Das Leben ist anderswo

Milan Kundera: Das Leben ist anderswo

Der Roman "Das Leben ist anderswo spielt in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Tschechoslowakei.

Das Werk

Der Stoff ist die Biographie eines fiktiven Dichter. Der Roman wird in einer epischen Breite und Vielfalt erzählt, die nur dem „allwissenden" neutralen Erzähler möglich ist. Dh.: der Erzähler weiß viel mehr als die einzelnen Figuren des Romans wissen können. Das Erzählschema der Biographie wird im großen und ganzen eingehalten, der Roman beginnt mit der Geburt des Dichters Jaromil, fährt chronologisch fort und endet mit dessen Tod. Zu beginn erzählt der Roman von Jaromil’s Mutter, die sich von ihrem Mann unverstanden fühlt deshalb um so mehr auf ihren Sohn fixiert ist. Der Vater stirbt während der Besetzung Böhmens durch die Nationalsozialisten im Konzentrationslager. Jaromil wächst daher nur in der Umgebung von Frauen auf, der Mutter und der Großmutter. Jaromil reagiert auf die Neurosen der Mutter mit einem Ödipuskomplex. Er bleibt sein ganzes Leben lang an die Mutter gebunden. Sie entdeckt in ihm schon bald den Dichter und vergöttert diese „höhere Welt der Kunst", die ihr das Entkommen aus der unbefriedigenden bürgerlichen Existenz verspricht. Ihr Liebhaber, ein surrealistischer Maler, weiht den jungen Jaromil in die Geheimnisse der modernen Malerei und Poesie ein.

Jaromil ist ein schwaches und unselbständiges Kind und begreift rasch, dass er mit seiner „originellen inneren Welt" die Mißerfolge in der äußeren Welt kompensieren kann. Er begibt sich schon sehr bald auf die Suche nach dem anderen Geschlecht. Wobei er mit den üblichen "Jungenproblemen" zu kämpfen hat. Er steht aber immer noch unter dem starken Einfluß der Mutter, die ihm noch immer Morgen für Morgen die Wäsche auf sein Bett legt. Jaromil ist damit sehr unzufrieden und sucht nach eigener Identität. Dies gelingt ihm aber nicht wirklich, da er jedesmal wenn er Erfolg hat, bemerkt, dass dieser nur entstanden ist, weil er andere Menschen kopiert hat. Er wendet sich mehr und mehr seiner Freundin zu. Dies bemerkt auch die Mutter, die angst hat, ihren Sohn, die einzige Erinnerung an ihren ehemaligen Ehemann, an dessen Freundin zu verlieren. Deshalb spielt sie die verletzte Mutter um wenigstens zeitweise die Zuwendung ihres Sohnes zu erreichen.

Jaromil strebt nach Höherem. Er schreibt ein Gesuch an einen anerkannten, großen Dichter, er solle doch gnädigerweise seine Gedichte lesen. Weiters schreibt er Briefe an diverse Zeitschriften, sie mögen doch seine Werke veröffentlichen. Der Erfolg will sich aber nicht einstellen. Im Gegenteil: Seine Freundin verlässt ihn. Ihm wird immer mehr und mehr bewußt, dass er sich nicht wirklich von seiner Mutter lösen kann. Er trifft einen alten Schulkollegen, der eine eigene Wohnung hat und verheiratet ist, also all das, wovon Jaromil träumt, und wird weiter gedemütigt. Bald darauf "entdeckt" er eine blonde, gutaussehende Verkäuferin, die er aber aus Schüchternheit nicht wagt anzusprechen. Als er eines Tages vor deren Haus steht und auf sie wartet, wird er von dessen Freundin ertappt, die ihm erzählt, dass seine angebetete nicht mehr in dieser Stadt wohne. Ihre Freundin offenbart ihm, dass sie ihn liebe. Daraufhin entwickelt sich eine intime Liebesbeziehung zwischen den beiden. Jaromil's Mutter reagiert darauf mit Eifersucht, da sie mehr und mehr das Gefühl hat, in Jaromil's Leben keinen Platz mehr zu finden. Dieser jedoch, der bedacht darauf ist Macht zu besitzen, macht seiner Freundin Vorwürfe, dass sie sich vor dem Frauenarzt entblößte. Er will sie voll und ganz besitzen und niemand dürfe sie berühren. Auch als ihr Bruder nach Prag kommt verbietet er ihr, ihn zu besuchen.

Langsam aber sicher stellt sich auch der Erfolg für den jungen Dichter ein. Er wird von der Redaktion einer namhaften Zeitung eingeladen, einige Gedichte zur Veröffentlichung vorzulegen. Weiters wird er gebeten, auf einem Polizeiball, gemeinsam mit anderen Künstlern, einige seiner Gedichte vorzutragen. Auf diesem Ball wird er als der neue Künstler gehandelt. Von nun an beginnt er, sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen, da ihm anscheinend die Loslösung von der Mutter gelingt. Deshalb braucht er auch seine Freundin nicht mehr und zeigt sie, gemeinsam mit ihrem Bruder, bei der Staatspolizei wegen Hochverrats an.

