Biedermann und die Brandstifter
Inhalt
Burleske, Entstehungsgeschichte, Handlung, Die sechs Szenen, Exkurs: Der Chor in der griechi- schen Tragödie, Die erste Szene, Die zweite Szene, Die dritte Szene, Die vierte Szene, Die fünfte Szene, Die sechste Szene, Jedermann, Personencharakteristik, Interpretation, Die unmögliche Tatsache, Aufsatzthema, Referate, Biedermann oder Brandstifter, Quelle
Burleske
Eines Morgens kommt ein Mann, ein Unbekannter, und du kannst nicht umhin, du gibst ihm eine Suppe und ein Brot dazu. Denn das Unrecht, das er seiner Erzählung nach erfahren hat, ist unleugbar, und du möchtest nicht, dass es an dir gerächt werde. Und dass es eines Tages gerächt wird, daran gebe es keinen Zweifel, sagt der Mann. Jedenfalls kannst du ihn nicht wegschicken, du gibst ihm Suppe und Brot dazu, wie gesagt, und sogar mehr als das: Du gibst ihm recht. Zuerst nur durch dein Schweigen, später mit Nicken, schließlich mit Worten. Du bist einverstanden mit ihm, denn wärest du es nicht, müsstest du sozusagen zugeben, dass du selber Unrecht tust, und dann würdest du ihn vielleicht fürchten. Du willst auch nicht dein Unrecht ändern, denn das hätte zu viele Folgen. Du willst Ruhe und Frieden, und damit basta! Du willst das Gefühl ein guter und anständiger Mensch zu sein, und also kommst du nicht umhin ihm auch ein Bett anzubieten, da er das seine, wie du eben vernommen, durch Unrecht verloren hat. Er will aber kein Bett, sagt er, kein Zimmer, nur ein Dach über dem Kopf; er würde sich, sagt er, auch mit deinem Estrich begnügen. Du lachst. Er liebe die Estriche, sagt er. Ein wenig, noch während du lachst, kommt es dir unheimlich vor, mindestens sonderbar, beunruhigend, man hat in letzter Zeit gar viel von Brandstiftung gelesen; aber du willst Ruhe, wie gesagt, und also bleibt dir nichts anderes übrig als keinen Verdacht aufkommen zu lassen in deiner Brust. Warum soll er, wenn er will, nicht auf dem Estrich schlafen? Du zeigst ihm den Weg, den Riegel, die Vorrichtung mit der Leiter und auch den Schalter, wo man Licht machen kann. Allein in deiner schönen Wohnung eine Zigarette rauchend, denkst du mehrere Male genau das gleiche: Man muss Vertrauen haben, man soll nicht immer gleich das Schlimmste annehmen, wenn man einen Menschen nicht kennt, und warum soll der gerade ein Brandstifter sein! Immerhin nimmst du dir vor ihn morgen wieder auf den Weg zu schicken, freundlich, ohne dass ein Verdacht ihn kränken soll. Du nimmst dir nicht vor kein Unrecht zu tun; das hätte, wie gesagt, zu viele Folgen. Du nimmst dir nur vor freundlich zu sein und ihn auf freundliche Weise wegzuschicken. Du schläfst nicht immer in dieser Nacht; es ist schwül und die Geschichten von wirklichen Brandstiftern, die dir so beharrlich einfallen, sind zu läppisch, ein Schlafpulver gibt dir die verdiente Ruhe ... Und am anderen Morgen, siehe da, steht das Haus noch immer! - Deine Zuversicht, dein Glaube an den Menschen, selbst wenn er im Estrich wohnt, hat sich bewährt. Es drängt dich nicht wenig edel zu sein, hilfreich und gut; beispielsweise mit einem Frühstück. Von Angesicht zu Angesicht, so während ihr den gemeinsamen Kaffee trinkt und jeder sein Ei löffelt, schämst du dich deines Verdachtes, kommst dir schäbig vor, und jedenfalls ist es unmöglich ihn wegzuschicken. Wozu solltest du! Nach einer Woche, wie er noch immer in deinem Estrich wohnt, hast du vollends das Gefühl jede Angst überwunden zu haben, und auch als er eines Tages einen Freund bringt, der ebenfalls in deinem Estrich schlafen möchte, kannst du zwar zögern, aber nicht widersprechen. Zögern; denn es ist einer, der schon einmal, Gott weiß warum, im Gefängnis gesessen hat und eben erst entlassen worden ist. Ihn allein hättest du nie in deinen Estrich gelassen, das ist selbstverständlich. Er ist auch viel frecher als der erste, das macht vielleicht das Gefängnis, und ganz geheuer ist es dir nicht, zumal er, wie er ganz offen gesteht, wegen Brandstiftung gesessen hat. Aber gerade diese Offenheit, diese unverblümte, gibt dir das Vertrauen, das du gerne haben möchtest um Ruhe und Frieden zu haben; am Abend, da du trotz ehrlichem Gähnen nicht schlafen kannst, liest du wieder einmal das Apostelspiel von Max Mell, jene Legende, die uns die Kraft des rechten Glaubens zeigt, ein Stück schöner Poesie; mit einer Befriedigung, die das Schlafpulver fast überflüssig macht, schläfst du ein ... Und am andern Morgen, siehe da, steht das Haus noch immer! - Deine Bekannten greifen sich an den Kopf, können dich nicht verstehen, fragen jedesmal, was die beiden Gesellen in deinem Estrich machen, und liegen dir auf den Nerven, so dass du immer seltener an den Stammtisch gehst; sie wollen dich einfach beunruhigen. Und ein wenig, unter uns gesagt, ist es ihnen auch gelungen; jedenfalls hast du den beiden Gesellen etwas aufgelauert und nicht ohne Erfolg; allein die Tatsache, dass sie kleine Fässlein auf deinen Estrich tragen, kann deinen Menschenglauben nicht erschüttern, zumal sie es in aller Offenheit machen und auf deine scherzhafte Frage, was sie denn mit diesen Fässlein wollten, sagen sie ganz natürlich, sie hätten Durst. In der Tat, es ist Sommer, und im Estrich, sagst du dir, muss es sehr heiß sein. Einmal, als du ihnen im Wege gestanden, ist ihnen ein Fässlein von der Leiter gefallen, und es stank plötzlich nach Benzin. Einen Atemzug lang, gib es zu, warst du erschrocken. Ob das Benzin sei? hast du gefragt. Die beiden ohne ihre Arbeit einzustellen leugneten es auch in keiner Weise, und auf deine eher scherzhafte Frage, ob sie Benzin trinken, antworteten sie mit einer so unglaublichen Geschichte, dass du um nicht als Esel dazustehen wirklich nur lachen konntest. Später jedoch, allein in deiner Wohnung, lauschend auf das Rollen der munteren Fässlein, die nach Benzin stinken, weißt du allen Ernstes nicht mehr, was du denken sollst. Ob sie deine edle Zuversicht wirklich missbrauchen? Eine Weile, dein Feuerzeug in der Hand, die feuerlose Zigarette zwischen den trockenen Lippen, bist du entschlossen die beiden Gesellen hinauszuwerfen, einfach hinauszuwerfen. Und zwar noch heute! Oder spätestens morgen. Wenn sie nicht von selber gehen. Ganz einfach ist es nämlich nicht, im Gegenteil; wenn sie keine Brandstifter sind, tust du ihnen sehr unrecht, und das Unrecht macht sie zu bösen Menschen. Böse gegen dich. Das willst du nicht. Das auf keinen Fall. Alles. Nur kein schlechtes Gewissen. Und dann ist es immer so schwierig die Zukunft vorauszusehen; wer keine Tatsachen sehen kann ohne Schlüsse zu ziehen, und wer sich alles bewusst macht, was er im Grunde weiß, mag sein, dass er manches voraussieht, aber er wird keinen Augenblick Ruhe haben; ganz zu schweigen von den Ahnungen. Die Tatsache, dass sie Benzin in deinen Estrich tragen, was heißt das schon? Der eine, der Freund, hat nur gelacht und gesagt, sie wollen die ganze Stadt anzünden. Das kann ein Scherz sein oder eine Aufschneiderei. Wenn sie es ernst meinten, würden sie es niemals sagen. Dieser Gedanke, je öfter du ihn wiederholst, überzeugt dich vollkommen; das heißt, er beruhigt dich. Und der andere sagte sogar: Wir warten nur auf einen günstigen Wind! Es ist läppisch sich von solchen Reden einschüchtern zu lassen; zu unwürdig. Einen Augenblick denkst du an Polizei. Aber wie du um dich nicht durch falschen Alarm lächerlich zu machen dein Ohr an die Zimmerdecke legst, was keine ganz einfache Veranstaltung gekostet hat, ist es vollkommen still. Du hörst sogar, wie einer schnarcht. Und überhaupt kommt die Polzei nicht in Frage; schon weil du selber strafbar wärest, dass du solche Leute in deinem Hause hast, wochenlang ohne sie anzumelden. Aber vor allem sind es natürlich die menschlichen Gründe, die dich von solchen Schritten abhalten. Warum sagst du den beiden Gesellen nicht einfach und offen, du möchtest kein Benzin in deinem Estrich haben? Offenheit ist immer das beste. Und dann, plötzlich, musst du selber lachen, dass dir dieser Einfall jetzt erst kommt: sie werden doch dein Haus nicht anzünden, wenn sie selber im Estrich sind! Immerhin kletterst du, schon im Pyjama, noch einmal auf den Sessel, auf die Kommode und den Schrank. Er schnarcht wirklich. Eine halbe Stunde später ruhest auch du ... Und am andern Morgen, siehe da, steht dein Haus noch immer! - Die Sonne scheint, der Wind hat gedreht, die Wolken ziehen über die Dächer der Stadt, und gesetzt den Fall, es wären wirklich böse Gesellen, gerade dann ist es nicht einfach sie einfach hinauszuwerfen; nicht ratsam; denn solange du ihr Freund bist, werden sie wenigstens dich verschonen. Freundschaft ist immer das beste! Und wenn du an diesem Morgen hinaufgehst und sie zum Frühstück bitten willst, so ist das nicht Tücke, nicht Berechnung, sondern eines jener herzlichen Bedürfnisse, die man plötzlich hat und die man, wie