Ein ruhiges Haus
In Ihrer Kurzgeschichte "Ein ruhiges Haus" weist Marie Luise Kaschnitz (1901-1974) sozialkritsch auf die Ignoranz hin, die Familien mit jüngeren Kindern entgegengebracht wird.
Über die gesamte Geschichte hin zieht sich der Monolog einer Frau. Sie beschreibt zu Beginn die frühere Situation in ihrer Wohnung: ständig wird sie gestört von den Geräuschen der Kinder in den Wohnungen über und unter ihr. Zunächst reagieren sie und ihr Mann mit Stößen gegen Decke und Fußboden. Erst ihre anhaltenden Beschwerden beim Hauswirt, die dieser in die Drohung einer fristlosen Kündigung münden lässt, erwirken jedoch eine Besserung der Situation. Die Frau vermutet, dass die Kinder mit unmenschlichen Maßnahmen zur Ruhe gezwungen werden, beide können den Kummer der Eltern aber nicht nachvollziehen.
Der Text beschreibt in eindrucksvoller Weise das Unverständnis, welches Familieneltern wegen des Verhaltens ihrer Kinder entgegengebracht wird. Empört reagiert die Sprechende auf den andauernden Lärm, den die Kinder in den Wohnungen über und unter ihr verursachen. Den Zustand des Hauses bezeichnet sie als Hölle. Für sie ist es einzig wichtig, dass sie und ihr Mann Ruhe haben und von den Aktionen der Kinder verschont bleiben. Die Erklärungen der Eltern für das Verhalten der Kinder werten sie als "Ausreden". An die Auswirkungen ihrer Interventionen beim Hauswirt denken sie nur selbstsüchtig. Die soziale Not, der die Eltern zum bleiben zwingt, nehmen sie in Kauf. Dieser egoistische Charakterzug zieht sich durch die gesamte Geschichte. Als "Besserung" wegen der angedrohten Kündigung eintritt, fehlen ihnen das nötige Verständnis für die Gefühle der Eltern, die den Zustand ihrer Kinder zwar als "gut" deklarieren, dabei aber Tränen in den Augen tragen. Die Vermutungen der Frau, dass die Kinder mit Seilen an den Betten festgebunden und mit Beruhigungsmitteln behandelt werden, kann sie damit nicht in Verbindung bringen und empfindet sie offensichtlich nicht als falsch. Auch sieht sie es als bemerkenswert an, nach dem Befinden der Kinder zu fragen und die Eltern zu grüßen. Dass das Juchzen, ein Zeichen der Freude, durch ihre Bemühungen aus dem Haus vertrieben worden ist, berührt sie nicht. Offensichtlich haben sie und ihr Mann die Zeit der eigenen Kindheit und ihre damaligen Bedürfnisse an die Umwelt vergessen oder verdrängt, ebenso wie die Erinnerungen an eine mögliche Elternschaft.
Bemerkenswert für die äußere Form ist zunächst, dass der Text nur aus einem Absatz besteht, dessen gesamter Inhalt den Monolog einer Frau wiedergibt. Dies weist neben der sehr subjektiven Sichtweise auch auf die eingangs erwähnte Ichsucht der Sprechenden hin.
An der Tatsache, dass der Leser über die Fragen der Hörenden Person nur durch Rückfrage der Sprechenden informiert wird, lässt sich vermuten, dass es sich bei dem Monolog um ein Telefonat handelt, dass von einer dritten Person nahe der Sprechenden gehört wird. Ein Telefon zumindest ist vorhanden. Gegen diese These spricht die Einschätzung der hörenden Person, dass es sich um ein ruhiges Haus handelt, was durch das Telefon nur schwer auszumachen ist. Daher halte letztere Variante für wahrscheinlicher. Sie wird zudem unterstützt von der ebenfalls auffälligen Sprache der Frau. Sie erinnert an ein Gespräch beim Kaffeekränzchen, in dem eine Frau die andere an Besonderheit übertreffen will.
Die Sprache ist zudem eher dem gemeinsprachlichen Wortschatz zugeordnet, auf schwierige Grammatik wird in den zumeist parataktischen Sätzen verzichtet. Die Formulierungen sind teilweise geschickt gewählt. Als beispielhaft sind ist hier die Fortführung des unterbewußt aufgenommenen Gefühles der "Hölle" durch die Substantive "Geheul", "Geschrei", "Trampeln" sowie das "Scharren der zornigen Füße" zu nennen.
Da das Erzähltempo zweifelsohne der Zeitdeckung zuzuordnen ist, ist der Ablauf zwangsweise chronologisch. Die Erzählende geht analytisch vor, nimmt das Ergebnis ihrer Bemühungen zu Anfang bereits vorweg und rollt dann die Geschehnisse auf.
Leider ist diese Frau kein Einzelfall. Die "Burgen" in den riesigen Wohnsiedlungen, die aus Mangel und Armut in den 60er und 70er Jahren in vielen Städten errichtet wurden, sind Zentren sozialer Brennpunkte. Absolute Anonymität und Nichtbeachtung des Nachbarn und der Mitbewohner beschwören einen Mangel an sozialer Intelligenz herauf. In der Geschichte gibt die Frau zu, dass die Wohnung, in der sie lebt, zu den preisgünstigen Wohngelegenheiten zählt. Sie selbst und ihr Mann entstammen also weniger potentiellen Verhältnissen.
Auch heute, eine Generation später, ist Kaschnitz' Text durchaus als zeitgemäß anzusehen. Mögen sich die Verhältnisse im Westen Deutschlands auch verbessert haben, so sind es jetzt die Ballungszentren im Osten der Republik, die genügend Nahrung für Engstirnigkeit und Intoleranz als Folge von Unzufriedenheit bieten. Ursache ist hier ganz unbestritten der Mangel an materiellen Gütern und das Gefühl der ungerechten Verteilung derselben. Wäre der Text im Jahr 1999 verfasst, könnte der Text auch einen Appell an die Politiker darstellen, die sich so schwer mit der Definition der sozialen Gerechtigkeit tun.
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