Unter'm Rad

Entstehungsgeschichte

Die Schule ist die einzige moderne Kulturfrage, die ich ernst nehme und die mich gelegentlich aufregt. An mir hat die Schule viel kaputtgemacht, und ich kenne wenige bedeutende Persönlichkeiten, denen es nicht ähnlich ging. Gelernt habe ich dort Latein und Lügen [...].

Die Erzählung Unterm Rad hat in der Forschung vergleichsweise wenig Beachtung gefunden und sich bei der Hesse - Leserschaft nie einer ähnlichen Beliebtheit erfreut als so manch anderes Werke des Autors. Dies mag zum Teil daran liegen, dass Hesse sich in diesem Text weltanschaulicher Botschaften zu enthalten scheint. Unterm Rad wirkt auf den ersten Blick zeitbezogener als andere Werke Hesses. Wenn man die Erzählung heute liest, kann sie passagenweise wie ein historisches Dokument zur Erziehungspolitik einer vergangenen Epoche gesehen werden.

Wie auch die anderen Werke von Hermann Hesse enthält auch dieser starke autobiographische Züge.

Inhaltsangabe

Hans Giebenrath, die Hauptfigur dieses Romans, gilt als äußerst begabtes Kind und wird so als einziger Schüler der Stadt zum "Landexamen" geschickt. Die abgelegte Prüfung berechtigt ihn, das Tübinger Seminar auf Staatskosten zu besuchen, um dann eine Karriere als Lehrer oder Pfarrer anzustreben. Nach besonders gründlicher Vorbereitung und unter dem großem Druck seines Vaters und seiner Lehrer besteht er die Prüfung als Zweitbester. Nach diesem bestandenen Examen darf sich Hans wieder seinem Hobby widmen und angelt den ganzen Tag. Seine Ferien werden aber schon bald durch Übungsstunden ersetzt und der Ehrgeiz von Hans wird immer größer. Bald verbringt er seine ganze Freizeit nur mit Lernen und wird anschließend von seinem Vater nach Maulbronn in ein Kloster gebracht. Hans wohnt hier gemeinsam mit ein paar anderen Schülern in der Stube "Hellas". Der sonderbarste "Hellas"-Bewohner war Emil Lucius, ein Geizkragen und Egoist. Langsam werden viele Freundschaften geschlossen, aber auch Antipathien, welche oft in wilden Faustkämpfen enden. Nur Hans bleibt lange alleine, schließt jedoch dann mit Hermann Heilner, einem Dichter und Schöngeist aus dem Waldviertel, Bekanntschaft. Dieser gibt Hans zu verstehen, dass er das Kloster als Gefängnis und wirklichkeitsfremd betrachtet. Hans wird so mit einem vollkommen neuen Weltbild konfrontiert, dem er sehr verwundert gegenübersteht. Diese Freundschaft zwischen dem Leichtsinnigen und Gewissenhaften erschöpft Hans sehr, sie lähmt ihn sogar.

Nach einiger Zeit kommt es zwischen Lucius und Hermann Heilner zu einer heftigen Auseinandersetzung. Hermann kann das unbegabte Geigenspiel des Lucius nicht ertragen und macht seinem Ärger darüber Luft, indem er gegen Lucius handgreiflich wird.

"Du könntest jetzt aufhören, schimpfte Heilner. Es gibt auch noch andere Leute, die üben wollen. Deine Kratzerei ist ohnehin eine Landplage."

Dieser Wutausbruch wird von den Lehrern mit 8 Stunden Karzer bestraft. Nach diesem Vorfall wird Hermann von seinen Mitbewohnern, insbesondere auch von Hans, als Außenseiter behandelt. Obgleich Hans und Hermann nun nicht mehr miteinander sprechen, begegnen sie sich in ihrem tiefsten Innern mit enormer Enttäuschung. Durch den Tod eines Zimmerkameraden kommen sie sich wieder näher und schließen abermals Freundschaft. Hermann wird von den Professoren sehr streng behandelt, um seinen rebellischen Gedanken, die in diesem System keinen Platz haben, vorzubeugen. Hans erkennt die Sinnlosigkeit dieses Schulsystems und seine Leistungen sinken. Seine Lehrer sehen die Ursache des Abfalls der Leistungen jedoch in Hans Umgang mit Hermann und verbieten ihm daher diesen. Hans konzentriert in einem letzten Aufbäumen seine Anstrengungen, um den Anschluß nicht zu verlieren.