du mit Recht sagst, nicht immer unterdrücken soll. Die Leiter zum Estrich ist bereits gezogen, die Türe offen, du musst nicht einmal klopfen. Der Estrich, den du aus Rücksicht schon lange nicht mehr besucht hast, ist voll von kleinen Fässlein, und der eine, der Freund, der aus dem Gefängnis, steht eben an der Dachluke, hält den nassen Finger hinaus um die Windrichtung festzustellen; der andere ist leider schon ausgegangen, komme aber wieder. Mit deinem Frühstück ist es also nichts. Er komme aber bestimmt im Laufe des Tages, sobald er, wie der Freund in seiner immer etwas scherzhaften Art sagt, die erforderliche Holzwolle beisammen habe. Holzwolle? Es fehlte nur noch, dass er von einer Zündschnur redete. Einen Augenblick bist du wieder etwas verwirrt, etwas betreten, was du allerdings nicht zeigen willst. Im Grunde, das weißt du, kann kein Mensch so frech sein, wie dieser sich den Anschein gibt, nur weil er meint, du fürchtest ihn. Ein für allemal entschlossen dich nicht zu fürchten, entschlossen deine Ruhe und deinen Frieden zu erhalten, tust du, als hättest du nichts gehört, und im übrigen, was das Frühstück betrifft, kann das ja auch ein andermal sein. Deine freundschaftliche Geste ist schon als solche nicht wertlos. Vielleicht zum Abendbrot. Mit Vergnügen, sagt der Kauz, sofern sie Zeit hätten und nicht arbeiten müssten; das hänge vom Wind ab. Er ist wirklich ein Kauz. Und natürlich bist du nun nicht wenig neugierig, ob sie tatsächlich zum Abendessen kommen, ob sie deine Freundschaft überhaupt wollen. Vielleicht hättest du deine Freundschaft schon früher bekunden sollen. Aber lieber jetzt, sagst du, als zu spät! Mit Recht vermeidest du ein allzu besonderes, ein auffälliges Abendessen; immerhin holst du einen Wein aus dem Keller um ihn für alle Fälle kühl zu stellen. Leider kann man am Abend, als sie gegen neun Uhr endlich kommen, nicht mehr auf der Terrasse sitzen; es ist zu windig. Ob er Holzwolle gefunden habe? fragst du um dem Gespräch bald eine persönliche Note zu geben. Holzwolle? sagt er und schaut den Freund an, wie man einen Verräter anschaut. Dann, Gott weiß warum, musst du selber lachen, und schließlich lachen sie auch. Holzwolle, nein, Holzwolle habe er nicht gefunden, aber etwas anderes, Putzfäden aus einer Garage. Gefunden: dass das nichts anderes heißt als gestohlen, daran kannst du nicht zweifeln. Überhaupt haben sie sehr eigene Ansichten betreffend Recht und Unrecht. Nach der ersten Flasche, du hast den Wein nicht umsonst gekühlt, erzählst du, dass du auch schon Unrecht begangen hast. Da sie schweigen, erzählst du mehr und mehr, indem du, ihre Freundschaft ist es dir wert, die zweite Flasche entkorkst. Offensichtlich fühlen sie sich wie zu Hause; der Freund, der Frechere, dreht deinen Rundfunk an um den Wetterbericht zu hören. Dann wünschen sie nur noch eines: Streichhölzer. Nichts wäre verfehlter, als wenn du jetzt wieder zusammenzucktest; auf Verdacht ist keine Freundschaft aufzubauen. Wozu Streichhölzer? Es gelingt dir jedes beleidigende Zittern zu vermeiden und Zigaretten anzubieten, als ginge dir nichts durch den Kopf, und dann, das ist kein schlechter Einfall, bietest du Feuer mit deinem eigenen Feuerzeug, das du nachher wieder in die Tasche steckst. Das Gespräch geht weiter, das heißt, sie hören zu, sehen dich an und trinken Wein. Dein ehrliches Geständnis, wieviel Unrecht du begangen hast, rührt sie nicht mehr, als es die Höflichkeit verlangt; überhaupt wirken sie sehr geistesabwesend. Eine dritte Flasche, die du schon zwischen den Knien hast, lehnen sie ab. Da du sie trotzdem öffnest, wirst du sie allein trinken müssen. Nur beim Abschied, als du gewisse Hoffnungen ausdrückst, dass die Menschen einander näher kommen und einander helfen, bitten sie dich nochmals um Streichhölzer. Ohne Zigaretten. Du sagst dir mit Recht, dass ein Brandstifter, ein wirklicher, besser ausgerüstet wäre, und gibst auch das, ein Heftlein mit gelben Streichhölzern, und am andern Morgen, siehe da, bist du verkohlt und kannst dich nicht einmal über deine Geschichte wundern.
Entstehungsgeschichte
lange Vorgeschichte, Idee aus dem Jahre 1948;
entstanden aus einer "Burleske" genannten Prosaskizze aus dem "Tagebuch 1946-1949" des Autors historisches Ereignis, das zu der Zeit stattfand: Umsturz in der Tschechoslowakei, Entstehung einer sozialistischen Volksrepublik CSSR;
ursprünglicher politischer Hintergrund, doch Modellcharakter des Stücks für alle möglichen politischen Ereignisse, natürlich auch für den Nationalsozialismus;
geschildert wird die Entwicklung eines "Völkerbrandes"
1953: Umarbeitung des Stoffes zu einem Hörspiel: "Herr Biedermann und die Brandstifter" (Uraufführung im Bayerischen Rundfunk)
1958: Uraufführung des "Lehrstücks ohne Lehre" mit dem Titel "Biedermann und die Brandstifter" am Zürcher Schauspielhaus
Handlung
Gottlieb Biedermann stellt sich in dem Einakter als typischer Kleinbürger dar, selbstgerecht und auch selbstbewusst, zugleich feige, verlogen und bei aller nach außen vorgetäuschten Menschlichkeit im Innersten inhuman. Er ist Haarwasserfabrikant und dabei sehr reich geworden. Während er bei seiner häuslichen Zeitungslektüre über die andauernden Brandstiftungen schimpft, kommt ein Hausierer, Schmitz, keineswegs eine vertrauenerweckende Erscheinung. Schmitz dringt in die Wohnung vor und lädt sich praktisch selbst ein, indem er Biedermann an seine Menschlichkeit erinnert. Wenig später wird diese "Humanität", die wegen der versteckten Drohungen von Schmitz aus Feigheit geboren wurde, Lügen gestraft, als Knechtling, ein entlassener Angestellter von Biedermann, Gewinnbeteiligung an dem Haarwasser, seiner eigenen Erfindung, fordert. Er wird hinausgeworfen. Schmitz wird auf dem Dachboden Asyl gewährt. Auch die zunächst empörte Frau Biedermann schafft es nicht, Schmitz die Bleibe aufzukündigen, nachdem er an ihre Sentimentalität erinnert hat. Zugleich kommt ein Freund von Schmitz, der ehemalige Kellner Willi, der ebenfalls in den Dachboden zieht. Herr Biedermann bemerkt, wie beide Benzinfässer auf dem Estrich stapeln, tobt deswegen zunächst auch, lässt sich jedoch durch die rückhaltlose Offenheit der beiden überrumpeln. Er redet sich selbst wider besseres Wissen ein, niemand würde eine derartige Wahrheit wirklich aussprechen. Vor der Polizei, die den Selbstmord Knechtlings meldet, macht sich Biedermann aus schlechtem Gewissen zum Komplizen der beiden. Er behauptet, in den Fässern sei Haarwasser. Während Schmitz und Willi auf dem Boden weiter ihre Vorbereitungen zum Brandstiften treffen, überdeckt Biedermann seine blanke, aber durchaus gerechtfertigte Angst mit wortreicher Zuversicht und den Sprüchen von Ruhe und Frieden sowie vom Vertrauen in die Menschheit. Als letztes Hilfsmittel fällt ihm nur noch ein, sich mit den Gangstern auf immer vertrauteren Fuß zu stellen, sie schließlich zum Abendessen einzuladen und sich mit ihnen zu duzen. Dabei gibt Biedermann den Ganoven auch noch die Streichhölzer, da sie - wie er trotz seiner Furcht und seiner Einsicht argumentiert - selbst Streichhölzer hätten, wenn sie Brandstifter wären. Er kommt gemeinsam mit seiner Frau in den Flammen des Feuers um, das Schmitz und Willi Eisenring noch in derselben Nacht legen. Zuvor tritt noch ein Intellektueller als dritter Verbündeter auf, der zum Schluss ein Manifest gegen die beiden verliest, da er feststellen muss, dass sie nicht aus Ideologie, sondern aus reinem Gefallen brennen. Immer wieder tritt der Chor der Feuerwehrleute auf, die dem Treiben entsetzt zusehen und dem Zuschauer von Anfang an sowohl den Ausgang deutlich machen als auch die Sinnlosigkeit von Biedermanns Tun vor Augen führen. Bereits zu Beginn wird durch den Chorführer klargestellt, dass es nicht Schicksal ist, was Biedermann zu erleiden hat, sondern sinnloser und gefährlicher Blödsinn. Der Haarwasserfabrikant Jakob Biedermann sitzt im Wohnzimmer und kommentiert empört Zeitungsmeldungen über erneute Feuersbrünste durch die Brandstifter. Da erscheint Josef Schmitz. Sentimental und falschfreundlich bittet er um Asyl im feuergefährlichen Speicher Biedermanns. Mit geschickter Manipulation des Sicherheitsdenkens, Egoismus, Misstrauens und schlechten Gewissens Biedermanns gelingt ihm, den Fabrikanten zu überreden. Biedermann, im Geschäftlichen kalt und rücksichtslos, wird Opfer seines Konformismus - aus Angst, den Verbrecher zu vergrämen. Mit einem Komplizen zieht der ein, und die beiden beginnen sofort ihr Werk. Sie schaffen Benzinfässer und Zündmaterial heran, das Unglück nimmt seinen Lauf. Für Biedermann ist es zu spät für Einsicht und Handeln, er hat das Nahen des Bösen nicht erkannt. Max Frisch zeigt in dieser Parabel das allmähliche Eindringen der Anarchie in das Bürgertum, das Versagen feigen konformistischen Denkens gegenüber der Realität des Bösen.
