Das Göttliche
Der Grundgedanke dieses klassischen Gedichts von J.W.Goethe ist, dass
sich der Mensch einem bestimmten Ideal nähern, oder die Annäherung an
diesen Idealzustand anstreben soll. Seine These, der Mensch solle "Edel
../Hilfreich und gut.." sein, da es das einzige sei,wodurch er sich von
".. /Allen Wesen, /Die wir kennen.." unterscheidet, formuliert Goethe
grob in der ersten Strophe, und baut sie in den folgenden neun weiter
aus. Er belegt sie mit Beispielen und versucht sie seinem Leser
begreifbar zu beweisen. Dabei konzentriert er sich
mehr auf die Inhalte, die er vermitteln will, als dass er Wert auf einen
formellen Aufbau mit strengem Reim und Rhythmus legt. Die verwendete
freie Reimform bewirkt zudem einen fließenden Wohlklang der Verse und
Strophen.
Um dieses Gedicht verstehen und richtig interpretieren zu können, ist es
wichtig etwas über Goethes Weltbild und Religionsanschauung zu wissen.
Goethe war Pantheist und in seinen jungen Jahren entschieden durch den
niederländischen Philosophen Baruch de Spinoza beeinflußt. Dessen Lehren
beschreiben 'Gott' als die einzige, unteilbare, unendliche Substanz.
'Gott' und die Natur wären demnach gleichzusetzen, da alles was ist,
Teil dieser Substanz sein
muss. Ein jenseitiger Gott lässt sich daher ebensowenig denken wie ein der
absoluten Substanz nicht integriertes Ding. Hier ist eine Parallele zum
humanistisches Denken erkennbar. Denn
beide Theorien setzen die vorbehaltlose Akzeptanz und Toleranz der Natur
voraus, da der Mensch, als Teil von ihr, nicht ohne sie existieren kann.
In Goethes Welt- und Religionsvorstellungen fließen jedoch auch Teile
der griechischen Mythologie, mit der er sich intensiv beschäftigte, mit
ein. Des öfteren tauchen auch in seinen
späteren Werken Bilder auf, die dem der griechischen Götter 'auf ihrer
Wolke' ähneln. Ein Beispiel dafür ist auch in "Das Göttliche". Dort
preist er in der zweiten Strophe die "..unbekannten /Höhern Wesen.." Im
Pantheismus Spinozas wäre der Plural nicht möglich, da sich ein einziges
höheres 'Wesen' aus allem anderen existierenden zusammensetzt. Diese
"Höhern Wesen" stehen bei Goethe für, den Göttern der Antike ähnliche
Figuren, welche die Merkmale des humanistischen Denkens perfektioniert
in sich vereinen. Goethe betrachtet sie
als den Idealzustand, den der Mensch anstreben sollte, um anderen ein
Vorbild sein zu können. Mit den ersten beiden Versen ("Denn unfühlend
/Ist die Natur..") erweiterter in der dritten Strophe seine These. Dabei
steht "unfühlend" eher für unparteiisch, wie sich aus den
folgenden Versen der dritten und vierten Strophe erkennen lässt:
...
Es leuchtet die Sonne
Über Bös und Gute,
Und dem Verbrecher
Glänzen wie dem Besten
Der Mond und die Sterne.
Wind und Ströme
Donner und Hagel
Rauschen ihren Weg
Und ergreifen
Vorüber eilend
Einen um den andern.
...
Er beschreibt, hier in Beispielen, die Neutralität der Naturgewalten und
wie sich keiner aufgrund guter oder schlechter Charaktereigenschaften
ihren positiven oder negativen Auswirkungen entziehen kann. Hierbei
werden "Wind und Ströme /Donner und Wasser" im
Oberbegriff Natur akkumuliert, um eine stärkere Bildhaftigkeit zu
erreichen. Die folgende,fünfte Strophe ist in ihrem Inhalt den
vorhergehenden ähnlich, nur dass sich Goethe nun nach der naturellen,
materiellen Ebene einer höheren, gedanklichen zuwendet. Er verwendet den
abstrakten Begriff "Glück" und personifiziert ihn indem er ihn aktiv
handeln lässt ("../Tappt unter die Menge/.."). Er schildert, wie sich
auch das Glück nicht von menschlichen Werten wie Schuld und Unschuld
leiten lässt, sondern zufällig auftritt ähnlich den Naturgewalten. Die
Verbindung des Jugendlichen mit dem Unschuldigen (".. des Knaben
/Lockige Unschuld ..")und der Schuld mit dem Alter ("..den kahlen
/Schuldigen Scheitel.") zeigt Goethes Sympathie
für das humanistische Gedankengut. Dieses enspicht der Auffassung, dass
der Mensche von Geburt an gut ist, abder im Verlauf seines Lebens
sündigen wird. Durch die Alliteration "Schuldiger Scheitel" in der
letzten Zeile der fünften Strophe wird die Aussagekraft zusätzlich
gesteigert.
