Das Urteil

Es ist ein Sonntagvormittag im schönsten Frühjahr. Georg Bendemann, ein junger Kaufmann. Er hat gerade einen Brief an seinen sich im Ausland befindenden Jugendfreund beendet, und sieht aus dem Fenster. Er denkt über seinen Freund nach, der sich schon vor Jahren nach Rußland förmlich geflüchtet hat. Nun betreibt er ein Geschäft in Petersburg, das anfangs sich sehr gut angelassen hat, seit langem aber schon zu stocken scheint. Man sollte ihm vielleicht raten, wieder nach Hause zu kommen, aber das bedeutet, dass man ihm gleichzeitig, je schonender, desto kränkender, sagt, dass seine bisherigen Versuche mißlungen sind. Unter den gegebenen Umständen ist es vielleicht doch besser, er bleibt in der Fremde, so wie er ist.

Georg hat seinem Freund in allen seinen Briefen nur über belanglose Dinge geschrieben. Weder den Aufstieg des Geschäftes, das er gemeinsam mit dem Vater führt, noch seine Verlobung und baldige Heirat, hat er ihm mitgeteilt. Aus Rücksicht auf seine Gefühle. Seine Verlobte, das Fräulein Frieda Brandfeld, will den Freund in der Ferne aber gerne kennenlernen und die Hochzeit bietet sich als Anlass an. Nach kurzem Überlegen entschließt sich Georg doch, dem Freund von der Hochzeit zu schreiben und ihn zu einem Besuch einzuladen. "So bin ich und so hat er mich hinzunehmen", sagte er sich.

Er steckt den Brief in die Tasche und geht in das Zimmer des Vaters. Selbst an diesem sonnigen Vormittag ist es in dem Zimmer dunkel. Der Vater begrüßt ihn freundlich und

Georg erzählt von dem Brief und der Einladung an seinen Freund in Petersburg. Daraufhin stellt der Vater die Existenz des Freundes in Rußland in Frage, und bezichtigt Georg ein Spaßmacher zu sein, der sich auch ihm gegenüber nicht zurückhalten kann. Georg versucht ihn zu beruhigen und überredet ihn, sich niederzulegen. Er entkleidet den Vater und trägt ihn zu seinem Bett. Doch nachdem er den Vater zugedeckt hat, schleudert der Vater die Decke von sich und sitzt aufrecht im Bett. Er beginnt von dem Freund in Rußland als einen Sohn nach seinem Geschmack zu erzählen und beschuldigt Georg in unterkriegen zu wollen, weil er eine Frau heiraten will, mit der er nur zusammen ist, weil sie "die Röcke gehoben" hat.

Der Freund sei nun doch nicht verraten, da er ihm über alle Neuigkeiten genauestens geschrieben hat. Die Briefe Georgs zerreiße er ungelesen in der linken Hand. Er wisse alles tausendmal besser als Georg. Der Vater verurteilt ihn als teuflischen Menschen und lässt ihn wissen, dass er ihn zum Tode des Ertrinkens verurteilt.

Georg fühlt sich aus dem Zimmer gejagt und läuft zum Fluß. Er schwingt sich über das Geländer, hält sich aber noch kurz fest und sagt: " Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt". Dann lässt er los und fällt in den Tod.

Interpretation

In dieser Geschichte stehen sich Vater und Sohn wie zwei Duellanten gegenüber. Der Sohn scheint der Überlegene zu sein. Er hat den alten, verwitweten Vater praktisch entmachtet, er hat die Leitung des Geschäftes übernommen und Erfolg gehabt. Er hat sich verlobt, bereitet sich also darauf vor, sich auch im privaten Bereich die Rolle eines Familienoberhauptes anzueignen. Georg Mendemanns Illusionen werden zerstört. Sein Vater erweist sich als immer noch "zu stark" für ihn, er ist "immer noch ein Riese". Als einen solchen Riesen hat Kafka sich oft den eigenen Vater vorgestellt.

Die Geste des Hochhebens und Tragens kommt auch in Das Urteil vor. Nur ist es hier der Sohn, der sie ausführt und den anderen in das Bett hineinträgt, so wie man es mit einem kranken Kind macht. Gerade auf dem scheinbaren Höhepunkt seines Triumphes angelangt, wird der Sohn mit einigen wenigen Schlägen vernichtet. Er wird angeklagt und kann sich mit Worten nicht verteidigen. Auch hier führt ein Linie zu Kafkas Erlebnissen mit dem eigenen Vater zurück: "Die Unmöglichkeit des ruhigen Verkehrs hatte noch eine weitere eigentlich sehr natürliche Folge: ich verlernte das Reden. Ich wäre ja wohl auch sonst kein großer Redner geworden, aber die gewöhnlich fließende menschliche Sprache hätte ich doch beherrscht. Du hast mir aber schon früh das Wort verboten. Deine Drohung: "kein Wort der Widerrede!" und die dazu erhobene Hand begleitete mich seit jeher."

Der leibliche Sohn wird verdammt. Georg Bendemann vollzieht das Urteil an sich selbst, er ist zu schwach, um dem Spruch des Vaters zu widerstehen. Er ist nicht wirklich schuldig, aber in ihm ist Schuldbewußtsein erzeugt worden.

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