Die sechs Szenen
Personen der Handlung
Herr Biedermann, Babette, seine Frau
Schmitz, ein Ringer
Eisenring, ein Kellner
Anna, ein Dienstmädchen
ein Dr. phil.
Witwe Knechtling
der Chor, bestehend aus Männern der Feuerwehr
Ort der Handlung
Biedermanns Stube Dachboden leere Bühne
Beginn: Aufflammen eines Streichholzes;
Biedermann zündet sich eine Zigarre an
(bürgerlich-biedermännisches Gehabe)
Einstimmung in das Thema
"Aber nicht alles, was feuert,
ist Schicksal, Unabwendbares ...
Nimmer verdient, Schicksal zu heißen,
bloß weil er geschehen: Der Blödsinn,
Der nimmerzulöschende einst!" (9)
Exkurs
DER CHOR IN DER ANTIKEN TRAGÖDIE
"Chor" (griech. Tanzplatz, Tanz, Reigen mit Gesang, schließlich die ihn aufführenden Personen), Zusammenfassung gleichartiger Personen, die durch Zusammenklang ihrer Stimmen bei Gesang oder Sprechvortrag eine Einheit bilden und als solche dem Einzelhelden der dramatischen Handlung betrachtend, deutend und wertend ("idealisierter Zuschauer") gegenüber stehen oder auch in den Vorgang selbst eingreifen. Das griechische Drama erwuchs aus den kultischen Festspielen des Chores anlässlich der Dionysien (Festspiele zu Ehren des Gottes Dionysos); ursprünglich reiner Gesangsvortrag, später begleitet von Instrumenten und Tänzen; danach Einschalten von Einzel- und Wechselrede (politische und gesellschaftliche Ereignisse) und Rede/Gegenrede von Chor und einem Schauspieler; Aischylos erweiterte durch Einführung eines zweiten Schauspielers; später mehrere Schaupieler; Aufgabe des Chors: Begleitung, Kommentierung der Handlung
Erste Szene
Biedermanns Stube
Biedermann, der Spießbürger
- "sprechender Name"
- die ersten Sätze als Exposition des gesamten Stücks (10)
- Stammtischparolen
- Tarnung der Angst mit "Menschlichkeit"
- Entlarvung dieser Haltung durch das Erscheinen Knechtlings (anonym) (19)
Die Brandstifter
- zu allem entschlossen
- vgl. Regieanweisung (11)
- durchaus keine vertrauenerweckende Erscheinung
- sanfte Hinweise auf den Ringerberuf
- psychologisches Raffinesse (Appell an B.s Menschlichkeit)
- scheinbare Unterwürfigkeit
- offenkundige Unverschämtheit
Chor
ironischer Kommentar zu dieser Szene (22,23)
Wehe, in nervenzerrüttetem Zustand
Schlaflos-unselig
Seh ich die Gattin.
(...)
Aber ein Anruf kam nicht.
Zweite Szene
Babette/Schmitz
"Blinder als blind ist der Ängstliche,
Zitternd vor Hoffnung, es sei nicht das Böse,
Freundlich empfängt er's,
Wehrlos, ach, müde der Angst,
Hoffend das beste ...
Bis es zu spät ist." (32/33)
Biedermanns Angst
- ständig und überall greifbar; das Grundmotiv seines Handelns den Brandstiftern gegenüber
- die Angst, Macht, Ansehen und Einfluss zu verlieren (Knechtling)
Biedermanns Hoffnung
- es sind keine Brandstifter (24)
- Vertrauen (24) vgl. Anfangszitat!
- sie gehen von selbst (25/26)
- Bestechung durch "Menschlichkeit" (27)
das Böse in den Brandstiftern
- sie sagen von Anfang an mit brutaler Offenheit die Wahrheit
- Psychoterror
- sie durchschauen Biedermann, weil sie die Art Menschen kennen und stets benutzen
- Mitleidstour, Tränendrüse
- Ironie/Sarkasmus
Dritte Szene
Biedermann/Brandstifter
"Klug ist und Herr über manche Gefahr,
Wenn er bedenkt, was er sieht,
Der Mensch.
Aufmerkenden Geistes vernimmt er
Zeichen des Unheils
Zeitig genug, wenn er will."
Zeichen des Unheils
- Schmitz und Eisenring, die Brandstifter
- die Benzinfässer
- der Polizist ("Jeder Bürger ist strafbar...")
- Lüge vor der Polizei
- die Zündkapsel
- die Putzfäden
Folge
- Verdrängungsprozess
- Angst
- Feigheit
- Eitelkeit
- listiges Einschmeicheln
Dieser Abschnitt kann parabelhaft auf das alltägliche Leben unserer Zeit übertragen werden. Auch bei uns gibt es viel zu viele Menschen, die wie Biedermann die Fehler anderer kritisieren, selbst aber nicht besser sind. In dieser Szene wird Biedermann wiederholt auf das drohende Unheil hingewie- sen. Er registriert zwar die Hinweise, versucht sie jedoch zu verdrängen. Der Verdrängungsprozess weist darauf hin, dass Biedermann eine charakterschwache Person ist. Er markiert gegenüber den Brandstiftern den Willensstarken, in Wirklichkeit ist er willensschwach und lässt sich leicht beeinflus- sen. Er zeigt die typischen Merkmale eines Opportunisten. Dem Gesetz gegenüber ist er nur ein kleiner Spießbürger.
Die Brandstifter kennen diese Art von Menschen genau, wissen, wie man mit ihnen umzugehen hat, und nutzen dies stets aus.
Die Ironie dieser Szene besteht darin, dass die Brandstifter Biedermann jeden ihrer Schritte mitteilen. Er kann das Gesetz nicht einschalten, da die Lagerung von Benzinfässern in dieser Zeit der Brandstiftungen verboten ist.
Vierte Szene
Biedermann/Eisenring
"Scherz ist die drittbeste Tarnung. Die zweitbeste: Sentimentalität. Was unser Sepp so erzählt: Kindheit bei Köhlern im Wald, Waisenhaus, Zirkus und so. Aber die beste und sicherste Tarnung (finde ich) ist immer noch die nackte und blanke Wahrheit. Komischerweise. Die glaubt niemand." (54)
Die Wahrheit
- Holzwolle
- Zündkapsel
- Gefängnis
- Zündschnur
- "Man muss die Richtigen finden" (57)
CHOR
"Einer mit Brille Sohn wohl aus besserem Haus
(...)
Putzend die Brille, um Weitsicht zu haben
Sieht er in Fässern voll Brennstoff
Nicht Brennstoff -
Er nämlich sieht die Idee!
Bis es brennt.
Fünfte Szene
Biedermann versucht immer noch verzweifelt, seine Haut zu retten; (63);
er verschließt sich vor den Realitäten; ein Abendessen (typisch Kleinbürger) soll die Wende bringen, allerdings ist er sich über den äußeren Ablauf nicht im klaren;
er fürchtet, von den Brandstiftern als Protz angesehen zu werden und drängt auf Schlichtheit (64), auch damit die Verbrecher seine Bestechungsabsicht nicht erkennen;
das Motiv der "Menschlichkeit, Brüderlichkeit" (64) wird wieder aufgenommen;
vgl. Verhalten B.'s gegen die Witwe Knechtling (63)
B. versteigt sich zu Erlösungsphantasien (65), vgl. "Jedermann";
Rechtfertigungsdruck (67)
vgl. "Andorra", Zeugenaussagen
Sechste Szene
das einzige, was B. den Brandstiftern entgegenzusetzen hat, sind seine eigene Verlogenheit, sein missglückter Humor, seine Verdrängung von Problemen und seine daraus resultierende Verzweiflung, die aus der Einsicht entsteht, am Ende zu sein (68 ff)
die Brandstifter durchschauen ihn jedoch (wie immer) und treiben ihr Spiel mit ihm; sie fordern alleAccessoires, auf die er vorher absichtsvoll verzichtet hat
die einzige, die sich unbehaglich fühlt und teilweise Widerstand leistet, ist Babette vgl. "Jedermann"-Szene
Hugo von Hofmannsthal (1874 - 1929): Jedermann
Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes
entstanden 1903 - 1911, anlässlich der Salzburger Festspiele am 22.08.1920 auf dem Domplatz der Stadt uraufgeführt
Inhalt
Nachdem ein Herold das "geistlich Spiel" von der "Vorladung Jedermanns" angekündigt hat, beginnt das Vorspiel: Gott der Herr, der einen Gerichtstag halten will über alle Menschen, die durch die ständige Missachtung seiner Erlösungstat und seiner Gebote "in Sünd ersoffen" sind, beauftragt den Tod, Jedermann vor den göttlichen Richterstuhl zu bringen, damit er Rechenschaft ablege über sein irdisches Leben. - Der Anfang des Hauptteils zeigt Jedermann als besitzstolzen und selbstgerechten Verwalter seines Reichtums, der freimütig bekennt, in der Macht des Geldes die höchste Gewalt zu verehren. Bedrückende Begegnungen mit dem verarmten Nachbarn, dem Knecht (einem Schuldner Jedermanns) und der Mutter (die die Gedanken ihres Sohnes mahnend auf die Forderungen und Verheißungen Gottes lenken möchte) haben Jedermann in eine düstere Stimmung versetzt; sie weicht erst wieder, als seine Geliebte, "Buhlschaft", umgeben von Spielleuten und Freunden erscheint, um alle zu seinem festlichen Bankett zu versammeln. Aber auch jetzt kann Jedermann nicht unbekümmert an der Ausgelassenheit seiner Gäste teilnehmen, und alle Versuche, ihn durch Späße, Lieder und kräftig gewürzten Wein aufzuheitern, bleiben ohne anhaltende Wirkung. Von der wachsenden Verstörtheit und den Vorahnungen Jedermanns angekündigt, erscheint mitten im Trubel des Festes der Tod und fordert Jedermann auf, ihm vor Gottes Thron zu folgen. Das einzige, was er sich noch ausbitten kann, ist eine kleine Frist, in der er einen Gefährten für seinen letzten Weg suchen will. Aber weder sein ihm bisher scheinbar so bedingungslos ergebener Freund noch seine beiden Vettern sind bereit, ihn zu begleiten. Buhlschaft und die anderen Gäste haben bereits beim Erscheinen des Todes fluchtartig das Fest verlassen. Da lässt Jedermann seine Schatztruhe holen, damit er auch auf der letzten Strecke seines Lebens nicht auf Macht und Selbstsicherheit verzichten muss. Der Truhe aber entsteigt "Mammon" und klärt Jedermann mit derselben zynischen Offenheit, mit der dieser sich einst zur Macht des Geldes bekannt hat, über das wahre Verhältnis von Besitzendem und Besessenem auf: Nicht Jedermann ist durch den Besitz des Geldes in den Rang einer "kleinen Gottheit" erhoben, Mammon selbst ist der Gott, der unerkannt von Jedermanns Seele Besitz ergriffen hat. Von allen Freunden verlassen und aller zeitlichen Güter beraubt, macht sich Jedermann auf den Weg zum Gericht Gottes, nur von seinen gebrechlichen "Werken" und deren Schwester "Glaube" begleitet. Die Werke freilich sind zu schwach, um Jedermanns Sache wirksam zu vertreten. Erst nachdem Glaube ihm den Sinn für die Erlösungstat Gottes wirksam erschlossen hat, fällt auch von den Werken die Schwäche ab, so dass beide ihn dem Zugriff des Teufels entziehen können - kraft des Opfertodes Christi, der "Jedermanns Schuldigkeit" bereits für alle Ewigkeit "vorausbezahlt" hat. Unter den zuversichtlichen Worten Glaubes und dem Gesang der Engel steigt Jedermann an der Seite seiner Werke ins Grab.
