Um Fausts Schuld
In dem vorliegenden Text "Um Fausts Schuld" von Friedrich Gundolf wird die Schuldfrage der Figur Goethes Faust im Zusammenhang von Goethes Gesamtwerk und Erleben dargestellt, wobei die Relativität des Menschseins gegenüber dem Absoluten ebenso wie der Charakter der notwendigen Schuld hervorgehoben werden. Die Frage ist nun, welche Gedanken Gundolf dem Leser zu diesem Zentralthema des klassischen Faust präsentiert, welche Mittel er benutzt, sie ihm nahe zu bringen. Gundolf beginnt damit, den Menschen als ewig strebendes Geschöpf darzustellen, dessen ideelles Ziel zwar das Absolute, also umfassende Erkenntnis ist, das aber doch immer seinem realen, sinnlich-konkreten Leben verhaftet bleibt. Er behauptet, dass demzufolge alle Erfüllungen nur einzeln, töricht und ohne die umfassende Bedeutung sind. Der Charakter des Mephisto ist für ihn gleichzeitig Verführer zu diesen Einzelerlebnissen als auch die hämische Kritik an dem Begangenen; für Gundolf liegt das nun folgende schlechte Gewissen des Menschen nicht in religiöser, moralischer Erkenntnis, sondern in dessen Bewusstsein, seinem ursprünglichen Lebensziel nicht gerecht worden zu sein. An dieser Stelle präsentiert Gundolf Faust als Beweis dieses spannungsgeladenen Leidens, den Faust, dem Mephisto seine bloßen Augenblicke, seine Unfähigkeit als Gegensatz zum Streben nach der Erkenntnis vorhält. Auf das Verständnis dieser Faust-Problematik bezogen, erläutert Gundolf, dass Goethes Faust erst dann verstanden werden kann, wenn es in Kontext mit seinem Gesamtwerk und Goethes persönlichem Leben betrachtet wird. Er stellt das Wissen um das tiefe Erleben, Empfinden und pantheistische Gefühl Goethes als Voraussetzung zum Begreifen des Zwiespalts dar, der erst aus dem Begreifen der Unzulänglichkeit und Endlichkeit des Mensch-Seins entstanden ist. Hierzu führt er Fausts Verzweiflung in der Gelehrtentragödie an und kontrastiert sie mit Goethes Beschreibungen von der eigenen, göttlichen Schöpferkraft, die ungebunden ist, wie sie in Werken wie "Prometheus", Mahomet und Ganymed gefunden werden kann. Den zweiten Teil Fausts, die Gretchentragödie und ihre besondere Tragik ansprechend, hebt Gundolf hervor, dass trotz persönlicher Erfahrung Goethes mit einer von ihm verlassenen Frau nicht Gretchen das unselige Zentrum ist, sondern stets Faust selbst, obgleich er zugibt, dass die Tragik des Fausts direkt vom Erleben des Dilemmas der Margarethe abhängt. Gundolf spricht ihr die Eigenständigkeit des Leidens ab und beschreibt Faust als denjenigen, der demzufolge alle Verantwortung und Schuld trägt. Nach dieser Denkweise ist für ihn die Gretchentragödie nicht gesellschaftliche Konsequenz, sondern "Notwendigkeit" im ganzheitlichen Sinne des Stücks, die den Konflikt zwischen "Titanismus", dem Gottstreben Fausts, und "Eros", der Hingabe an den sinnlichen Moment, verdeutlicht. Hierbei aber wird der andere Mensch, Gretchen, zum Opfer: Faust wird schuldig. Diese Schuld aber ist laut Gundolf nicht aus Verstoß gegen Freiheit oder moralische Maßstäbe geboren, wobei er Schiller als Vertreter solcher Denkmuster erwähnt, sondern aus der Natur selbst, aus der Notwendigkeit selbst. Daraus folgert Gundolf, dass der Begriff der "Schuld" für Goethe nicht im christlichen Sinne zu verwenden ist, vielmehr stellt er die Selbstverantwortlichkeit und das Bewusstsein des Menschen als Grundlage jedes Fehlverhaltens hervor. Die Tragik, so erläutert Gundolf dem Leser, empfand Goethe als "Krankheit", nicht aber kriminelle Handlung; erst das Hineinziehen eines anderen Menschen in Krankheitsprozesse bedeutet "Schuld". Wieder betont Gundolf, dass für Goethe kein Gegensatz gegen das moralisch-Richtige vorliegt, sondern gegen das von Natur aus "Gesunde". Als letzten Punkt führt er aus, dass die "Schuld" des Faust nicht aus