist. Die heitere Gleichgültigkeit der Mutter ",die Consuela hieß und überhaupt anders war als die anderen Damen der Stadt", erscheint ihm "ein wenig liederlich". Aber er will und kann sich nicht ändern, auch sein schlechtes Gewissen weist ihm keinen Weg dazu, anders als "fahrlässig, widerspenstig und auf Dinge bedacht" zu sein", an die sonst niemand denkt". Aber er findet: "Wenigstens gehört es sich, dass man mich ernstlich schilt und straft dafür, und nicht mit Küssen darüber hinweggeht. Wir sind doch keine Zigeuner im grünen Wagen, sondern anständige Leute, KonsulKrögers." Damit ist eines der durchgeführten Themen leitmotivisch angeklungen, der Konflikt zwischen Künstler und Bürger, zwischen der individuellen schöpferischen Freiheit, die der Künstler braucht, und dem Leben in der wohlgeordneten bürgerlichen Gesellschaft derer, die Handel treiben, die Hansestadt nach traditionellen Grundsätzen regieren und im übrigen so leben, wie man in solchen Kreisen eben lebt. Das Bild ist hier der grüne Wagen für die innere Heimatlosigkeit des Künstlers, für seine Isolierung in der Welt, aus der er kommt, und der anständige Bürger, der eigentlich ein durchschnittlicher Mensch, aber dafür ein in bestimmte Ordnungen eingefügtes Wesen ist, für die Gegenwelt des vereinsamten Künstlers. In gleicher Formulierung oder in geringer Variation tauchen diese Motive immer wieder auf, sie werden zu Leitmotiven, die das Werk in der sinfonischen Technik Wagners zur Einheit zusammenschließen. Tonio Kröger weiß schon als Kind um die ganze Schwere des Andersseins. So empfindet er "eine neidische Sehnsucht" nach dem Leben derer, die wie Hans Hansen "stets auf eine wohlanständige und allgemein respektierte Weise beschäftigt" sind. Glücklich ist er, als Hans Hansen ihm verspricht, "Don Carlos" zu lesen. Aber es bedarf keiner großen Weisheit zu erkennen, dass Hans Hansen für den König, der weint, weil er unglücklich ist, in seiner Welt der Pferde und der realen Helden keinen Platz hat.
Die nächste Episode führt Toni Krögers erste Liebe vor. Sie galt der blonden Ingeborg Holm, als er sechzehn Jahre alt war. Natürlich beachtet sie ihn nicht, weil er ihr fremd ist. Der erste selbstvergessene Versuch der Annäherung endet für ihn mit einer peinlichen Blamage in der Tanz- und Anstandsstunde beim Tanzlehrer Frangois Knaak, dem etwas angestaubten, aber gerade deshalb richtigen Meister der bürgerlichen Durchschnittswelt. Tonio aber fasst aus der inneren Einsamkeit den selbstquälerischen Entschluss, seiner Liebe treu zu sein, nicht, weil ihn ein unwiderstehliches Gefühl treibt, sondern weil sie so anders ist als er; blond, licht, übermütig, gewöhnlich, das heißt hier: alltäglich, weil er von ihr und ihrer Welt ausgeschlossen, ihr ewig fremd ist. So geht er achtlos vorbei an der dunkeläugigen Magdalena Vermehren, die weiß, dass er Verse schreibt, und ihn bittet, sie ihr zu zeigen. Seine Sehnsucht gilt der anderen Welt, die ihn nicht aufnimmt, und in die er auch keinen Zugang finden könnte, ohne sich selbst aufzugeben.