Personencharakteristik
Gottlieb Biedermann
- Prototyp des heuchlerischen Spießers
- Reden schwingend
- Phrasen dreschend
- zigarrerauchend
- regelmäßige Stammtischbesuche
- moralische Sprüche ohne überlegten Hintergrund
- im Grunde ein geschäftlicher Betrüger
- verschwommene moralische Grundsätze
- hartherzig und egoistisch
- beansprucht, mitfühlend und barmherzig zu sein
- plädiert gegen das Misstrauen, hegt es aber von Anfang an
- Angst und Verzagtheit
- ohne wirkliches Rückgrat, weder privat noch geschäftlich
- Stärke nur gegen Schwächere (Angestellte, Dienstmädchen, Ehefrau)
- Dummheit
- geistig völlig unselbständig
- vgl. Gespräche mit den Ganoven, die ihn ständig überfahren und in hilflos erscheinen lassen
- Ehrgeiz
- Streben nach Beliebtheit und Ansehen
- Mitgliedschaft in der Partei
- immer auf der Seite der Stärkeren
Biedermann als der unverbesserliche, charakterlose Schwächling, der mit seinen Artgenossen zusammen die meisten Katastrophen dieser Welt dadurch herbeiführt, dass er zunächst seinen Vorteil daraus ziehen, dann aber nichts mehr damit zu tun haben will und sich aus der Verantwor- tung stiehlt
Babette
- weibliches Gegenstück ihres Mannes
- ängstlich darauf bedacht, nicht als Spießer zu gelten
- Beachten von Äußerlichkeiten und Konventionen
- falsche Barmherzigkeit
- Sentimentalität
- wahres Mitleid kann sie nicht zeigen (Knechtling)
- dennoch sympathischer als ihr Mann
- nicht ganz so verlogen wie Gottlieb
- lässt ihre Angst deutlicher erkennen
- Unterschied der Geschlechter:
- eine Frau darf zeigen, dass sie Angst hat
- deutlicheres Erkennen des Geschehens
- kein eigenes Handeln, doch Tadel für ihren Mann
- zeigt Gewissen
- verurteilt das Reichen der Streichhölzer
- zieht nicht die richtigen Konsequenzen
- wird deshalb mitschuldig
- die typische Kleinbürgersfrau
- ein reines Anhängsel ihres Mannes
- im Grunde überflüssig
- kommt in der "Burleske" gar nicht vor
Schmitz und Eisenring
das leibhaftige Böse
vgl. Nachspiel in der Hölle
beide spekulieren mit der Schwäche derjenigen Menschen, die glauben und hoffen, dass "nicht sein kann, was nicht sein darf"; Vorbereitungen und Pläne laufen ohne Hindernis ab; sie haben es nicht einmal nötig, sich mit Biedermann und seiner Frau zu verbrüdern; sie wahren ihre Eigenheiten und sind die einzigen Hauptpersonen, die nicht verlogen sind; nach ihrer Methode wird das Böse immer wieder Fuß fassen können Schmitz grob, naiv, plumpvertraulich, manchmal direkt gutmütig; um eine sentimentale Lügengeschichte nie verlegen; macht ein Geschäft aus seinem schlechten Benehmen, für das er anderen Menschen einen Schuldkomplex auflädt; kalkuliert mit dem falsch verstandenen Mitleid; wahrhaftig Eisenring gute Manieren, raffinierter in seiner Bosheit; weiß auf der Tastatur der menschlichen Gefühle meisterhaft zu spielen; Eitelkeiten wie Ängste; eigentlich nicht klug, nur geschickt; die Mitmenschen machen ihm die Verwirklichung seiner Ziele leicht; ebenso grausam und brutal wie sein Kumpan
Anna
dümmliche, pflichtgetreue Person, die in Biedermanns Haushalt passt; völlig farblos; tut, was man ihr sagt, auch wenn sie sich dabei wundert; sie lacht nur ein einziges Mal: bei dem vulgären und albernen Liedchen in der 6. Szene; stellvertretend für die Masse der Mitläufer, die zwar selbst nicht aktiv werden, aber auch nichts verhindern; alles Geschehen prallt von ihr ab und zieht sie mit in das Verhängnis
Dr. phil.
der Intellektuelle, für den der Zweck die Mittel heiligt; fanatisch und von der Idee besessen, wird er zum Mittäter; seine Brille, die ihm Weitsicht verleihen soll, gibt ihm nicht die Fähigkeit, die Folgen zu durchschauen; er ist über alle Vorgänge informiert, erkennt aber nicht, dass nach dem "Brand" seine Idee auf verbrannte Erde fallen muss; vor allem aber entgeht ihm, dass Schmitz und Eisenring, die Verkörperung des Bösen, nicht um einer Idee willen, sondern aus purer Lust am Brennen vorgehen; die Einsicht in seinen Fehler kommt zu spät; seine umständliche Rechtfertigung geht im Lärm des sich ankündigenden Unheils unter; er drückt sich vor der Verantwortung, indem er sich in die Position des Beobachters begibt; welcher Art seine Idee ist, wird nicht mitgeteilt, weil dies ohne Belang ist
Interpretation
Lehrstück ohne Lehre
- Modell für die Gefährlichkeit der politischen Dummheit des Bürgers
- Bequemlichkeit, wenn es heißt, gegen Mächtigere etwas zu unternehmen
- Neigung, gegen besseres Wissen zum Mitläufer zu werden und damit zum Mitschuldigen
Der politische Hintergrund
- Der Umsturz in der Tschechoslowakei 1948
darüber hinaus übertragbar auf viele Ereignisse im politischen, gesellschaftlichen, bisweilen auch im privaten Rahmen:
- Die Herrschaft der Nationalsozialisten
- Hitler hat alle seine Taten in "Mein Kampf" angekündigt
- Die atomare Bedrohung
- Der "Weltbrand", für den viele Militärs und Politiker die Lunte zu legen bereit sind (vgl. Zusammenarbeit deutscher Firmen mit Iran, Irak, Libyen
- Die demokratische Duldsamkeit
- Die Umstürzler von rechts und von links sitzen mit uns an einem Tisch ("Es ist ja alles nicht so schlimm")
- vgl. "Großer Lauschangriff"
- vgl. Rechtsradikalismus
- Die Bedrohung durch moderne Technologien (vgl. Kernenergie, Gentechnologie )
ein Stück ...
- von der Gefahr, die von der geduldigen Natur des Bürgertums kommt
- von dem Unheil, das in der mittelständischen Gemütlichkeit gedeiht
- von der Sattheit der Menschen, die sich mit Silber, Gänsebraten, Leuchten, Tischdecken, gutem Wein und Zigarren umgeben
- von der Unruhe, die von Menschen ausgeht, die "in Ruhe und Frieden" gelassen werden wollen ("Ruhe ist die erste Bürgerpflicht")
- von der Dummheit dessen, der sieht und nicht sehen will
- von der Feigheit dessen, der aus lauter Angst vor einem bißchen Macht sich selbst in die völlige Selbstaufgabe treibt und damit einer viel größeren Macht den Weg bereitet
- von der Leichtfertigkeit dessen, der mit moralischen Urteilen um sich wirft, ohne als Weltanschauung mehr zu besitzen als seine kleinbürgerliche Gemütlichkeit
- von der verlogenen Eitelkeit, die die letzten Einsichten zunichte macht
- vom Unglück, das geschieht, obwohl es hätte vermieden werden können
- vom Intellektuellen als geistigen Wegbereiter des Bösen insgesamt eine äußerst pessimistische Perspektive
Lehrstück ohne Lehre
Frisch glaubt nicht (im Gegensatz zu Brecht), dass von diesem Stück eine Wirkung ausgehen wird; die "Helden" der Handlung sind unbelehrbar; der Autor sieht sich als Prediger vor tauben Ohren; möglicherweise soll der Titel aber auch provokativ gemeint sein und auf Umwegen zum Handeln führen; der Pessimismus ist im "Nachspiel" konsequent zu Ende gedacht: Biedermann fordert nur Gnade und Wiedergutmachung
"Die Erkenntnis-Vorstöße, die unser Jahrhundert bewegen, verdanken wir nicht der Literatur."
Christian Morgenstern: Die unmögliche Tatsache
Palmström, etwas schon an Jahren,
wird an einer Straßenbeuge
und von einem Kraftfahrzeuge
überfahren.
"Wie war" (spricht er, sich erhebend
und entschlossen weiterlebend)
"möglich, wie dies Unglück, ja -:
dass es überhaupt geschah?
Ist die Staatskunst anzuklagen
in bezug auf Kraftfahrwagen?
Gab die Polizeivorschrift
hier dem Fahrer freie Trift?
Oder war vielmehr verboten,
hier Lebendige zu Toten
umzuwandeln, - kurz und schlicht:
Durfte hier der Kutscher nicht - ?