dem Bösen, sondern dem maßlosen Streben entsteht, dessen Leiden durch diese Schuld erst entsteht. Betrachtet der Leser nun das "Wie" dieser Kritik, fallen verschiedene Punkte der Argumentation Gundolfs besonders auf. Zunächst beginnt der Autor nicht mit einer Einführung in die Faust-Thematik, sondern bezieht sich direkt auf die Perspektive des Menschen selbst. Er präsentiert somit ein allgemein gültiges Szenario, das er etwas später mit Faust als ultimativem Repräsentanten näher erläutern kann. Der Widerspruch liegt für ihn im Streben nach Gottgleichheit und dem sinnlichen Erleben des Menschen, der sich "ködern" lässt und "festlegen", wobei der Bezug zu Mephistos Worten "Er soll mir zappeln/starren/kleben" sich aufdrängt. Kernbegriffe sind hier "absolut" und "relativ", die Gundolf beständig kontrastiert und einerseits in der "Erfüllung der Lebensaufgabe" und andererseits den "beschränkten Einzeldingen", dem faustschen "Ungenügen" exemplarisch belegt. Diese "Erfüllung d. Augenblicks" bezeichnet er als "Irrtümer", negativster Ausdruck für eine freie Entscheidung, und weist ihnen das Etikett "relativ", also bedingt, beschränkt zu. Gundolf rechnet "selbst Liebe" zu diesen "Einzeldingen", zu denen Mephisto den strebenden Menschen verführt und die ihn letzten Endes in Schuld stürzen. Gundolf bemüht sich, Mephisto als den "Verlocker" zu ebendiesen Dingen darzustellen, der allerdings "beschränkt" ist, da er selbst ebensowenig wie der Mensch Faust das Absolute greifen kann, ihn aber dennoch verpottet und ihm den Spiegel vorhält, aus dem Fausts "Spannung" entsteht. Spannung ist generell deutlich in diesem Abschnitt vorhanden, da Gundolf sowohl die Figuren Faust undMephisto als auch den Widerspruch von hohem Streben und sinnlicher Erfüllung gegenüberstellt und somit den Leser von Anfang an in diesen Konflikt hineinzieht, es ihn erleben lässt. Damit konform betont Gundolf nun, dass das "Gesamtleben" Goethes Schlüssel zum erlösenden Verständnis ist. Mit blumigen Worten nennt er seine "schönen Augenblicke"--wobei wir wiederum die Parallele zu Fausts Ausruf: "Oh Augenblick, verweile doch, Du bist so schön!" finden--die von Goethe selbst "erlebt, empfunden, vergottet" wurden. Mit diesem letzten Wort versucht Gundolf, das Gefühl Goethes wiederzugeben, das er ihm unterstellt, dass das pantheistische Gefühl des Dichters ihn das Leben mit etwas Göttlichem überziehen ließ und erst durch diese Haltung die "Vergänglichkeit" des menschlichen Strebens Goethe Schmerz bereitete. Hierzu gehört auch Gundolf Erwähnung der "absoluten Augenblicke", also die Erfüllung des menschlichen Strebens, die Goethe empfunden haben muss, um überhaupt die erwähnten Werke in Worte zu fassen. Gundolf versucht hier, mit dramatischer Sprache und impliziter Gedankenverknüpfung die Gemeinsamkeiten der Faust-Figur mit Goethe selbst noch zu unterstreichen. Die "Versenkung ins gotterfüllte All", das "gotterfüllte Führertum", die "unabhängige schöpferische Kraft" verdeutlichen diesen pompösen Anspruch auf eine allumfassende Erkenntnis. Im Zusammenhang mit diesen Phrasen ist zu sagen, dass ein Kernbegriff hierbei wohl der der "Beichte" ist: wie auch an verschiedenen anderen Stellen des Textes finden wir hier einen religiös belegten Begriff, der nicht im ursprünglich-christlichen Sinne verwendet wird, sondern hier verdeutlichen soll, wie sehr der Faust Spiegel und Bericht Goethes selbst ist. Im nächsten Teil will Gundolf betonen, dass wiederum dieser gespiegelte Faust der Mittelpunkt ist und Gretchen nur als Verdeutlichung der allgemeinen Parabel, der "kosmischen Notwendigkeit" verwendet wird. Er spricht ihr zwar nicht die Bedeutung innerhalb der Tragödie ab--sie ist ja die Verkörperung der "Schuld", die Faust in seinem Eros, dem Streben nach dem "schönen Augenblicke" auf sich