Jaromil stirbt mit zwanzig Jahren an Lungenentzündung.

Die Charaktere der Personen

Jakub, der Resignierende - Abschiedswalzer

Jakub ist eine typische Kunderafigur: ein skeptischer Intellektueller, der durch bittere Erfahrungen in der Resignation versinkt. Er hat eine 'Ausreisegenehmigung erhalten, nachdem er in den fünfziger Jahren Opfer politischer Prozesse geworden war. Seine Erfahrungen sind die eines Mannes, der von seinen ehemaligen Freunden ins Gefängnis gesteckt worden ist, von Menschen mit derselben politischen Überzeugung.

Als er Rosa begegnet, sieht er in ihr die Verkörperung all dessen, was ihn aus seinem Heimatland vertreibt: selbstgefällige Aufgeblasenheit, Mittelmäßigkeit und teilnahmslose Leere. "Es schien ihm, als sei sein ganzes Leben nichts als ein endloser Dialog mit genau diesem Gesicht gewesen. Wenn er versuchte, ihm etwas zu erklären, sah dieses Gesicht beleidigt zur Seite, seine Beweise beantwortete es mit Gerede über etwas ganz anderes"(143)

Tomas, Don Juan der Neuzeit - Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Tomas lebt wie ein moderner Don Juan: immer auf der Jagd nach dem sexuellen Abenteuer. Wie dieser begehrt er die Frauen und erfährt im flüchtigen Liebesakt ein ebenso flüchtiges Glück. Angst und Verlangen vor den Frauen halten sich bei ihm die Waage und treiben ihn in Abenteuer, die aus Angst vor einer Bindung kurz und emotionslos sein müssen. Tomas ist der Meinung, es gibt zwischen Hitler und Einstein, Napoleon und Maria Theresia, zwischen den Tätern und Opfern kaum einen Unterschied. Wollte man diesen in Zahlen ausdrücken, so "gäbe es zwischen ihnen ein Millionstel Unähnliches und neunhundertneunundneunzigtausenneunhunderneunundneunzig Millionstel Gleiches (190). Tomas ist davon besessen, dieses "Millionstel Unähnliches" im sexuellen Akt zu erfahren. Der sexuelle Akt eignet sich besonders dazu, weil die Frau erst erobert werden muss und weil dieser Bereich der privateste und intimste ist. Der Erzähler vergleicht diese Ichsuche mit der Tätigkeit des Chirurgen: wie dieser will der Chirurg und Liebhaber Tomas die Oberfläche aufschneiden und sich dessen bemächtigen, was tief in ihrem Inneren verborgen liegt.

Jaromil, auf der Suche nach seinem Ich - Das Leben ist anderswo

Jaromil, ist sein ganzes (wenn auch sehr kurzes) Leben auf der suche nach seiner eigenen Identität. Schon von kleinster Kindheit auf ist er auf Frauen fixiert. Sein Vater ist in einem Konzentrationslager ermordet worden. Deshalb wächst er fast ausschließlich im Umfeld von Frauen, seiner Mutter und Großmutter, auf. Seine Mutter bringt ihn dazu, bei ihrem Freund, Unterricht zu nehmen, damit er einmal ein großer Dichter werde, und sie aus diesem bürgerlichen Milieu zu retten. Von diesem Moment an, ist sein Lebensweg vorgezeichnet. Bis zu seinem Tode versucht er, mit der erlernten Dichtkunst zu Erfolg zu gelangen. Er wird aber immer wieder mit der Tatsache konfrontiert, dass er eigentlich immer noch im Bann der Mutter steht und kein eigenes Leben führt. Als er bei einer hitzigen Diskussion als "guter Redner" geehrt wird, wird ihm sofort bewußt, dass er eigentlich nur seinen Lehrer, nachahmt. Erst als sich der Erfolg mit der Dichterei einstellt, glaubt Jaromil, endlich etwas erreicht zu haben. Doch dieses Glück ist nicht von langer Dauer: Kurz nach der Veröffentlichung eines seiner Gedichte stirbt Jaromil zwanzigjährig an Lungenentzündung.

Der Erzähler lässt Jaromil von einer Falle in die nächste Tappen. Dem Leser ist schon lange vor Jaromil bewußt, dass er niemals Erfolg haben wird. Er ist sein ganzes Leben lang auf der Suche nach seinem eigenen Ich. Jaromil will ein Ziel erreichen, das er nie -und davon wird der Leser schon nach kurzer Zeit informiert- erreichen kann.

Stilmittel

Tempowechsel

Kundera verwendet in seinen Werken das Stilmittel der Änderung des Erzähltempos in den verschiedenen Kapiteln. Das ergibt sich einerseits aus dem Verhältnis von der Länge des Werks zu den gliedernden Kapiteln, andererseits durch das Verhältnis von der Länge des Erzählens zur Länge der erzählten Zeit.