Die sechste, siebente und achte Strophe ist den Errungenschaften,
Fähigkeiten und Rechten des Menschen gewidmet, der jedoch trotz all
seiner errungenen Erkenntnisse irgendwann stirbt (Metapher: "../Müssen
wir alle /Unseres Daseins /Kreise vollenden."). Goethe stellt den
Menschen bewußt als Krone der Schöpfung dar, indem er allein ihm mit
dem Oximoron "../Vermag das Unmögliche.." die Fähigkeit zubilligt, alles
erreichen zu können, was er will.
Doch wie steht es mit den "Höhern Wesen"? Vermögen sie überhaupt das
Unmögliche, wenn "..allein der Mensch.." es vermag? Was würde sie über
den Menschen stellen, wenn er das Unmögliche vermag, und sie nicht? Da
er den "Höhern Wesen" diese Fähigkeit nicht extra einräumt, eröffnet
sich eine weitere Deutungsmöglichkeit, in welcher der Mensch diese
höheren Wesen repräsentiert. Der selbstbewußte, strebende Mensch wird
hier zum Vorbild seiner selbst. Ein weiteres Beispiel für diese
Deutungvariante ist in der achten Strophe enthalten, in der er allein
dem Menschen das Recht zu richten ("Er allein darf /Den Guten
lohnen, /Den Bösen strafen, /Heilen und Retten,.."), und die Fähigkeit
Zusammenhänge zu erkennen und diese für sich auszunutzen zugesteht
("../Alles Irrende, Schweifende /Nützlich verbinden..").
Die Klimax "..unterscheidet, /Wählet und richtet.." (7.Strophe,Vers 3,4)
beschreibt die Fähigkeiten der einzelnen Entwicklungsstadien des
Menschen ,der erst unterscheiden lernt und später, in der weiteren
Entwicklung seiner Persönlichkeit nicht nur aus dem Unterschiedenen
wählt, sondern es auch wertet. Bei voller Entfaltung kommt eine weitere
Fähigkeit hinzu: "../Er kann dem Augenblick /Dauer verleihen." Was
Goethe meint, ist die Fähigkeit einen Augenblick durch Personen und
deren Taten unsterblich in den Gedanken aller festzuhalten. Dies wäre
durch für alle Menschen wichtige und wertvolle, aber auch
durch negativ in Erinnerung bleibende Taten möglich. In der neunten
Strophe greift Goethe das Thema der Unsterblichkeit wieder auf:
...
Und wir verehren
Die Unsterblichen,
Als wären sie Menschen,
Täten im Großen,
Was der Beste im Kleinen
Tut oder möchte.
...
Er realisiert, dass "Die Unsterblichen" (Menschen, die durch ihre Taten
in den Gedanken anderer unvergessen - also unsterblich - sind) so
behandelt werden, als wären sie lebende Menschen. Des weiteren erkennt
er, dass es nicht jeder schaffen kann, 'unsterblich' zu werden,
auch wenn er dasselbe ".. /Tut oder möchte." Daraus, dass Goethe auch in
anderen seiner Werke diese Thematik behandelt (z.B.: Faust II,
Die Grablegung: "..Zum Augenblicke dürft ich sagen: /Verweile doch, du
bist so schön!.."), schließe ich, dass sie ihn sehr beschäftigte und
unterstelle ihm den Wunsch, selbst unsterblich sein zu wollen. Dieser
Wunsch verwirklichte sich, denn noch heute ist Goethe als Dichter
weltberühmt.
Die letzte Strophe ist der ersten ähnlich, doch folgt der Forderung nach
Güte und Hilfsbereitschaft des edlen Menschen eine weitere nach Fleiß
("../Unemüdet schaff er..") und beharrlichem Einsatz für "..das
Nützliche, Rechte..". Hier schließt sich der Kreis, mit der invertierten
Forderung der zweiten Strophe ("../Höhern Wesen, /Die wir ahnen! /..
gleiche der Mensch; .." - letze Strophe: "Der edle Mensch ../Sei uns ein
Vorbild /Jener geahnten Wesen!"), und festigt sich das Deutungsbild des
edlen, hilfreichen, guten, humanistische
denkenden Menschen, als Vorbild seiner selbst.
1093 Worte in "deutsch" als "hilfreich" bewertet