Wunschloses Unglück

Peter Handke behandelt in diesem Werk das Leben und den relativ frühen Tod seiner

Mutter.

Er leitet die Erzählung mit einer Todesmeldung in einer Zeitung ein und beginnt dann mit

den Beweggründen, die ihn zum Niederschreiben ihres vergeudeten Lebens veranlassten. Der

Autor will sich seinen Schmerz von der Seele schreiben und versucht dadurch, mit dem Tod

der Mutter fertigzuwerden. Er beschreibt seine Gefühle nach dem Selbstmord und wie die

Gedanken an seine Mutter in alltäglichen Situationen und Handlungen wiederkehren.

Ihr Leben und Sterben sollte wie in einem Fall beschrieben werden und so bleibt der

Autor möglichst objektiv, fast wie ein Außenstehender.

Das Buch beginnt mit der Geburt der Mutter und den wirtschaftlichen und den damit

verbundenen sozialen Verhältnissen zu dieser Zeit.

Ihre Vorfahren entstammten dem Knechttum und ihr Vater, Handke's Großvater sparte sein

Leben lang.

Die Mutter, die nie namentlich erwähnt wird, verlebte eine übliche, bäuerliche Kindheit.

Sie war in der Schule sehr begabt, aber der Wunsch, ihre schulischen Interessen in

irgendeiner Weise fortführen und erweitern zu dürfen, stieß auf taube Ohren und wurde

von väterlicher Seite abgelehnt - es war unmöglich, sie war doch eine Frau.

Der Autor kritisiert die damaligen sozialen Gegebenheiten und Voraussetzungen für

Frauen, den Mangel an Bildungsmöglichkeiten und die selbstverständliche Benachteiligung

in allen Bereichen. Dabei klingt leichte Wut und persönliche Berührtheit mit.

Nach Abschluß der Schule, geht das junge Mädchen weg und lernt Kochen und Buchführung in

einem Hotel. Sie zeigt kein Interesse für Politik, hat auch keinen Bezug dazu.

P. Handke versucht ihre politische Anpassung unter Hitler zu "entschuldigen", indem er

ihre Unbeschwertheit und Fröhlichkeit und ihre Freiheitsliebe, die sie nun, da sie jung

ist und sich gerade von zu Hause abgenabelt hat, auszuleben versucht. Sie klammert sich

so, unbewußt an ein vorgegaukeltes Stückchen heile Welt.

Trotz vieler Angebote, verliebt sie sich in ein Parteimitglied, das von Beruf

Sparkassenangestellter war, und wurde schwanger.

Das Ergebnis war Peter Handke,er schreibt aber sehr distanziert und abwertend über

seinen Vater.

Die Affäre hält nicht lang und die Mutter heiratet nach der Geburt einen Unteroffizier

der Deutschen Wehrmacht. Die beiden liebten sich nie wirklich, aber um des Kindes und

der Vernunft willen wagt sie den Schritt vor den Traualtar.

Nach dem Krieg fährt sie zu ihrem Mann nach Berlin. Inzwischen hatte sie bereits 2

Kinder und der einstige Offizier wurde zum Säufer.

Die Lebensfreude wich plötzlich Traurigkeit und die Mutter wurde verbittert. Sie litt

unter den Lebensumständen und unter der Perspektivenlosigkeit, der sie durch ihr

Geschlecht und die Zeit zum Opfer fiel.

Die Familie zog zurück nach Österreich und die Mutter erlangte ihr Selbstbewußtsein

zurück und fühlte sich vor allem sicher und geborgen in ihrer heimatlichen Umgebung.

In der Nachkriegszeit waren die wirtschaftlichen und finanziellen Probleme

vordergründig, so dass auf einzelne Menschen und deren Persönlichkeit kaum eingegangen

worden ist, und die Psyche des Menschen unbeachtet blieb.

Aus einem inneren Bedürfnis heraus, irgendwie Individualität zu zeigen, eine eigene

Persönlichkeit zu sein - und kein schemenhafter Schatten, der sinnlosen Befehlen und

Zwängen gehorcht - sucht sie nach Wegen zur Selbstverwirklichung. Sie beginnt dann zu

rauchen, was in der damaligen Gesellschaft verpönt und nur dem Mann vorbehalten war.

