Stimmbildung
1. Phonationsvorgang
Unter Phonation wird in der Phonetik der Prozeß der Stimmerzeugung verstanden, der im Kehlkopf stattfindet. Stimmerzeugung ist aber nur eine Sekundärfunktion des Kehlkopfes, der primär für die Kontrolle des Luftstromes beim Atmen verantwortlich ist.
Der Kehlkopf ermöglicht darüberhinaus den Ablauf von lebenswichtigen Prozessen wie Schlucken (Schutz vor dem Eindringen der Speise in die Atemwege) und die Akkumulation des Luftdruckes in den Lungen (notwendig für Tätigkeiten wie Husten, Erbrechen, Darmentleerung und Heben von schweren Gegenständen).
Der Phonationsvorgang geht folgendermaßen vor sich: Durch den subglottalen Druck werden die bis dahin geschlossenen (aneinanderliegenden) Stimmlippen in Schwingung gesetzt. Die Stimmlippen öffnen sich dem Luftdruck nachgebend von unten nach oben und schließen sich schnell wieder.
Für den Schließvorgang ist außer der Muskelaktivität im Kehlkopf der sog. Bernoulli-Effekt verantwortlich. Das von Bernoulli (Schweizer Mathematiker und Physiker) im 18. Jh. entdeckte physikalische Gesetz besagt, dass wenn Gase oder Flüssigkeiten durch eine Enge strömen, ihre Geschwindigkeit steigt. Gleichzeitig findet an der Verengung ein Druckabfall statt und zwar senkrecht zu der Richtung des Stromflusses.
Genau diesem Prinzip folgen die Stimmlippen, die sich nach dem kurzen Druckabfall in der vorbeiströmenden Luft wieder schließen. Kurz danach werden sie aber wegen des weiter bestehenden subglottalen Druckes abermals auseinandergesprengt - somit wird der nächste Phonationszyklus angefangen. Die Dauer eines solchen Zyklus ist sehr kurz, so dass die Vorgänge nur mit Schnellbildkameras beobachtet werden können. Eine Männerstimme weist die Frequenz von durchschnittlich 125 Hz auf, eine Frauenstimme über 200 Hz und eine Kindesstimme über 300 Hz. Diese Werte werden als Grundfrequenzen der Stimmlippenschwingung (F0) bezeichnet. Die Schwingungsfrequenz ist auch von der Masse und Länge der Stimmlippen abhängig.
Die Länge der Stimmlippen bei Frauen beträgt 13 bis 17mm, bei Männern 17 bis 24mm. Die Grundfrequenz steigt auch an, wenn die Simmlippen gespannt und gedehnt werden (max. Dehnungskapazität beträgt 4mm). Eine tiefe Basstimme hat eine mittlere Schwingungsfrequenz von ca. 80 Hz, eine hohe Sopranstimme eine von über 1000 Hz. Ein anderer - die Schwingungsfrequenz bestimmender - Faktor ist der subglottale Druck. Seine Stärke wirkt sich auf die Frequenz und die Intensität der Stimme aus. Bei hohem subglottalen Druck bleiben die Stimmlippen für 30 bis 50% des Zyklus offen, bei niedrigerem subglottalen Druck erreichen diese Werte 50 bis 70% der Zeit eines Zyklus.
2. Kehlkopfeigene Sprachlaute
Einige Laute werden primär im Kehlkopf selbst gebildet. Zu diesen gehören:
[ ? ] - Der glottale Verschluß, die Stimmlippen werden unter einem erhöhten subglottalen Druck gesprengt. Im Deutschen bekannt als "fester Einsatz", der häufig vor initialen Vokalen verwendet wird.
[ h ] - Glotttaler stimmloser Engelaut, im Deutschen bekannt. Dieser Hauchlaut wird stark von der Lautumgebung (folgender Vokal) gefärbt.
[ h\ ] - Glottaler stimmhafter Engelaut - die Stimmlippen vibrieren bei vorhandener teilweiser Öffnung wie z.B. in engl. behind.