Rasch wird dann die weitere Entwicklung Tonio Krögers fast skizzenhaft dargestellt. Der Vater stirbt, die alte Krögersche Firma wird aufgelöst, die schöne, feurige Mutter heiratet nach Jahresfrist einen Musiker mit italienischem Namen und zieht mit ihm in die blaue Fernen. Ohne Schmerz zu empfinden, verlässt auch Tonio die winkelige Heimatstadt. Er ergibt sich der Kunst, der Literatur. Aber je mehr sich sein Blick für die Menschen schärft, um so einsamer wird er, "weil es ihm im Kreise der Harmlosen mit dem fröhlich dunklen Sinn nicht litt". In seiner Kunst reift er in großen Städten und im Süden, sein Herz indessen bleibt tot. Wohl gerät er "in Abenteuer des Fleisches", aber sie erwecken in ihm nur "Ekel und Haß gegen die Sinne" und "ein Lechzen nach Reinheit und wohlanständigem Frieden". Er empfindet seinen Weg als Irrweg, er ist "doch kein Zigeuner im grünen Wagen, von Haus aus...... Aber er wuchs in seiner Künstlerschaft." "Voll Humor und Kenntnis des Lebens" ist sein Werk und findet bald Anerkennung und Erfolg. Er selbst aber bleibt dabei nach außen "grau und unauffällig", ein Bürger in sorgfältiger Kleidung, wie er sie vom Vater gewöhnt war, aber ein Bürger, der davon wusste", dass gute Werke nur unter dem Druck eines schlimmen Leides entstehen, dass, wer lebt, nicht arbeitet, und dass man gestorben sein muss, um ganz ein Schaffender zu sein". Tonio bleibt auch als Schaffender ein Bürger, der ausgeschlossen ist von der solide Arbeit leistenden und Grundsätze verfolgenden, in festen Bahnen denkenden Bürgerlichkeit, aber auch von der alle Grundsätze aufgebenden, nur frei und ganz sich selbst lebenden künstlerischen Boheme, er vermag, eben weil er bürgerlich bleibt, nirgendwo zu wurzeln.
Fast ein Viertel der Novelle nimmt das Gespräch Tonios mit der Malerin Lisaweta lwanowna, der mütterlichen Freundin, in ihrem Atelier ein. Es ist eigentlich ein Monolog Tonios, denn Lisaweta macht nur einige Zwischenbemerkungen, die im Grunde den Gedanken nicht fördern, und wo sie Einwände machen könnte, schneidet Tonio ihr von vornherein das Wort ab. Es geht um Kunst und Leben. Tonio erkennt, dass die Begabung für Stil, Form und Ausdruck das kühle und wählerische Verhältnis zum Menschlichen, ja eine gewisse menschliche Verarmung und Verödung voraussetzt. Das Gesunde, findet er, hat keinen Geschmack, es ist aus mit dem Künstler, sobald er ein Mensch wird und zu empfinden beginnt. Darum schämt er sich ein wenig seines Künstlertums, er sieht und fühlt, dass seine Leser ihn falsch sehen, wenn sie durch sein Werk zu einem warmen menschlichen Gefühl kommen, während er selbst nichts davon weiß. Nicht als Beruf, sondern als Fluch empfindet er die Literatur, die den Künstler von den Menschen trennt, Abgründe zwischen ihm und den anderen aufreißt, bis schließlich keine Verständigung mehr möglich ist. Das Wissen über sich selbst und das künstlerische Schaffen ist die wahre
Tragödie des Künstlers. Tonio fühlt sich in der Situation Hamlets, "dieses typischen Literaten". Es bleibt aber die ungestillte und unerfüllbare Sehnsucht nach dem Lebern, das sich nicht als das Ungewöhnliche, das Einmalige darstellt, sondern als "das Normale, Wohlanständige und Liebenswürdige". Der ist kein Künstler, "dessen letzte und tiefste Schwärmerei das Raffinierte, exzentrische und Satanische ist, der die Sehnsucht nicht kennt nach dem Harmlosen, Einfachen und Lebendigen, nach ein wenig Freundschaft, Hingabe, Vertraulichkeit und menschlichem Glück, - die verstohlene und zehrende Sehnsucht nach den Wonnen der Gewöhnlichkeit". Tonio bekennt, dass es für ihn keinen Weg zur bürgerlichen Welt zurück gibt, aber mit Entschiedenheit sagt er sich los von den "Dämonen, tiefen Unholden und erkenntnisreichen Gespenstern", von den Literaten denen er allenthalben begegne. Lisaweta aber erkennt die Wurzel all seiner Probleme: Tonio ist "ganz einfach ein Bürger", "ein Bürger auf Irrwegen, ein verirrter Bürger".