Eingehüllt in feuchte Tücher,
prüft er die Gesetzesbücher
und ist alsobald im klaren:
Wagen durften dort nicht fahren!
Und er kommt zu dem Ergebnis:
Nur ein Traum war das Erlebnis.
Weil, so schließt er messerscharf,
nicht sein kann, was nicht sein darf.
Aufsatzthema
Weise nach, wie das Zusammenwirken Biedermanns mit den Brandstiftern die Katastrophe herbeiführt. Welche allgemeingültige Aussage trifft der Autor Deiner Meinung nach mit diesem Text?
Referate
MAX FRISCH
Michael Schöpfel, Dirk Schulze
Hegau Gymnasium
Singen a. Htwl.
Schweizer Schriftsteller; Dr. phil. h.c. geb. 15. Mai 1911 in Zürich gest. 4. April 1991 in Zürich Max Frisch wurde am 15. Mai 1911 in Zürich als Sohn eines Architekten geboren. Nach dem Kantonalen Realgymnasium in Zürich studierte er 1930-33 Germanistik an der Universität Zürich. Aus finanziellen Gründen brach er dieses Studium nach dem Tode seines Vaters 1933 ab. Später, von 1936-41, studierte er Architektur an der ETH Zürich. Geschrieben hatte Frisch schon als Schüler, ein erster Roman, "Jürg Reinhart", war 1934 entstanden. 1937 verbrannte er, entschlossen mit eigener Literatur aufzuhören, alle bis dahin entstandenen Manuskripte. Ab 1931 als freier Journalist tätig, verfasste Frisch vor allem für die "Neue Züricher Zeitung" Berichte über Reisen durch Deutschland, die Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien, die Türkei, Griechenland und Italien. 1942 eröffnete der diplomierte Architekt Frisch ein Büro in Zürich und gewann im selben Jahr den ersten Preis in einem städtischen Wettbewerb um eine große Freibadanlage "Letzigraben" in Zürich. Das Schreiben hatte der Architekt Frisch nicht aufgegeben und als Autor in den 50er Jahren bereits soviel Beachtung gefunden, dass er 1955 sein Architektenbüro auflösen und als freier Schriftsteller leben konnte. Seinen Durchbruch schaffte er mit der Veröffentlichung des Romans "Stiller" im Jahre 1954. Sein Prosa-werk - Romane, Tagebücher und Erzählungen - war auch für ein junges Publikum attraktiv, "Stiller", "Homo faber" und "Mein Name sei Ganten-bein" fanden nicht nur beim Publikum, sondern ebenso in der Forschung nachhaltig Resonanz. Die Theaterstücke "Biedermann und die Brandstifter" und "Andorra" zählten zu den meistgespielten deutschsprachigen Dramen dieses Jahrhunderts. In den 60er Jahren, als Frischs Ruhm überwältigend war, fehlte nur noch Amerika; aber in den USA, wo sein Freund und Konkurrent Dürrenmatt Erfolg hatte, fiel Frisch durch. "Ein brüderliches Genie" nannte Joachim Kaiser den großen Schweizer Schriftsteller, der die Sorgen und Ängste aller wachen Zeitgenossen mitempfand, und als Autor in die Gültigkeit kleiner und großer Meisterwerke umzusetzen wusste. "Umkreist und entfaltet war in seinen Dramen und Romanen stets die Identitäts- Problematik, das seiner selbst nicht mächtige Ich, das im Verhältnis zum Gegebenen - der Heimat, dem "anderen Geschlecht" - Befremdung wahrnahm, Distanz gewann und sich in aufregenden Fragen und bohrenden Antworten bekundete." "Ich schreibe, um zu bestehen", lautete ein Bekenntnis dieser unbestechlichen Autorenpersönlichkeit, die auf eine Erklärung für die immensen Erfolge angesprochen, darauf verwies, dass die meisten Sachen, die er gemacht habe, mit einer eigenen Betroffenheit verbunden waren - wie in "Montauk" zum Beispiel, der sehr eng am eigenen Leben und am Zeugnis der Epoche geführten Erzählung. Sie war als Abschluss geplant, als ein "Vermächtnis", wie Frisch sagte, in einer Gemütsverfassung der Versöhnlichkeit und Angstfreiheit geschrieben. Er schuf dennoch eine späte Prosa wie "Der Mensch erscheint am Holozän", Bericht aus der schwindenden Welt eines Vereinsamten und Sterbenden, von der Sprache wie vom Aufbau her, so François Bondy, "sein kühnstes Werk und nicht eine Koda." Das neue Theater deutscher Sprache war ohne Frisch und Dürrenmatt nicht zu denken. Deutsche Emigranten wie Kurt Hirschfeld und Kurt Horwitz hatten den jungen Schweizer Autoren einst Förderungen, Ermutigung und einen Raum gegeben. So war es Hirschfeld - später Direktor des Züricher Schauspielhauses - der den Erzähler Frisch aufforderte, es mit der Bühne zu versuchen. Und das Züricher Schauspielhaus der Emigrationszeit und der ersten Nachkriegsjahre hat ihm, so bekundete Frisch, die Schweiz heimatlicher gemacht. Oft hob der Dramatiker Frisch diese Bereicherung und die Dankesschuld gegenüber den Verfremdeten und im Land des Asyls Bedrängten hervor - bei der Feier für den verstorbenen Hirschfeld ebenso wie bei der Entgegennahme des Büchnerpreises 1958. Theater schien ihm später kein produktiver Weg mehr, sondern Sackgasse. "Triptychon" (1979 als Hörspiel von Walter Adler inszeniert), das zunächst nicht freigegebene Bühnenwerk, war die vorletzte Premiere eines Frisch - Theaterstückes; die letzte Uraufführung fand im Oktober 1989 in Zürich statt: Seine Streitschrift "Schweiz ohne Armee? Ein Palaver" hatte Frisch unter dem Titel "Jonas und sein Veteran für die Bühne umgearbeitet. In die Politik hatte sich Frisch nach 1945 oft eingemischt, von Selbstzweifeln war sein Engagement dabei nicht frei. Die fragende und kritische Haltung, die seine Literatur kennzeichnete, war auch der Gestus seiner Reden, Kommentare und Wortmeldungen. Gewissheiten verkündete er keine. Das Verhältnis zwischen ihm, der - so Joachim Kaiser - "dem Systemzwang ferner als andere Dichter unserer Zeit" stand, und einem großen Teil der Schweiz war nicht zuletzt deshalb ein eigentümliches geblieben. Dieses Verhältnis war nicht selten von besonderer Empfindlichkeit und Verletztheit beider Seiten gekennzeichnet. Dass sich das Urteil des Unangepassten verschärft hatte, machte u.a. der Vergleich über die Bücher der Dienstzeit "Blätter aus dem Brotsack" (70) und "Dienstbüchlein" (74) offenbar. Ermutiger, Vorläufer und Freund den ei-nen, blieb der Kritiker der "real existierenden Demokratie" den anderen immer ein "unsicherer Kantonist". Seine Veröffentlichung "Schweiz ohne Armee? Ein Palaver," 1989 vor den Festlichkeiten zum 50. Jahrestag der Mobilmachung und der Volksbefragung über die Abschaffung der Armee erschienen, war ihnen noch einmal Beleg dafür. An den 700-Jahrfeierlichkeiten seines Landes 1991 nahm Frisch nicht teil und verwies zur Begründung seiner Verweigerung auf die Tatsache, dass er 43 Jahre lang vom Schweizer Staatsschutz observiert worden sei. Die letzten Jahre lebte Frisch, der an einem schmerzhaften Krebsleiden erkrankt war, zurückgezogen in Berzona im Tessin. Er nahm 1989/90 noch zustimmend an der Verfilmung seines Romans "Homo faber" durch Volker Schlöndorff teil (Kinostart 1991) und wertete als eine seiner letzten Arbeiten voller Zorn seine Staatsschutzakten aus. Im Winter 1990, nach dem Abschied von Berzona, hatten Frischs Kräfte nachgelassen. Der Tumor, an dem er erkrankt war, nahm rasch an Bedrohlichkeit zu, immer weniger klare Momente waren ihm zuletzt vergönnt. Was seine nahen Freunde und Angehörigen seit langem schmerzlich erwarteten, wusste auch Frisch nur zu genau: dass er seinen 80. Geburtstag am 15. Mai 1991 nicht mehr erleben würde. Frischs Werke wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Georg- Büchner-Preis 1958, dem Literaturpreis der Stadt Jerusalem, dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und dem Heine-Preis 1989. Ebenso wurden ihm mehrere Ehrendoktortitel verliehen. 1980 wurde die Max-Frisch-Stiftung in Zürich ins Leben gerufen. Am 4. April 1991 starb Frisch "ruhig in seiner Wohnung" in Zürich, wie sein Sohn Peter mitteilte. Bis in die letzten Stunden seines Lebens sei er oft sehr heiter gewesen, ließ sein enger Freund, Michel Seigner, wissen. "Jetzt müend d ' Lüt sälber für sich luege" war nach Seigner die letzte Frisch-Äußerung. Aus der 1959 geschiedenen Ehe mit Gertrud von Meyenburg hatte Frisch 3 Kinder. 1969-79 war er mit Marianne Oehlers verheiratet. Seine letzte Le-bensgefährtin hatte er in Karin Pilliod gefunden. Letzte Adresse: CH- Berzona/Valle Onsernone/Tessin
Max Frisch ''Biedermann und die Brandstifter''
Stefan Gönnheimer & Marcus Wollinger
EmailSchule: Fachoberschule Technik I
Jahr: November 1996
Fach: Deutsch
Lehrer: Leinhard
Zensur: sehr gut
Informationen über den Autor Max Frisch
Max Frisch wurde am 15. Mai 1911 in Zürich als Sohn eines Architekten geboren. Auf Drängen des Vaters begann er 1931 nach dem Abitur in seiner Heimatstadt ein Studium der Germanistik. Aus finanziellen Gründen musste er 2 Jahre später das Studium abbrechen und arbeitete als freier Journalist. Im Rahmen dieser Tätigkeit führten ihn Reisen in die Tschechoslowakei, nach Polen, Frankreich, Bosnien, Dalmatien, Griechenland und schließlich bis ans Schwarze Meer und nach Konstantinopel. 1936 begann er ein Architekturstudium, das er 1941 mit dem Erwerb des Diploms beendete. Von 1942 bis 1954 leitete er ein Architekturbüro. In dieser Zeit schrieb er Werke wie chinesische Mauer", "Als der Krieg zu Ende war" (1949), "Graf Öderland", "Don Juan oder die Liebe zur Geometrie" und 1953 das Hörspiel "Herr Biedermann und die Brandstifter". Seit der Veröffentlichung des Tagebuches 1946 - 1949 ist er in deutschsprachigen Ländern berühmt. Weltruhm brachte ihm der Roman "Stiller" 1965. Frisch erhielt eine ungewöhnlich große Anzahl von Literaturpreisen, wurde ein begehrter Redner, bereiste die Welt und verfasste außer weiteren Dramen und Romanen zahlreiche polemische Schriften.