lädt, verwirft aber jede autonome Bedeutung ihrer Situation und die Kritik Goethes an den bestehenden Systemen. Die zentralen Begriffe "Schuld" und "Verantwortung" werden besonders hervorgehoben, Faust allein ist ihr Träger. Entsprechend Gundolfs These, dass hier der Widerstreit der zwei Pole Titanismus und und Eros vorliegt, verkörpert Faust dieses Streben nach dem Göttlichen, dem Allumfassenden, und muss somit die gesamte Last der Bedeutung dieses Dramas--laut Gundolf--auf seinen Schultern tragen! Konsequenterweise, um dem Leser die endgültige Erläuterung der eigentlichen Frage "Was ist Fausts Schuld?" vorzustellen, erläutert Gundolf vor diesem Hintergrund von menschlichem Zwiespalt, Goethes persönlicher Erfahrung und direkt faustischem Konflikt die Schuld als ein "der Natur" entsprungenes Problem, als eine "Notwendigkeit", wenn die beiden umfassenden Prizipien aufeinandertreffen und ein anderer, "das natürlich Gesunde", betroffen ist. Wichtig ist hierbei, dass für Gundolf und, wenn man ihm Glauben schenkt, Goethe selbst, die unausweichliche Zerstörung Folge einer "Krankheit" ist. Zunächst macht hier die negative Konnotation des Begriffes den Leser stutzig, dennoch ist er bewußt verwendet, um das zwar von "Maßlosigkeit" und Hemmungslosigkeit beinflußtes, aber dennoch unausweichlich-kosmische Ende auszudrücken. Das "Gesunde" ist die Natur, aber auch das Streben entspringt ihr: der Mensch ist von einem "Naturwesen" zu einem Wesen mit Bewußtsein geworden, dennoch in das kosmische eingebettet und damit nach diesen Gesetzen nur bedingt "schuldig". Auch hier fällt Gundolfs Sprache auf, die eher dem Bereich der Aufklärung und dem Vokabular von Sturm und Drang entspricht: Goethe ist mehr als nur Autor, er ist Beichtender, der die "Schuld" seiner Figuren nicht auf der moralischen, wertenden Ebene konkretisiert, sondern laut Gundolf in ihnen selbst und auf der allgemeingültigen Ebene den Menschen darstellt. Zu dieser Kritik an Faust ist zu sagen, dass sie umfassend die Schuldfrage des Faust beleuchtet und erhellt; dennoch sind die Grenzen Gundolfs Sichtweise deutlich. Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass Gundolf nicht nur ein Kenner der Figur des Faust, sondern auch der Goethes selbst ist. Mehr als deutlich kommt hier die unendliche Wertschätzung dieses Werkes, aber auch des "Dichterfürsten" selbst zum Ausdruck. Die Parallelen zu Goethes Leben sind einleuchtend, doch an der Stelle, an der Goethe selbst die Wertung aller seiner Stücke offenließ, bezieht Gundolf eine eindeutige Stellung. Er betont nicht nur die allgemeingültige Wichtigkeit, die sicherlich in Goethes Sinne war, sondern hebt Faust zu einer Ebene empor, die ihn in der Tat eher zum "Titan" werden lässt als zum von Mephisto verführten Menschen. In seiner Geringschätzung einer eigenständigen Figur des Gretchens ist es möglich, seinen Text eher der Zeit des Nationalsozialismus als der heutigen, stärker reflektierenden Zeit zuzuordnen. Fausts Schuld ist für Gundolf ja letzten Endes nicht die wirkliche, menschliche Schuld, sondern eine Verkettung "kosmischer" Umstände, die aus vielleicht "Maßlosigkeit", gewiß aber nicht wirklichen Fehlern entstanden sind. Diese apologetische Haltung zur Schuldfrage ist heute umstritten; auch ich selbst denke, dass von unserer Perspektive aus die Figur des Faust nicht verklärt, sondern reflektiert werden sollte, ohne das unbestritten großartige Werk Goethes in irgendeiner Form zu mißhandeln. Gundolf hat sicherlich eine Kritik zu Faust geschrieben, die in ihrer Haltung nachdenklich macht, doch wie auch er ein Kind seiner die Großartigkeit verehrenden Zeit war, so dürfen auch wir heute sicherlich die eher nachdenklich-kritische Position zur Schuldfrage der Figur des Faust beziehen.
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