Der Autor hebt die Bedeutung der Beziehung zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit hervor. (So behandelt der fünfte Teil des Buches "Das Leben ist anderswo" ein ganzes Jahr im Leben des Dichters (96 Seiten), der sechste aber nur wenige Stunden im Leben des Vierzigjährigen (26 Seiten).

Wie wichtig die Erzähltempi für die Architektur seiner Romane sind, zeigt auch, welche emotionale Szenarien er in den Kapiteln schafft: Im sechsten Teil des gleichnamigen Romans baut er eine Atmosphäre der Geborgenheit, der Stille und des Mitgefühls auf, wogegen der siebente Teil eine hektische tragikomische Umgebung den Tod des Dichters unterstreicht.

Kundera selbst sagt, dass er die Kontraste der Tempi als außerordentlich wichtig erachtet. Schon oft gehören sie zu den ersten Vorstellungen, die er von seinem Roman habe, lange bevor er ihn schreibt.

Die Erzählfigur

Kundera hat sich für die Erzählung seiner Romane für einen auktorial auftretenden und sich einmischenden Erzähler entschieden, der den Erzählvorgang thematisiert und die Fiktionalität aufbricht. Er führt dank seiner Allwissenheit in der Erzählung selbst Regie, kommentiert dem Leser das Erzählte, zum Beispiel das Fehlverhalten und die Schwierigkeiten seiner Figuren, erläutert sein Erzählkonzept und seine philosophischen Grundgedanken. Zu einem entscheidenden Merkmal der Erzählfunktion dieses Romans gehört, dass der Erzähler seinem Leser regelrecht den Vorgang des Erzählens offenlegt und somit die Illusion zerstört, wie an folgendem Textzitat deutlich wird:

Wie schon gesagt, werden Romanpersonen nicht wie lebendige Menschen aus dem Mutterleib, sondern aus einer Situation, einem Satz, einer Metapher geboren, in deren Kern eine Möglichkeit des Menschen verborgen liegt, von der der Autor meint, dass sie noch nicht entdeckt oder dass noch nichts Wesentliches darüber gesagt worden sei. ... Die Personen meines Romans sind meine eigenen Möglichkeiten, die sich nicht verwirklicht haben.

Der Erzähler überblickt von seiner überlegenen Position die verschiedenen auseinanderlegenden Schauplätze, die verschiedenen Zeiten und auch die Vorgeschichte seiner Figuren. Die Figuren sind für ihn ein "experimentelle Egos", welche die eigenen Möglichkeiten des Erzählers vorleben, die sich nicht verwirklicht haben.

Ironie und Satire

Milan Kundera weist in seinen Werken immer wieder darauf hin, dass die Charaktere seiner Erzählungen nur fiktive Personen sind. Man gewinnt den Eindruck, dass er nur mit ihnen spielen will oder sie für gedankliche Experimente verwendet. Er lässt sie in Fallen tappen, die der Leser schon lange vor der fiktiven Person kennt. Kundera kann auch nicht verheimlichen, dass er eine gewisse Genugtuung empfindet, wenn diese geradewegs in diese Falle tappen.

Der ironische Blick durchschaut das Einseitige und ermöglicht die Gegenperspektive. So kommt keine der Figuren mit ihren Vorstellungen, Aussagen und ihrer Lebensplanung zurecht. allein dadurch nicht, dass sich die Erzählerstimme kommentierend einmischt.

Es gibt Passagen, in denen sich die Ironie besonders eindringlich und direkt zeigt, und bereits in Satire übergeht. Dies zeigt das Beispiel einer geheimen, unter Ausschluß der Öffentlichkeit, Beerdigung, bei der ein berühmter Biologe beerdigt wird. Der Krematoriumssaal gleicht einem Filmstudio. Zwar ist der Bestattungstermin geheim, aber die Polizei hat Scheinwerfer und Kameras aufgebaut, und die wenigen Teilnehmer werden für den beobachtenden Tomas zu Filmschauspielern. Entlarvt wird das Ausmaß und der Wahnwitz des Kontrollsystems, das selbst vor dem Tod keine Pietät kennt. (220)

Die ironische Grundhaltung schimmert in allen Beschreibungen und Kommentaren durch, so in Aussagen wie "Im Kontext der Idylle ist selbst der Humor dem süßen Gesetz der Wiederholung untergeordnet" (286)

Elliptische Erzähltechnik

Kundera verwendet diese Technik, um direkt auf das Zentrum der Dinge loszusteuern. Er verdeutlicht die elliptische Technik am Beispiel der Musikkomponisten: Wie in der Musik "nur der Ton, der etwas Wesentliches ausdrückt, eine Existenzberechtigung hat und statt Überleitungen eine brutale Aneinanderreihung, statt Variationen die Wiederholung zu fordern ist, soll auch der Roman dem Willen zu Knappheit unterworfen werden" (). Konkret heißt das: Der Autor soll sich von den Konventionen der Gattung lösen, zum Beispiel davon, eine Figur zu entwickeln, ein Milieu zu beschreiben, die Handlung in einer bestimmten historischen Situation anzusiedeln. Er soll sich von unnützen Episoden befreien.

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