"Scherz ist die drittbeste Tarnung. Die zweitbeste: Sentimentalität.(...) Aber die beste und sicherste Tarnung (...) ist immer noch die blanke und nackte Wahrheit. Komischerweise. Die glaubt niemand."
Kurze Inhaltsangabe
Das Lehrstück ohne Lehre "Biedermann und die Brandstifter" von Max Frisch handelt von dem bürgerlichen Herrn Biedermann, der von zwei Brandstiftern übertölpelt wird und ihnen letzten Endes selbst die Streichhölzer für seinen Untergang gibt. Definition und Funktion einer Parabel "Die Parabel (griech. parabole = Vergleichung, Gleichnis), ist eine lehrhafte Erzählung, die eine allgemein sittliche Wahrheit oder Erkenntnis durch einen analogen Vergleich, also Analogieschluss, aus einem anderen Vorstellungsbereich beleuchtet, der nicht ein in allen Einzelheiten unmittelbar übereinstimmendes Beispiel gibt." Die Parabel ist also meist eine fiktive Erzählung, die auf reale Gege-benheiten bezogen werden kann. Hintergründe zur Entstehung des Bühnenstücks Max Frisch schrieb das Bühnenstück keineswegs von heute auf morgen. Es hatte vielmehr eine lange Vorgeschichte. Ohne Zweifel orientierte sich Frisch an Berthold Brecht, indem er sein Stück "ein Lehrstück" nannte. Doch gleich fügte er hinzu "ohne Lehre", womit er sich sofort wieder distanzierte. Anregungen sind auch von Hofmannsthals "Jedermann" ausgegangen, worauf eine Szene des Stückes selbst verweist. Tiefer ist der Anlass für das Parabelstück, von dem das "Tagebuch 1946-1949" Auskunft gibt, nämlich die Umwandlung der Tschechoslowakischen Republik zu einer Volksdemokratie im Februar 1948. Hier sah Frisch, wie die Brandstifter es sich zuerst im Dachboden bequem machten, um dann das ganze Haus anzuzünden. Hier wird die Funktion der Parabel deutlich, indem Frisch Selbsterlebtes in einer Geschichte darstellt. Interpretation "Mit Biedermann und die Brandstifter" reizt Frisch bei seinem Publikum den Wunsch herauf, in den Verlauf des Stückes einzugreifen. Biedermann ignoriert die Gefahr, wie ein Fußgänger, der bei Rot über die Straße geht. Und wäre man nicht Zuschauer in einem Theaterstück, würde man versuchen einzuschreiten. Das Stück richtet sich an die Anonymität einer mehr oder minder chaotischen Masse, die das Wagnis des offenen Bekennt-nisses scheut. Selbstzerstörerische Kräfte wirken seit langem in dieser Gesellschaft, wie der Chorführer eingangs mit den Worten "tilgend das sterbliche Bürgergeschlecht" hervorhebt. Der Untergang des Bürgertums muss als unmittelbar der thematischen Auseinandersetzung des Stückes zugehörig betrachtet werden. Die Bitte nach Menschlichkeit kommt für Biedermann so unverhofft, wie das Auftauchen von Schmitz selbst. Er schmeichelt sich bei Biedermann ein und berichtet ihm, dass er den Zirkus, seinen alten Arbeitsplatz, in Brand gesteckt hat. Da sein Vater Köhler war, wurde Schmitz mit dem Feuer groß. Er hat Spaß am Feuer, am Knistern und den Funken. Sein Handeln ist durch Freude am Feuer motiviert. Er gesteht dass er Brandstifter ist, doch Biedermann will dies nicht wahrhaben. Eine Parallele zum NS-Regime ist zu erkennen, da es in ähnlicher Weise vorging. Hitler versprach Arbeitsplätze, verschwieg aber seine wahren Absichten nicht, die Folgen daraus kennen wir wohl alle. Biedermann versteckt den Brandstifter gegenüber seiner Frau und weist ihm einen Schlafplatz auf dem Dachboden zu. Ohne eine Antwort zu bekommen, versichert sich Biedermann nochmals, ob Schmitz auch wirklich kein Brandstifter ist. Biedermann verschließt die Augen vor jeder Realität und geht mittels Schlafpulver zu Bett. Ohne es zu begreifen, hat Biedermann sich seinem schlechten Gewissen gestellt, indem er versucht Schmitz zu verstecken. Der edle und menschliche Helfer, der er gerne sein möchte, begibt sich direkt in die Hand des Bösen, vor dem er sich stets fürchtet. Der Auftritt von Schmitz im Schafsfell, ist eine ironische Darstellung des Autors. Der Wolf im Schafspelz spiegelt die wahre Identität von Schmitz wieder. Er ist nach außen hin das arme fromme Lamm, aber der böse Wolf der in ihm steckt, kann durch das naive Handeln Biedermanns sein teuflisches Werk in Angriff nehmen. Der bürgerliche Biedermann geht keine Verpflichtungen ein. Er lässt sich von seiner Frau vertreten, um Schmitz hinauszuwerfen. Dies gelingt ihr jedoch aufgrund der Redegewandtheit und Sentimentalität von Schmitz nicht. Anstatt Knechtling, der der eigentliche Erfinder des Haarwassers ist, am Profit zu beteiligen, lässt er ihn durch seine Frau "entlassen". Biedermann handelt völlig "menschlich", er geht den Weg des geringsten Widerstands und hofft, dass er von allem Unrechten verschont bleibt. Die Benzinfässer auf Biedermanns Dachboden, von Schmitz und Eisenring angeschleppt, kann man als eine Anspielung auf Gefahren beziehen, die die ganze Menschheit bedrohen, aber mehrheitlich ohne Gegenwehr akzeptiert werden. Giftgase z.B. existieren noch immer in Munitionsdepots, deren Verwendung ist aber vertraglich tabuisiert und deren Vernichtung zeitlich geplant. Es regt sich aber keine breite Masse darüber auf, wenn deren Beseitigung nicht eingehalten wird. Als die Polizei die Nachricht von Knechtlings Tod überbringt, erklärt Biedermann die Brandstifter zu seinen Mitarbeitern und deklariert das gefährliche Benzin als harmloses Haarwasser. Das Bürgertum geht mit dem Bösen einen Komplott ein, da beide Angst vor dem Gesetz haben. Biedermann ist von seinem Handeln, er begehe kein Unrecht, so voreingenommen, dass er sich von seiner Umwelt abschottet und an keinen Stammtisch mehr geht. Alle Warnungen ignoriert er und hält statt dessen weiterhin zu den Brandstiftern. "Ein bisschen Vertrauen muss man schon ha-ben, ein bisschen guten Willen". Biedermann will mit einem festlichen Mahl die Freundschaft zu den Brand-stiftern gewinnen. Während er die Einladung überbringt, pfeift Eisenring, der weiterhin am Untergang des Hausherrn arbeitet, Lili Marlen. Lili Marlen war im 2. Weltkrieg ein bekanntes Lied, das zur Aufmunterung der Soldaten diente. Hier wird deutlich, dass Biedermann und die Brandstifter im Kriegszustand sind und eine wahre Freundschaft nicht gefunden werden kann. Nach der Einladung taucht der Dr. phil. auf. Er ist der Einzige, der einen wahren Sinn in der Brandstiftung sieht. Dies wird durch die Charakterisierung des Chores klar: "Sieht er in Fässern voll Brennstoff Nicht Brennstoff - Er nämlich sieht die Idee!" Er versucht mit Gewalt die kranke, schlechte Seite der Gesellschaft zu vernichten. Hier wird der Bezug zum Terrorismus deutlich, denn der Zweck heiligt die Mittel. Max Frisch, der auf seinen Reisen sicherlich verschiedene Arten des Terrorismus kennengelernt hat, bringt seine persönlichen Erfahrungen durch den Dr. phil. in das Stück ein. Der Dr. phil. stellt jedoch leider zu spät fest, dass Schmitz und Eisenring nur das radikal Böse und die Freude bzw. Lust an der Zerstörung sehen und distanziert sich von den beiden. Parallelen sind in der Entstehung von terroristischen Splittergruppen zu sehen. Das von Biedermann einberufene Abendessen stellt eine wichtige Schlüsselszene dar. Es ist vergleichbar mit dem Abendmahl von Jesus und seinen Jüngern. Für Biedermann und Babette bedeutet die Mahlzeit das letzte Zusammensein mit ihren vermeintlichen Freunden vor dem Tode. Während Biedermann mit Eisenring auf dem Dachboden ist, erscheint die Witwe Knechtling als Schwarze Witwe, Frisch dramatisiert hier zunehmend den Verlauf des Stückes. Diesen Verlauf erkennen wir als Todeskurve. Denn der Tod wird Biedermann bald holen. Eisenring will die Einladung nicht auf morgen verschieben, denn morgen sind sie nicht mehr hier. Während des Abendmahls spielt Schmitz eine Szene aus Hofmannthals "Jedermann", indem er als Gespenst den Geist des toten Knechtlings verkörpert. Nach dem Essen gibt Biedermann den Brandstiftern auf deren Bitte hin, die Streichhölzer, die seinen Untergang endgültig beschließen. Frisch versucht, unserer Meinung nach, in seinem Stück den Untergang einer Regierungs- oder Gesellschaftsform darzustellen. So wie bei Hitler, der durch den Verlauf der Geschichte hätte wissen müssen, dass jeder Versuch die Weltherrschaft zu erlangen zum Scheitern verurteilt ist. Mit dem Erscheinen der Witwe Knechtling kommen immer wieder Todesboten. Sie drücken eine zunehmende Bedrohlichkeit bis zum endgültigen Untergang Biedermanns aus. Wer drohende Gefahren ignoriert, wird untergehen. "Biedermann und die Brandstifter" ist sehr wohl ein Lehrstück. Die Lehre, dass das Böse keinesfalls unabwendbares Schicksal ist, erkennt jeder. Doch in den Augen Frischs hat es für die Menschheit, wie für Biedermann, keine Lehre. Denn jeder ist wie Biedermann, er erkennt das Böse, will diese Erkenntnis nicht wahrhaben und wird immer wieder falsch handeln. Der Mensch wird stets den Weg des geringsten Widerstands gehen, auch wenn es ihn sein Leben kosten kann. Abschließend stellt sich die Frage, ob Frisch mit seiner Meinung: "Die Dummheit stirbt nie aus", recht behält. Oder wird der Mensch die Dummheit jemals besiegen können???