Der Autor beschreibt auch die Beziehung des Ehepaares zueinander. Sie war geprägt von

beiderseitiger Verachtung und wie sichs früher gehörte, auch von körperlicher

Gewaltanwendung durch den besoffenen, ihr geistig untergeordneten Ehemann.

In diesen Tagen bleibt nur Zeit für belanglose alltägliche Pflichten, wie z. B. schwere

häusliche Arbeit. Die daraus resultierenden körperlichen Schäden blieben unbeachtet,

Zitat: "weil man doch schließlich nur eine Frau war".

Sie lebte in den Tag hinein, da nur verrichtete oder nichtverrichtete Arbeit zählte.

Wirkliche Wünsche konnten so nie aufkeimen und jegliche Lebensfreude war eingeschlafen

und bedeutungslos.

Die Mutter kümmerte sich immer um andere, versorgte ihre Familie, wie es sich für eine

"anständige" Ehefrau und Mutter gehörte.

Wichtig war, dass man dem Bild entsprach, "sauber und ordentlich" zu sein, in die Kirche

zu gehen, "fleißig" zu arbeiten und zu tun, was getan werden musste, ohne dabei in den

Spiegel zu sehen oder einen Gedanken des Zweifels damit zu verschwenden, auch wenn man

allmählich daran zerbrach.

So ziehen die Tage vorbei, ohne sie gelebt zu haben.

Als endlich Mixer und Waschmaschine in ihren Haushalt Einzug halten, bekommt sie

plötzlich mehr Zeit für sich und nützt diese mit Lesen.

Die Bücher lassen sie in sich hineinschauen und die Geschichten erinnern sie an alles

Versäumte, das sie nie mehr nachholen würde.

Sie beginnt sich für Politik zu interessieren und wählt die Partei, die ihr zusagt und

keine ihr eingeredete.

Ein Sohn von den 3 Kindern gerät dem Vater nach, und seine Trinksucht und egoistische

Art bereiten ihr Kopfzerbrechen.

Ihr wiedererlangtes Selbstbewußtsein schrumpft und sie bekommt starke Kopfschmerzen,

währenddessen ihr Mann mit Tuberkulose im Krankenhaus liegt.

Die Schmerzen werden so intensiv, dass sie niemanden mehr identifizieren kann und

jegliches Körpergefühl verliert. Sie meint dazu "Ich bin gar kein Mensch mehr".

Der Arzt diagnostiziert einen Nervenzusammenbruch, doch ihren Symptomen und ihrer

Lebensgeschichte nach zu urteilen, litt sie an einer starken Depression.

Die schwere Last ihres Lebens und die Tatsache, dass sie nie wirklich Ansprache und Halt

hatte, konnte bei ihrem sensiblen Wesen nur zu Verbitterung, Krankheit oder Depression

führen.

Sie erholt sich unter anderem bei einer Italienfahrt, wo sie die meisten Sorgen

abschüttelt und sich wieder Zeit für sich selbst nimmt.

Bald jedoch verfällt sie wieder in ein Tief, da sie nun von Langeweile und Einsamkeit

geplagt wird und an kaum etwas Freude findet. Sie wird von Leere erfüllt, das Leben

erscheint ihr sinnlos und sie wird müde und ihrer Existenz überdrüssig.

In dieser Zeit spielt sie zum ersten Mal mit dem Gedanken an Selbstmord.

Mit dem mittlerweile in Deutschland lebenden Sohn Peter Handke steht sie in brieflichem

Kontakt und teilt ihm so ihre Gefühle und Gedanken mit.

Gegen ihre Depression helfen auch Tabletten nichts und sie findet aus ihrem andauernden

Tief in kein Hoch mehr, die Schmerzen und das Gefühl, wertlos und überflüssig zu sein,

tragen das Nötige dazu bei.

Da die psychologische Hilfe und Beratung Anfang der 70-er Jahre gerade am Land kaum

angeboten wurde und ebensowenig akzeptiert war, muss sie mit ihrem Leid alleine fertig

werden, was natürlich unmöglich war.