Der zweite Teil der Novelle bringt gewissermaßen eine Umkehr des bisherigen Verlaufes. Tonio erklärt Lisaweta, dass er nach Dänemark in die Heimat Hamlets, reisen will. Vorher aber fährt er noch einmal in seine Vaterstadt, wo er einen kurzen, seltsamen Aufenthalt erlebt. Winzig und winkelig erscheint ihm das Ganze. Verloren und einsam geht er durch anvertraute und doch fremde Gassen. Niemand erkennt ihn wieder, ja, man begegnet seinem in dieser betriebsamen Stadt wunderlich erscheinenden Gehabe mit ziemlich unverhohlenem Mißtrauen. Sein Vaterhaus ist Heim einer Volksbibliothek geworden, er kann es nur unter Vorwänden wiederbesuchen. Die Heimat hat ihn vergessen. Mit einem komischen, aber von ihm wie ein Sinnbild genommenen Intermezzo endet sein kurzer Besuch in der Vaterstadt. Die mehr rührige als findige Polizei vermutet in ihm einen wegen verschiedener Betrügereien und anderer Vergehen gesuchten Hochstapler, der sich auf der Flucht nach Dänemark befindet. Ohne den diensteifrigen Polizisten ganz Überzeugen zu können, vermag er schließlich die Weiterreise nach Dänemark anzutreten.
In der absoluten Fremde aber gewinnt er neue Klarheit über sich selbst und seine Aufgabe. Als der Herbst schon vorrückt, hat er ein Erlebnis, das sich ihm bedeutsam mit seiner Jugend verbindet. Eine Gesellschaft, eine Landpartie kommt in den einsamen Badeort, den er als Aufenthalt wählte, und sie veranstaltet hier eine Reunion, ein Tanzvergnügen. Als unbeteiligter Zuschauer bleibt er draußen. Aber plötzlich geschieht dies. "Hans Hansen und Ingeborg Holm gingen durch den Saal." Natürlich ist es ein fremdes dänisches Paar. Aber es erweckt in ihm plötzlich die ganze Sehnsucht seiner Jugend und seines Lebens erneut, die Sehnsucht nach der blonden und blauäugigen Gewöhnlichkeit, nach ihrer Gradlinigkeit und Problemlosigkeit, nach dem einfachen Leben. "Und plötzlich erschütterte das Heimweh seine Brust mit solchem Schmerz, dass er unwillkürlich weiter ins Dunkel zurückwich, damit niemand das Zucken auf seinem Gesicht sähe." Auch ein Mädchen, das unbeobachtet und hilflos in der Gesellschaft bleibt, dem er schließlich in einer peinlichen Situation, als es beim Tanzen hinfällt, hilft, ist da, das Bild der Magdalena Vermehren aus Herrn Francois Knaaks Tanzstunde. Es drängt ihn, sich vor der Gesellschaft auszusprechen, aber er findet keinen Weg dazu und man würde ihn auch nicht verstehen. Obwohl er nur zuschaut, ist er wie berauscht von dem Feste. Als er sich schließlich zurückzieht, überblickt er sein bisheriges Leben, das sich "haltlos und unter Gewissensnöten zwischen krassen Extremen" bewegte, "zwischen Heiligkeit und Brunst hin- und hergeworfen, raffiniert, verarmt, erschöpft von kalten und künstlich erlesenen Exaltationen, verirrt, verwüstet, zermartert, krank", - er "schluchzt vor Reue und Heimweh".
Aus diesem Erleben aber erwächst ihm eine neue Auffassung von seinem künstlerischen Beruf und eine neue Liebe zu ihm, die er in dem versprochenen Brief an Lisaweta niederlegt. Sie hatte recht, als sie ihn einen in die Kunst verirrten Bürger nannte. Er steht zwischen den Welten und ist in keiner daheim. Aber die Sehnsucht, die dem Bürgertum gilt", den Wonnen der Gewöhnlichkeit", wie es leitmotivisch heißt, ist ihm Bedingung seiner Kunst. Er bewundert die "Stolzen und Kalten, die auf den Pfaden der großen, der dämonischen Schönheit abenteuern und den Menschen verachten", aber er beneidet sie nicht. Was ihn aus einem Literaten zum Dichter machte, war seine "Bürgerliebe zum Menschlichen, Lebendigen und Gewöhnlichen". Aus ihr kommt "alle Wärme, alles Gute, aller Humor", fast will ihm scheinen, "als sei sie jene Liebe selbst, von der geschrieben steht, dass einer mit Menschen- und Engelszungen reden könnte und ohne sie doch nur ein tönendes Erz, eine klingende Schelle sei". Aus dieser Liebe wird er Besseres schaffen. Die Gegensätze sind geschlichtet und zum mindesten ausgeglichen, einer Versöhnung zugänglich gemacht. Das Entweder-Oder genügte nicht.
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