Quellenverzeichnis
Königs Erläuterungen und Materialien Max Frisch, Biedermann und die Brandstifter
Erläuterungen zu Max Frisch, Andorra und Biedermann und die Brandstifter
Schmitz(Hg.) Max Frisch Erläuterungen und Dokumente Max Frisch, Biedermann und die Brandstifter
Gerda Jordan, Grundlagen und Gedanken zum Verständnis des Dramas Max Frisch, Biedermann und die Brandstifter
Reinhard Dithmar Texte zur Theorie der Fabeln, Parabeln und Gleichnisse Max Frisch Biedermann und die Brandstifter
Manfred Jurgensen Max Frisch, Die Dramen
Jürgen H. Petrersen Max Frisch, Realien zur Literatur
Herder Lexikon Literatur Otto Knörich Formen der Literatur
Gero von Wilpert Sachwörterbuch der Literatur
Otto F. Best Handbuch Literarischer Fachbegriffe, Definitionen und Beispiele
J. B. Metzler Metzler, Literaturlexikon
Hans Gerd Rötzer Literarische Texte verstehen und interpretieren
Klaus Müller-Dyes Literarische Gattungen
Anhang
Tabellarischer Lebenslauf von Max Frisch
15. Mai 1911: Frisch erblickt in Zürich das Licht der Welt
1931 Germanistikstudium
1933 Abbruch des Studiums aus finanziellen Gründen
1933-1936 Beginn der Tätigkeit als Journalist, verschiedene Auslandsaufenthalte als Journalist 1936-1941 Architekturstudium in Zürich bis zum Diplom
1942 Hochzeit mit Constanze von Meyenburg, Gründung eines Architekturbüros, Aufenthalte in Deutschland, Italien, Frankreich, Prag, Warschau
1947 Die Chinesische Mauer
1948 Bekanntschaft mit Berthold Brecht am Genfer See
1949 Als der Krieg zu Ende war
1950 Spanienreise
1951 Graf Öderland, USA-Reise, Rockefeller Stipendium
1953 Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie, Herr Biedermann und die Brandstifter (Hörspiel) 1954 Stiller, Auflösung des Architekturbüros, Schriftsteller als Hauptberuf
1955 Wilhelm-Raabe-Preis
1956 Reisen nach USA, Mexiko und Kuba
1957 Homo Faber, Reisen: Griechenland und Arabien
1958 Biedermann und die Brandstifter, Georg-Büchner-Preis (Zürich)
1959 Scheidung seiner Ehe
1960-1965 Wohnsitz in Rom
1961 Andorra
1962 Verleihung des Titels Dr. honoris causa durch die Uni Marburg
1965 Reise nach Israel, Preis der Stadt Jerusalem
1966 erste Reise in die UdSSR und Polen
1968 zweite Reise in die UdSSR
1969 Reise nach Japan
1982 Blaubart, Verleihung des Ehrendoktortitels durch die Universität New York
1985 Drehbuch zu Blaubart
1986 internationale Würdigung zum 75. Geburtstag, Gesammelte Werke 1931-1985 in 7 Bänden 1987 Dr. honoris causa an der Technischen Universität Berlin
4. April 1991 Max Frisch stirbt in Zürich
Max Frisch: Leben und Werk
1911 bis 1991 Studium der Germanistik (1931-33), abgebrochen; als freier Journalist tätig, Reisen u.a. nach Südosteuropa; Studium der Architektur (1936-41). Als Architekt (seit 1941), vor allem als freier Schriftsteller (seit 1955) weiterhin zahlreiche Reisen in ganz Europa und nach Übersee. Erste Veröffentlichungen Anfang der 30er Jahre. Dabei sind Frischs Tagebücher ("Blätter aus dem Brotsack", 1940; besonders das "Tagebuch 1946-49", 1950, und das "Tagebuch 1966-71", 1972) von grundlegender Bedeutung für das dichterische Werk in Roman (vor allem "Stiller", 1954, mit dem Hör-spiel "Rip van Winkel", Erstaufführung 1953 als Vorstufe; "Homo Faber", 1957, "Mein Name sei Gantenbein", 1964) und Drama (vor allem "Don Juan oder die Liebe zur Geometrie", 1953, Neufassung 1961; "Herr Biedermann und die Brandstifter", Hörspiel 1956, Drama 1958; "Andorra", 1961; "Biographie", 1967). Seine Werke sind in vielen Fällen in den Tagebüchern vorkonzipiert, ihr Entstehungsprozess wird in ihnen gespiegelt. Tagebücher und Werke bilden so ein eigentlich unauflösliches Werkganzes. Hauptthema dieses Werkganzen ist die Erkenntnis der Selbstentfremdung des modernen Menschen. Das Problem der spaltungsbedrohten Identität, der Versuch der Identitätsfindung sind dabei ebenso charakteristisch für die Gestalten des Werks wie ihr Versuch, aus "einer falschen Rolle", aus der Wirklichkeit auszubrechen auf der Suche nach einer "Wahrheit", die niemand sagen kann, "es sei denn, er erfinde sie". Frischs Dramen sind Lehrstücke ohne Lehre, Parabeln in Form der Moritat, der Farce, der Groteske; seine Romane sind auch formal der Versuch heute möglichen Erzählens bis in seine Krise. Die Wirkungsmöglichkeiten sieht Frisch dabei allerdings skeptisch: "Die Erkenntnis-Vorstöße, die unser Jahrhundert bewegen, verdanken wir nicht der Literatur." Frisch erhielt u.a. 1948 der Georg-Büchner-Preis.
Biedermann oder Brandstifter?
STERN-Autor Peter Sandmeyer über den Lübecker Prozess gegen Safwan Eid und die Stimmungsmache von Verteidigung und "Antirassisten"
Das Gegentribunal mobilisiert Massen. Zur "Aufklärungsveranstaltung" über "die Morde von Lübeck" haben mehr als drei Dutzend Organisationen - von den Verfolgten des Nazi-Regimes über die Jusos bis zum "Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD" - aufgerufen. Die Katharinen- kirche an der Frankfurter Hauptwache ist überfüllt. Safwan Eid, der Angeklagte von Lübeck, sitzt im Publikum. Er wird - angeblich hat es Morddrohungen gegeben - gut abgeschirmt. Seine Anwältin Gabriele Heinecke, die auch schon den Ex-DDR-Ministerpräsidenten Willi Stoph und das autono- me Kampfblatt "radikal" verteidigt hat, steht am Mikrofon und plädiert: nicht nur für Freispruch ihres Mandanten, sondern auch für Ermittlungen gegen die Lübecker Justiz. "Es war eine politische Ent- scheidung, Safwan Eid anzuklagen, weil es dafür keine juristische Begründung gibt! Und es war eine politische Entscheidung, die dringend tatverdächtigen Jugendlichen, die ausgewiesenermaßen aus dem rechtsradikalen Umfeld kommen, wieder laufen zu lassen, weil es auch dafür keine juristische Begründung gibt!" Stürmischer Beifall. Das Tribunal zieht sich derweil hin. Seit dem 16. September wird vor dem Landgericht in Lübeck verhandelt, aber nur selten blitzt in diesem Prozess das auf, worum es eigentlich geht: das Grauen einer Nacht, in der Kinder verkohlten, Mütter erstickten, Väter ihre Familien verloren. Es war die Nacht vom 17. zum 18. Januar, als gegen vier Uhr morgens plötzlich das Asylbewerber-Haus in der Hafenstraße in Flammen stand - "lichterloh", wie die Zeu- gen den Brand immer wieder beschreiben. Seit zwölf Verhandlungstagen versucht die II. Große Strafkammer von diesen Zeugen zu erfahren, wann wer wo was gesehen hat, was dafür und was dagegen spricht, dass der angeklagte Libanese Safwan Eid sich der besonders schweren Brand- stiftung schuldig gemacht hat und für den Tod von zehn Menschen verantwortlich ist. Halbe Sätze, kleine Details wecken manchmal die Erinnerung an deren Schicksal. Ein Polizist, der beschreibt, wie er einer auf der Straße liegenden Frau helfen wollte und dann nur noch eine Leichendecke für sie holen konnte. Ein anderer, der erzählt, wie er einem Feuerwehrmann ein gerettetes kleines Kind abnahm, es unter seinen Parka steckte, um es vor der grimmigen Kälte zu schützen, und einen Platz in einem Rettungswagen suchte. "Aber die waren alle belegt." Auch der Rettungssanitäter Jens L., der in der Brandnacht ein Geständnis des Angeklagten gehört haben will und deswegen der wich- tigste Zeuge der Anklage ist, lässt etwas von der Erschütterung des miterlebten Schreckens spüren, als er dem Gericht mit leiser Stimme schildert, wie er am folgenden Morgen duschen wollte, in den Spiegel blickte und dann in Tränen ausbrach. Er muss sich dafür von der Verteidigerin Gabriele Heinecke die Frage gefallen lassen, warum er sich zum Weinen extra vor den Spiegel stellte. Mit allen - nicht immer feinen - Mitteln versucht die Verteidigung, die Unschuld ihres Mandanten zu beweisen und die Glaubwürdigkeit belastender Indizien und Zeugen zu erschüttern. Wer die stundenlange Vernehmung von Jens L. durch die beiden Verteidigerinnen Heinecke und Barbara Klawitter und ihre Versuche, ihn in eine rechtsradikale Ecke zu drängen, miterlebt hat, wird sich künftig gut überlegen, ob er seiner Pflicht zu einer Zeugenaussage nachkommt. Dass im schmuck- losen Saal 163 des Lübecker Gerichts, wo einst Marianne Bachmeier den Mörder ihrer Tochter Anna erschoss, heute der Falsche auf der Anklagebank sitzt, ist auch für die "antirassistische" Solidaritäts-Szene, die sich zu jedem Verhandlungstag zahlreich einfindet, lange vor Abschluss der Beweisaufnahme klar. "Freispruch für Safwan" fordern die