Urfaust

(Literarische Erörterung)

A.: Als Sturm und Drang wird die Epoche bezeichnet, die um 1770 in Deutschland entstanden und eine Gegenbewegung der jungen Generation zur verstandesbetonten Aufklärung darstellte. Die gesamte Epoche, die von etwa 1765 bis 1785 dauerte, wird auch gern als Geniezeit bezeichnet. Sie erhielt ihren Namen durch ein Drama, welches 1776 von Friedrich Maximilian Klinger geschrieben wurde und den Titel "Sturm und Drang" trägt. Klinger war ein Jugendfreund Goethes. Dieser gehörte in seiner Jugend neben Gottfried Herder, Gottfried August Bürger und Matthias Claudius mit zu den berühmtesten Stürmern und Drängern. Leitbilder der Stürmer und Dränger waren vor allem die Ideen des Franzosen Jean Jaques Rousseau, dessen Hauptthese lautete: "Gefühl ist mehr als Vernunft." (Deutsche Literaturgeschichte S.46) An erster Stelle standen zu dieser Zeit das Gefühl, das Gemüt und die Leidenschaft. Besonders hassten die Stürmer und Dränger deshalb die Willkürherrschaft der Fürsten. Sie lehnten alle Regeln ab und machten sich ihre eigenen Gesetze. Oft jedoch übertreiben sie ihren Gefühlskult und Freiheitsdrang.

B.I.: Ein typisches Werk der Sturm-und-Drang-Zeit ist Johann Wolfgang von Goethes Drama "Urfaust". Darin geht es um das Genie Dr. Faust, welcher seine Seele an den Teufel, der von Mephistopheles verkörpert wird, verschreibt, um dadurch zu außergewöhnlichen Genüssen und Kenntnissen zu gelangen, die man weder mit Studien noch mit der Magie erreichen kann. Er sucht zuerst nach irdischem Glück. In Auerbach's Keller soll er die Freuden des Zechers Kennenlernen, doch das wilde Treiben ekelt ihn an.

Danach lernt er das schöne und reine Bürgermädchen Margarete kennen. Er versucht zwar, gegen die Leidenschaft anzukämpfen, unterliegt jedoch dann der Liebe. Er zerstört Gretchens Glück und das ihrer Familie. Gretchen tötet ihre Mutter unwissend mit einem Schlaftrunk. Auch ihr Bruder kommt ums Leben, und zuletzt ertränkt sie ihr neugeborenes Kind. Dem Wahnsinn nahe wartet sie im Kerker auf ihre Hinrichtung. Sie lehnt die Errettung durch Faust jedoch ab, da sie lieber von Gott gerichtet werden will, als sich Mephistopheles zu unterwerfen.

B.II.1.: Ein Anliegen der Stürmer und Dränger war die Revolution der Sprache. Im "Urfaust" lässt Goethe vor allem die Person des Mephistopheles eine sehr grobe und ordinäre Sprache sprechen. Er sagt zum Beispiel zu einem Studenten: "Die Mägdlein, ach, sie geilen viel!" (S.11/Z.283) und " Die ihren Nam aufs Scheißhaus malten." (S.11/Z.302). Nicht nur Mephistopheles, eine Verkörperung des Bösen, verfügt über einen solchen Wortschatz, sondern auch die bürgerliche Margarete sagt gegen Ende des Stückes: "Meine Mutter, die Hur,/Die mich umgebracht hat!" (S.57/Z.21/22). Sogar der gelehrte Professor und Doktor Faust nennt Mephistopheles eine "...Spottgeburt von Dreck und Feuer!" (S.48/Z.1228). Dies alles zeigt die Freiheiten, die sich die junge Generation in dieser Zeit in ihren Gedichten nahm.

B.II.2.: Doch nicht nur die Sprache und Ausdrucksweise wurde in der Epoche des Sturm und Drangs verändert, sondern auch die Technik des Reimens. Im Gegensatz zum fünfhebigen Jambus, welcher vor allem in der Aufklärungszeit und dann in der Klassik verwendet wurde, dominiert jetzt der ursprünglich aus dem 16. Jahrhundert stammende Knittelvers. Goethe erneuerte und benützte im "Urfaust" diese paarweise reimenden vierhebigen Verse, z.B.: "Fast sinken mir die Kniee nieder!/Da find ich so ein Kästchen wieder..."(S.32/Z.730/731). In dieser Reimtechnik zeigt sich deutlich die für die Sturm-und-Drang-Zeit typische Rückkehr in die Wende des Mittelalters zur Neuzeit.