"Von da an plagte er sich aufs neue mit der Arbeit. Es war allerdings nicht mehr das frühere flotte Vorwärtskommen, sondern mehr ein mühseliges Mitlaufen, um wenigstens nicht zu weit zurückzubleiben"

Als er merkt, dass seine Bemühungen, sich selbst zu motivieren, in Ermangelung der notwendigen Kraft scheitern, verlieren sich seine Gedanken in Träumereien. Mit dem Absinken seines Erfolgs verliert Hans auch den Respekt der Kameraden. Die Lehrer beschließen, Hans wieder nach Hause zu schicken. Hier bemerkt Hans, dass er den in ihn gesetzten Erwartungen nicht gerecht werden kann und denkt in seiner Not bereits an Selbstmord. Er versucht unter Zuhilfenahme von Erinnerungen an Personen und Plätze seines Geburtsortes zu sich selbst zu finden. Er scheitert und muss erkennen, dass die Zeit seiner "schönen Jugend" vorbei ist. Im Laufe der Zeit verliebt er sich in ein Mädchen, das jedoch schon bald ohne Abschied abreist. Er beginnt eine Mechanikerlehre um auf neue Gedanken zu kommen. Dabei lernt er Konrad kennen, der ihn auf eine Feier einlädt. Die anderen Gäste verstehen es, Feste mit Alkohol zu feiern, und Hans versucht ein letztes Mal, sich krampfhaft anzupassen. Am nächsten Tag wird Hans tot in einem Bach aufgefunden. Am Tag seines Begräbnisses wird Hans zur Berühmtheit. Viele Leute kommen, um diesen intelligenten Jungen zu betrauern. Lediglich Flaig, einer seiner Kindheitsfreunde, erkennt die Lehrer als wahren Grund für Hans Tod.

Interpretation

Hans, der mit Wissen traktiert wird, übernimmt das ihm auferlegte Leistungsdenken und wird von einem übertrieben Ehrgeiz besessen. Er sieht auf seine Mitschüler herab, was ihm unmöglich macht, echte Freundschaft zuschließen. Von August distanziert er sich, als er eine Lehre anfängt, und an Hermann, der von den Lehrern als Paria abgestempelt wird, begeht er Verrat, indem er ihn ignoriert. Er unterliegt dem Kampf zwischen Freundespflicht und Ehrgeiz. Er ist im ständigen Konflikt zwischen dem "Erwachsenwerden" und den Kindheitsfreuden, denen er doch nicht ganz entsagen will.

In seiner Verzweiflung wendet er sich der Natur, besonders dem Wasser zu. Da sein Zerfallsprozeß zu weit vorgeschritten ist, bedeutet das Symbol Wasser nicht "aufgehen" in diesem Element sondern Untergang und Tod.

"Ekel, Scham und Leid waren von ihm genommen, auf seinen dunkel dahintribenden, schmächtigen Körper, schaute die kalte, blauliche Herbstnacht herab, mit seinen Händen und Haaren und erblassten Lippen spielte das schwarze Wasser."

Wie in fast allen Werken Hesses wird auch in diesem der Prozeß der eigenen Identitätssuche dargestellt. Mit dem Tod Giebenraths und Goldmunds hat der Autor eine Phase seines Lebens noch einmal erlebt und hinter sich gebracht.

Heilner, der ebenfalls ein Außenseiter ist, flüchtet auch in die Natur und begegnet Hans. Er sieht auf die anderen herab, da er ihre Unfreiheit erkennt. Mit Hilfe seiner Phantasie und der Literatur kann er sich im Gegensatz zu Hans eine eigene Wirklichkeit schaffen. Vorerst versucht Hans in zwei Welten zu leben und seine schulischen Pflichten der Freundschaft wegen nicht zu vernachlässigen. Schließlich verliert er jede Orientierung und erleidet einen physischen Zusammenbruch. Er kann sich nicht wie Heilner vom Seminar befreien - er wird befreit. Die Flucht ins Künstlertum bleibt ihm versperrt. Wieder zu Hause erkennt er seine Isolation und auch den Raubbau, den man an ihm und seiner Kindheit betrieben hat. Er sucht alle Plätze auf, da er sich in hoffnungsfrohe Zeiten flüchten will.