So besorgt sie sich also eine Packung Schlaftabletten, verschickt Abschiedsbriefe und

begeht dann im November 1971 mit einem Cocktail aus Schlaftabletten, Schmerzmitteln und

Antidepressiva im Alter von 51 Jahren Selbstmord.

Sie erklärt in ihren Briefen, dass ein Weiterleben so nicht mehr möglich gewesen wäre und

dass sie froh sei, nun endlich in Frieden einzuschlafen.

Peter Handke beschreibt noch seinen Rückflug aus Frankfurt und das Begräbnis und geht

dann zu Gedanken und Erinnerungsfetzen über, wie z.B.:

"Einmal ist mir beim Brotschneiden das Messer abgerutscht, und mir kam sofort wieder zu

Bewußtsein, wie sie den Kindern am Morgen kleine Brotstücke in die warme Milch

geschnitten hatte."

oder:

"Sie war menschenfreundlich"

oder:

"In einer Gesellschaft, die eine Bergwanderung machte, wollte sie einmal beiseitegehen,

um ihre Not zu verrichten. Ich schämte mich ihrer und heulte, da hielt sie sich zurück."

oder:

"Sie nahm ihr Geheimnis mit ins Grab!"

Das Wesen und den Charakter der Mutter in einer Buchbeschreibung wiederzugeben, ist

schwierig, da man in einem Buch die Gefühle und Gedanken der betreffenden Person viel

besser vermitteln kann, als wenn nur ihr Leben nacherzählt wird.

Sie wirkt in Handkes Schilderung wesentlich lebendiger als ich sie zu beschreiben

vermag.

Beim Lesen war ich ständig voller Erwartung, dass sie endlich einmal Glück hatte oder dass

sie aus ihrem tristen Alltag ausbrechen würde, was ihr letztendlich auf makabre Weise

auch gelungen ist.

Die Erörterung des Umfelds, in das sie hineingeboren worden ist, ist für den Autor von

großer Bedeutung.

Durch die äußeren Umstände wurden die Menschen abgestumpft, einseitig und interesselos,

wie ferngesteuert, doch Handke's Mutter behielt sich ihre Lebenslust und ihre Energie

tief in ihr versteckt.

Der niedrige Rang der Frau in der Gesellschaft wurde kommentarlos akzeptiert und so sah

auch die Mutter keine alternative Lebensform zu der ihr natürlich zugeteilten.

Mögliches geistiges Potential blieb ungenützt. Eigene Gedanken, weil sie von einer Frau

kamen, wurden völlig unterdrückt und in katholisch, weiblicher Bescheidenheit erstickt.

Ihr Leben lang hat die Mutter allen Erwartungen entsprochen und getan was man von ihr

verlangte. Nie hat sie ihren Bedürfnissen nachgegeben - sprich sie hat die übliche Rolle

der "braven" Frau gespielt und das todunglücklich, weil doch weit mehr in ihr gesteckt

hätte, was durch Unverständnis und Stumpfsinnigkeit totgetrampelt wurde.

Der Selbstmord war ihre einzige wirkliche freie Entscheidung, denn über ihren Wunsch, zu

leben oder nicht, konnten keine gesellschaftlichen Zwänge, keine beschränkten,

egoistischen Männer und keine äußeren Umstände bestimmen oder sich einmischen.

Ihr Leben war das einzige was sie hatte und somit das einzige, was sie sich nehmen

konnte.

Peter Handke wurde 1942 in Griffen, Kärnten geboren. Er besuchte ein Gymnasium für

Priesterschüler und studierte dann 4 Jahre Jus in Graz. Als Mitglied des "Forum

Stadtpark" veröffentlichte er seine ersten Texte in der Zeitschrift "Manuskripte".

Peter Handke schreibt Theaterstücke, Prosa, Gedichte und Hörspiele.

Sein Name müsste allen spätestens seit seinen umstrittenen Reiseberichten aus Serbien,

ein Begriff sein.

"Wunschloses Unglück" verfaßte er 7 Wochen nach dem Tod seiner Mutter, also im Jahr

1972.

1510 Worte in "deutsch"  als "hilfreich"  bewertet