B.II.3.: Ausdruck hiervon ist ebenso die Anknüpfung an die Volksliteratur, die wir im Urfaust häufig finden. Seine Quellen lassen sich auf das Volksbuch "Historia von D. Johann Fausten" (1587) und ein altes Puppenspiel, das Goethe in seiner Jugend sah, zurückführen. "Meine Ruh ist hin,/Mein Herz ist schwer;..." (S.43/Z.178/179) und die Ballade vom König von Thule (Abend, S.25-29) zeugen davon.

B.II.4.: Ein weiteres Stilmittel, welches den Sturm und Drang prägt, ist die Hervorhebung von Gefühlen durch bestimmte Umgebungen. In Goethes "Urfaust" gibt es einige Passagen, die die Namen bestimmter gefühlsbetonender Szenerien tragen. Mit dem Wort "Garten" zum Beispiel verbindet man von Natur aus schöne Blumen, Freude, Liebe und Wärme. Und genau dies macht sich Goethe im Aufzug "Garten" (S.38-42) zu Nutzen. Es geht darum, wie sich Margarete und Faust näher kommen und sich lieben lernen. Dies sieht man daran wie Faust mit Margarete redet: "Süß Liebchen!" (S.41/Z.1027)... "was murmelst du?" (S.41/Z.1028)... "Du holdes Himmelsgesicht!" (S.41/Z.1030).

B.III.1.: Die Stürmer und Dränger prägte die Suche nach der totalen Erkenntnis. Faust beklagt sich in seinem Anfangsprolog, dass er, der alle Wissenschaften studiert hat, dennoch nicht um das eigentliche Wesen der Existenz weiß: "Da steh ich nun, ich armer Tor,/Und bin so klug, als wie zuvor." (S.3/Z.5/6), denn "Faust will unbedingt sein und unbedingt sein." (Kaiser, Gerhard: Geschichte der deutschen Literatur 3. München 1976, S.212 ). "Drum..." hat er sich "...der Magie ergeben...", damit ihm "...durch Geistes Kraft und Mund..." "...manch Geheimnis werde kund." (S.3/Z.24-26)

B.III.2.: Aber nicht nur Erkenntnis, sondern auch Gefühle spielen im "Urfaust" eine große Rolle. Denn Faust findet das echte Lebensglück nicht in den Sinnesfreuden, wie zum Beispiel der Zecherei, sondern in der tiefen Liebe und Leidenschaft zu Margarete. Auch diese entbrennt in großer Liebe zu ihm und setzt sich über alle moralischen Grenzen ihrer Zeit hinweg. Sie ist bereit für Faust und die Beziehung zu ihm alles zu tun. Dies wird deutlich, als sie zu ihm sagt: "Ich habe schon für dich so viel getan,/Dass mir zu tun fast nichts mehr überbleibt." (S.47/Z.1211/1212). Diese Art zu dichten entspricht den Stürmern und Drängern, deren Leitbilder die Ideen von Jean Jacques Rousseau waren. Im Gegensatz zur kalten Verstandswelt der Aufklärung standen Gemüt, Gefühl und Leidenschaft im Vordergrund.

B.III.3.: Da die Dichter der Sturm-und-Drang-Zeit nach Freiheit strebten und sich gegen die Moral auflehnten, griffen sie auch oft das Thema der ledigen Mutter, was zu dieser Zeit sehr verpönt war, in ihren Werken auf. So auch im "Urfaust", wo die bürgerliche und unverheiratete Margarete ein Kind von Faust empfängt. Sie bringt damit Schande über sich und ihre Familie: "-Und unter deinem Herzen,/Schlägt da nicht quillend schon/Brandschande-Malgeburt?" (S.51/Z.1324-1326). Diesem kleinbürgerlichen Druck ist sie jedoch nicht gewachsen, und tötet deshalb ihr neugeborenes Kind.