3. Einzelne Stadien des Phonationsvorgangs
Genauer betrachtet können folgende Stadien im Phonationsvorgang unterschieden werden:
Über den zehnten Gehirnnerv (N. Vagus) werden verschiedene Muskeln aktiviert, so der M. cricoarytaenoideus posterior (Posticus), der die Stimmlippen öffnet, bevor der Brustkorb erweitert wird - die Luft fängt an die Lungen zu füllen. Auf gleichem Wege wird der M. interarytaenoideus aktiviert - die Stimmlippen schließen sich. Ebenfalls über den zehnten Gehirnnerv wird der M. cricoarytaenoideus lateralis aktiviert - die Stimmlippen werden in der Mitte (muskulöser Teil der Stimmlippen) zusammendrückt. Gleichzeitig steigt der subglottale Druck. Der M. vocalis trägt noch zur Aufrechterhaltung der internen Spannung der Stimmlippen bei, die dem steigenden subglottalen Druck widerstehen müssen. Der äußere Zweig des oberen laryngalen Nerves aktiviert den M. cricothyroideus, der seinerseits zur Aufrechterhaltung der vertikalen Spannung der Stimmlippen beiträgt. Kurz danach geben die Stimmlippen dem angestiegenen subglottalen Druck nach und die Glottis öffnet sich - ein Luftstoß gelangt in das Ansatzrohr. Der Bernoulli Effekt trägt dazu bei, dass die Stimmlippen wieder zusammengebracht werden und der Luftstrom abgebrochen wird. Der subglottale Druck steigt wieder und die Stimmlippen öffnen sich nach kurzem Widerstand.
Wichtig ist zu wissen, dass der Phonationsvorgang ein myoelastisch-aerodynamischer Prozeß ist, d.h. die Stimmlippen werden durch den subglottalen Druck, die Muskelkontraktion und den Bernoulli Effekt in Schwingung gesetzt und nicht durch einzelne Nervenimpulse, wie es Husson in seiner neurochronaxischen Theorie 1950 fälschlich behauptete. Die Nervenimpulse tragen lediglich zur Aufrechterhaltung der inneren Spannung der Stimmlippen bei.
4. Stellungen der Glottis
Die Glottis kann verschiedene Stellungen annehmen, von welchen die oben beschriebene Stimmhaftigkeit beim Phonationsvorgang nur eine ist. Folgende Glottisaktivitäten können unterschieden werden.
Stimmlosigkeit
Die Stimmlippen bilden eine Öffnung (sowohl der muskulöse und der knorpelige Teil) und vibrieren nicht. Der Luft strömt in sehr kleinen Mengen durch die Glottis oder es ist kein Luftstrom vorhanden. Beispiele für so gebildete Sprachlaute: nicht aspirierte Plosive, stimmlose Frikative, entsonorisierte Vokale und Nasale.
Stimmhaftigkeit
Die Glottis ist in ihrer ganzen Länge verschlossen, der muskulöse und der knorpelige Teil der Stimmlippen vibrieren. Als Beispiel können alle stimmhaften Laute dienen.
Aspiration
Die wie bei Stimmlosigkeit geöffneten Stimmlippen bewegen sich so, dass die Stimmritze langsam verschlossen wird. Während dieser mit dem Lösen des Verschlußes im Mundraum koordinierten Bewegung ist ein Hauchlaut hörbar. Beispiele: aspirierte Verschlußlaute.
Murmelstimme (behauchte Stimme):
Der muskulöse Teil der Stimmlippen vibriert aber durch den offenen knorpeligen Teil entweicht eine große Luftmenge. Behauchte Stimme kann auch erzeugt werden, wenn der muskulöse Teil mehr oder weniger offen bleibt, wobei die Stimmlippen ohne Berührung vibrieren. In der Medizin gilt ständige Präsenz von Murmelstimme beim Sprecher als pathologisch. Beispiele für behauchte Sprachlaute in engl. ahead, behind.