Transparente, die ihn morgens begrüßen, und die "Prozessinfos", die die Öffentlichkeit allwöchentlich neu instruieren. Für weiteren Lesebedarf sind die Berichte der "Internationalen Unabhängigen Kommission" im Angebot, die den Prozess beobachtet; oder die 540-Seiten-Dokumentation der IG Medien zum "Rassistischen Brandanschlag in Lübeck" für 45 Mark. "Freispruch für Safwan" und "Die verdächtigen Nazis vor Gericht", das sind auch die zentralen Parolen der "bundesweiten" Demonstration am 2. November in Lübeck. Das Pingpong zwischen Verteidigung und Unterstützer-Szene ist gut eingespielt. Im Gericht der Versuch, die Glaubwürdigkeit von Zeugen zu demontieren; draußen das Bemühen, die Vertrauenswürdigkeit der Ermittlungsbehörden zu erschüttern. Ständig wiederholt: der Vorwurf "einseitiger und rassisti- scher Ermittlungen der Staatsanwaltschaft". Und es wirkt wie ein Aufstand aufrechter Gesinnung, wenn dagegen - wie jetzt in Frankfurt und Berlin - "Aufklärungsveranstaltungen" organisiert werden. Hinter den politischen Kulissen findet das konzertierte Vorgehen seine Fortsetzung in einem Brief, den die Fraktionsvorsitzende der schleswig-holsteinischen Grünen, Irene Fröhlich, nach einer Stippvisite im Gerichtssaal am 9. Oktober an Ministerpräsidentin Heide Simonis richtete. Von einem "aus politischer Sicht ungeheuerlichen Prozess" spricht sie darin und regt dann die Entmachtung des Anklagevertreters Michael Böckenhauer an - 13 Jahre im Landesvorstand der Sozialdemokrati- schen Juristen - mit der scheinheiligen "Befürchtung", dass ein Staatsanwalt in "diesem spektakulären Prozess juristisch, menschlich und politisch überfordert ist". Auf vielen Infusionswegen soll Misstrau- en ins Bewusstsein der Öffentlichkeit sickern, das klamme Gefühl sich verankern, in Lübeck finde ein modernes Gegenstück zum Reichstagsbrandprozess statt. Es soll ein politisches Klima entstehen, das eine Verurteilung des Angeklagten unmöglich macht. Dabei gewinnt die Ankla- ge gegen Safwan Eid für unbefangene Prozessbeobachter - von der "Taz" über den "Spiegel" bis zur "FAZ" - von Verhandlungstag zu Verhandlungstag durchaus an Plausibilität. Beispielsweise lassen die zuver- lässigen Zeugenaussagen kaum noch Zweifel daran, dass das Feuer im ersten Geschoss des Hauses an der Hafenstraße ausgebrochen ist - wesentliches Indiz dafür, dass der Brandstifter von innen und nicht von außen kam. Und ebensowenig Zweifel gibt es inzwischen daran, dass die vier zunächst verdächtigten und für die Verteidigung bis heute verdächtigen jungen Männer aus Grevesmühlen zur wahrscheinlichen Tatzeit - zwischen 3 Uhr und 3.30 Uhr - nicht am Tatort gewesen sein können. Im übrigen liegt dem Gericht jetzt auch noch ein neues Gutachten aus dem LKA München vor, nach dem die "frischen Sengspuren", die die vier Jugendlichen an Wimpern und Haaren hatten, mitnichten so frisch gewesen sein müssen, wie sie dem Lübecker Rechtsmediziner erschienen waren. Der bayerische Experte Dr. Herbert Pabst kommt anhand von Fotovergrößerungen zu dem Schluss, dass es sich um "Haarbeschädigungen unterschiedlicher Intensität" handele, die durch Hitze hervor- gerufen sein können, aber nicht müssen, und "ein bis mehrere Tage alt" gewesen seien. Wer da einfach weiter fordert, die Männer aus Grevesmühlen vor Gericht zu stellen, muss ein, gelinde ge- sagt, legeres Verhältnis zum Rechtsstaat haben. Und wenn es wirklich "fortbestehenden Aufklä- rungsbedarf" gibt, fragt man sich, weshalb die Verteidigung nicht beantragt, das Quartett aus Grevesmühlen als Zeugen zu laden. Aber dann käme ihr womöglich der willkommene Mythos unbehelligt herumlaufender Tatverdächtiger abhanden. Ein anderer Mythos, der von "Mut und Einigkeit, mit denen die überlebenden Flüchtlinge den Verdrehungen der Ermittler entgegentreten", hat sich bereits am vierten Prozesstag mit einem Knall verabschiedet. Am 25. September brach Jean-Daniel Makodila aus Zaire, der seine Frau und seine fünf Kinder beim Brand verloren hat, im Gerichtssaal zusammen; die folgende Turbulenz nutzte der Vater des Angeklagten, Marwan Eid, um auf libanesische Landsleute, die Familie El Omari, loszugehen. "Schämt euch, ihr Hunde", rief er - für arabische Ohren eine besonders schwere Beschimpfung. Auslöser des Ausbruchs war vermut- lich der Wechsel der Familie El Omari, die in der Brandnacht einen Sohn verloren hat, von der Zuhörer - auf die Nebenklägerbank. Hintergrund aber sind deren wachsende Zweifel - an der Wahrheitsliebe der Familie Eid. Schon die plötzliche Verjüngung von Safwan um elf Monate, die ihm die Zuständigkeit der Jugendkammer mit dem langmütigen Vorsitzenden Rolf Wilcken einbrach- te, machte Assia El Omari stutzig. Nachdem sie - wie alle Hausbewohner der Hafenstaße - lange außerordentlich zurückhaltend gegenüber den deutschen Ermittlungsbehörden war, meldete sie sich Anfang Juli bei der Staatsanwaltschaft und sagte aus, dass sie mehrere Male mit Safwans Mutter über dessen Alter gesprochen und keinerlei Zweifel daran habe, dass er über 21 sei. Das deckte sich mit den Erkenntnissen der Ermittler, die aktuelle Auszüge aus dem libanesischen Einwohner- register beschafft hatten und es ebenfalls unerklärlich fanden, dass Safwans Geburt, die angeblich erst am 10. November 1975 stattgefunden hatte, bereits am 9. Januar 1975 vom Standesbeamten im Bezirk Tripolis eingetragen wurde. Das Misstrauen der Familie El Omari wuchs, als Marwan Eid bei einer gemeinsamen Begehung der Brandruine mit dem von der Verteidigung gewünschten Gut- achter Ernst Achilles angab, er habe in der Brandnacht um 2.30 Uhr den lauten Knall einer Bombe gehört. In der - auf arabisch geführten - Unterhaltung mit den El Omaris wiederholte er die Angabe: Ja, präzise um 2.30 Uhr. Das war zwar mit der Aussage seiner eigenen Tochter nicht in Einklang zu bringen, nach der die Familie um 3.41 Uhr - kurz nach Entdeckung des Feuers - aus dem Fenster gesprungen sei; aber es bot neue Nahrung für die These, der Anschlag sei von außen verübt worden - entlastend für den beschuldigten Sohn. Familie El Omari schlussfolgerte: Entweder hatte Marwan Eid sich eine Stunde Zeit gelassen, sie vor dem Feuer zu warnen - oder er log. Letzteres schien Assia El Omari wahrscheinlicher: "Ich kann nicht glauben, dass Herr Eid diesen lauten Knall gehört hat. Hätte es in dieser Nacht einen solchen Knall gegeben, wäre ich davon mit Sicherheit aufge- wacht." Die zehnköpfige Familie aus dem Libanon ist damit die erste, die aus der Schweigefront der Hausbewohner ausbricht und sich von dem "Zeugenschutzprogramm" der antirassistischen Betreuer nicht länger vereinnahmen lässt. Das umfasst offenbar auch die Auswahl von Anwälten für diejenigen Hausbewohner, die vor Gericht als Nebenkläger auftreten. Deren Rechtsbeistände nämlich agieren dort lediglich als Statisten der Verteidigung und empfinden es anscheinend als oberste Pflicht, unan- genehme Fragen an den Angeklagten zu verhindern. Mit einer Ausnahme: Dr. Wolfgang Clausen, ein erfahrener älterer Verwaltungsjurist, der in diesem Strafverfahren Jean-Daniel Makodila und jetzt auch die Familie El Omari vertritt, stellt Anträge und Fragen, die Safwan Eid nicht vorsätzlich schonen. Die Quittung dafür kam als offener Brief an die Familie El Omari. Absender ist eine Grup- pe "Antirassistisches Telefon" aus Hamburg; Inhalt: die kaum verhüllte Aufforderung an die Familie, Dr. Clausen zu entlassen. "Ein anderer Anwalt steht in diesem Moment zu Ihrer Verfügung. Dr. Clausen behindert durch seine Anträge und durch seine Befragung der Zeugen die Aufdeckung der Wahrheit. Er sucht nach belastenden Anhaltspunkten gegen Safwan Eid und verstellt damit den Weg zu den wirklichen Tätern." Im Namen der Familie konterte der angegriffene Anwalt knapp: "Familie El Omari weist mit Empörung den Versuch zurück, sie zu einem Verhalten als Nebenkläger und zu Aussagen als Zeugen zu verleiten, die nicht ausschließlich an der Wahrheit orientiert sind. Sie wird sich nicht dem Ansinnen beugen, den Angeklagten Safwan Eid von vorneherein für unschuldig zu halten."
Quelle:
Heidenreich, Sybille
Frisch: Andorra/Biedermann und die Brandstifter
Biographie und Interpretation
Beyer Verlag
Analysen und Reflexionen 9
Kindlers Literatur-Lexikon
Zürich, 1982
Zentrale für Unterrichtsmedien
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