In den beiden letzten Kapiteln wird er mit der Liebe und seiner Mechanikerlehre konfrontiert. Beidem ist er nicht gewachsen. Er versucht noch einmal verzweifelt, sich in die Gemeinschaft zu integrieren, es überfordert ihn allerdings, und er stirbt.

Das Buch "Unterm Rad" erfreut sich großer Beliebtheit, nicht zuletzt wegen der Zeitbezogenheit. Es kann passagenweise wie ein historisches Dokument zur Erziehungspolitik einer vergangenen Epoche angesehen werden.

Der Autor auf eigene Erlebnisse zurück; er stattet jedoch zwei Figuren, nämlich nicht nur Hans Giebenrath, sondern auch dessen Freund Hermann Heilner mit autobiographischen Zügen aus. Im Februar 1890 wurde der damals 12jährige Hesse von seinen Eltern aus Calw nach Göppingen gebracht, wo er auf der dortigen Lateinschule auf das sogenannte "Landexamen" vorbereitet werden sollte. Wie auch Hans, schaffte Hesse das Landexamen und wurde in das Seminar Maulbronn aufgenommen. Hesse wußte zunächst seinen Eltern in seinen Briefen nichts negatives zu berichten. Der Unterricht machte ihm Freude und er hatte keinerlei Lernprobleme. Beide, Heilner, wie auch Hesse, entliefen dem Seminar ohne Winterkleidung und ohne einen Pfennig in der Tasche. Auch die Bestrafung, als sie aufgefunden werden ist die gleiche: 8 Stunden Karzer. Hesse wird als Aussätziger behandelt und im Mai 1892 offiziell zur Wiederherstellung seiner Gesundheit beurlaubt. Die Beurlaubung dient aber in Wirklichkeit - wie auch in "Unterm Rad" - dazu, einen Seminaristen, der dem Leistungsdruck nicht standhält, unauffällig aus der Anstalt zu entfernen. Mit dem Austritt trat für ihn eine Zeit der Depression ein, und er litt an einer schweren Nervenkrise, in der er auch einen Selbstmordversuch unternahm.

Durch diese Gemeinsamkeiten von Hesses Leben und jenem seiner Romanfiguren wird die starke emotionelle Bindung des Autors mit seinen Werken offenbar. So betrachtet wird Unterm Rad zu einer ironischen Abrechnung mit der Schule. Hesse weist nach, dass das was Heilner und Hans persönlich widerfährt, auf Mißstände des Erziehungs- und Schulwesens im allgemeinen zurückzuführen ist.

"Wie ein Urwald gelichtet, gereinigt und gewaltsam eingeschränkt werden muss, so muss die Schule den natürlichen Menschen zerbrechen, besiegen und gewaltsam einschränken. Ihre Aufgabe ist es, ihn nach obrigkeitlicherseits gebilligten Grundsätzen zu einem nützlichen Gliede der Gesellschaft zu machen und die Eigenschaften in ihm zu wecken, deren völlige Ausbildung alsdann die sorgfältige Erziehung in der Kaserne krönend beendet"

Der Vater, Josef Giebenrath, entspricht dem gängigen Klischee des deutschen Klein- oder Spießbürgertums. Er hat keine individuellen Züge, und hätte mit jedem Nachbarn Name und Wohnung tauschen können, ohne dass eine Veränderung eingetreten wäre.

Hans und Hermann verkörpern die gegensätzlichen Komponenten einer Persönlichkeit. Mit dem Tod von Hans lässt Hesse auch den bürgerlichen Teil seiner eigenen Persönlichkeit zurück. Die Zukunft gehört der von Hermann repräsentierten Komponente. Die Rettung ist, wie auch bereits in Narziß und Goldmund dargestellt, nur durch die Kunst gegeben.

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