Laryngalisierung (creaky voice, vocal fry)
Der knorpelige Teil der Stimmlippen ist fest verschlossen, ein Teil der muskulösen Stimmlippen ist offen und vibriert mit geringer Amplitude (40 bis 90Hz) so dass einzelne Glottisschläge wahrnehmbar sind. Pathologisch ist diese Glottisstellung als brüchige oder knarrige Stimme bekannt. Phonologisch gesehen werden in manchen Sprachen Afrikas (z.B. Hausa) mit Hilfe der Laryngalisierung Plosive voneinander unterschieden.
Glottalisierung
Ein glottaler Verschluß wird unmittelbar nach dem Lösen eines oralen Verschlußes gelöst. Beispiele: [p], [t], [k].
Flüsterstimme
Sowohl stimmhafte wie auch stimmlose Laute können geflüstert werden. Die Glottisöffnung ist bei den normal stimmhaften Lauten etwas geringer als bei den normal stimmlosen. Die Glottisöffnung und der Luftverbrauch sind relativ hoch, die geräuschhafte Anregung beim Flüstern wird entweder durch die Öffnung des knorpeligen oder des muskulösen Teils der Glottis realisiert.
5. Luftstrommechanismen
Neben den diversen Glottisstellungen muss bei der Stimmbildung noch der Aspekt der verschiedenen Luftstrommechanismen berücksichtigt werden. Gefragt wird hier nach der Art, in der Sprachlaute zustandekommen sowie nach der Richtung des Luftstromes. Drei Mechanismen sind für die Lautbildung relevant: der pulmonale, der glottale und der velare.
Die meisten bekannten Sprachlaute werden mit dem pulmonalen egressiven Mechanismus gebildet. Sie entstehen, indem die in den Lungen vorhandene Luft unter der Wirkung des Zwerchfells und der im Brustkorb präsenten Muskeln herausgepreßt wird. Der Luftstrom erreicht dann die Glottis und die darüberliegendenen Teile des Sprechapparates. Die Qualität der so entstehenden Sprachlaute hängt von der Aktivitäten der Glottis und der anderen Artikulatoren (Zunge, Lippen etc.) ab. Alle Sprachlaute des Deutschen und des Englischen werden auf diese Weise produziert.
Eines glottalen Luftstrommechanismus in der egressiven und der ingressiven Variante bedienen sich zum Beispiel manche Sprachen Afrikas und einige Indianersprachen Amerikas. Zur Erzeugung eines ejektiven (bei egressiver Richtung) oder implosiven (bei ingressiver Richtung) Sprachlautes bedarf es zweier Verschlüsse im Vokaltrakt, wobei einer von beiden aber der glottale sein muss. Die Glottis fungiert hier als Initiator, der entweder durch die Bewegung nach oben die Luft zusammendrückt oder sie durch die Bewegung nach unten leicht verdünnt, wobei sich jeweils der andere höher gelegene Verschluß löst. Als Ergebnis dieser Tätigkeit entsteht ein Laut von einer für den Europäer sonderbaren Qualität.
Schnalzlaute entstehen im ingressiven velaren Luftstrommechanismus. Für diesen Mechanismus ist ebenfalls ein Doppeltverschluß charakteristisch, einer davon im velaren Bereich, der andere weiter vorne im Mundraum. Die eingeschlossene Luft wird durch eine Senkung der Zunge verdünnt, wonach der hintere (velare) Verschluß gelöst und die Luft nach innen gepreßt wird. Eine laterale oder nasale Qualität eines Schnalzlautes ist möglich.
Literatur
Borden, G. et al. (1994) Speech Science Primer, Baltimore: Williams & Wilkins, Kap. 4
Ladefoged, P. (1993) A Course In Phonetics, 3rd Edition, Forth Worth: Harcourt, S. 129-137
Pétursson, M., Neppert, J. (1991) Elementarbuch der Phonetik, Hamburg: Buske, S. 70-76
Sonesson, B. (1968) The functional anatomy of the speech organs, In: Manual of Phonetics, ed.: B. Malmberg, Amsterdam: North-Holland, S. 45-75
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