B.IV.1.: Ebenfalls für die Sturm-und-Drang-Phase bezeichnend sind die Personen, die im "Urfaust" die Hauptrollen besetzen. So ist Dr. Faust die höchste Verkörperung des Sturm-und-Drang-Genies. Er will sein "Ich" zum All erweitern. Das große Wissen und die Vernunft, die er in seinen zahlreichen Studien erworben hat, reichen ihm nicht aus. Er ist sogar bereit, den Bund mit dem Teufel zu schließen, nicht aus Bosheit, sondern aus Maßlosigkeit des Herzens und Wissensdurst des Geistes "...Mich plagen keine Skrupel noch Zweifel,/Fürcht mich weder vor Höll noch Teufel." (S.3/Z.15/16). Doch nicht nur für den Sturm und Drang war das Genie charakteristisch, auch für Shakespeare (1564-1616) war es Vorbild seiner Dichtung. Dies verdeutlicht wiederum den bereits erwähnten Rückgriff auf die Wende zwischen Mittelalter und Neuzeit.

B.IV.2.: Noch über Wissen und Verstand steht im Sturm und Drang das Gefühl. Dies stellt aufs Trefflichste Margarete dar. Sie liebt Faust und bringt auch ihm ein tiefes Gefühl nahe. Faust: "Verstehst du, was das heißt: Er liebt dich!" (S.41/Z.1035). Auch sie gesteht Faust ihre Gefühle: "Bester Mann, schon lange lieb ich dich!" (S.42/Z.1055). Aus der anfangs noch reinen Liebe wird nach und nach eine tiefe Leidenschaft. Ihre Widerstandskraft schwindet dahin und sie wird verführbar. Erst findet sie mit Hilfe von Mephistopheles und der Nachbarin Frau Marthe Gefallen an dem geschenkten Schmuck. Aus Margarete wird Gretchen und sie verfällt Faust völlig: "Mein Schoß, Gott! Drängt/Sich nach ihm hin." (S.44/Z.1098/1099). Diese grenzenlose Hingabe zu Faust bringt Gretchen in die Situation der ledigen Mutter und später auch in die der Kindsmörderin. Auch das sind, wie bereits erwähnt, typische Themen des Sturm und Drangs.

B.IV.3.: Als weitere für diese Epoche bezeichnende Gestalt tritt Mephistopheles auf. Er scheint die personifizierte Antwort auf die Suche nach Erkenntnis zu sein. Wie Adam und Eva in der Schöpfungsgeschichte vom Baum der Erkenntnis aßen um wie Gott zu werden, verspricht Mephistopheles Faust die Macht über den Makro- und Mikrokosmos zu erlangen. Er ist es, der Faust zu Margarete führt, obwohl er anfänglich glaubt keine Macht über dieses fromme Mädchen zu haben "Über die hab ich keine Gewalt." (S.24/Z.478). Er schafft es mit Tücke: "...Wir müssen uns zur List bequemen." (S.24/Z.510) aus Liebe todbringende Leidenschaft werden zu lassen. Doch Mephistopheles gelingt es nicht Gretchen für sich zu gewinnen, da sie am Schluß zu ihrer Natur und ihren Idealen zurückkehrt und sich lieber von Gott als vom Teufel richten lässt. Das bekräftigt noch mal, dass Goethes "Urfaust" ein typisches Werk des Sturm und Drangs ist.

C.: Das Thema "Faust" beschäftigte Goethe 60 Jahre seines Lebens. Als der große Klassiker, der er später war, schreibt er noch die Überarbeitung des Dramas "Urfaust", Faust, die Tragödie Teil I und die Fortsetzung zu diesem Werk, Faust, die Tragödie Teil II. Der "Urfaust", der während seiner Straßburger Studentenzeit entstand, fällt in die literarische und in "Goethes" persönliche Sturm-und-Drang-Zeit. Zusammen mit einem weiteren Werk aus dieser Epoche: "Die Leiden des jungen Werthers" spricht er bis in die heutigen Tage junge Menschen an. Das liegt daran, dass die Auflehnung gegen Einschränkungen in der Sturm und Drang Zeit auch heute noch Aktualität zeigt. Jeder muss in seinem Leben hin und wieder einen Kampf gegen Autoritäten führen. Vor allem Jugendliche müssen sich im Elternhaus und in der Schule häufig als "Stürmer und Dränger" zeigen um sich durchsetzen zu können.

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