Emilia Galotti

Adelswelt und Bürgertum im 18. Jahrhundert am Beispiel von Lessings "Emilia Galotti"

(Literarische Erörterung)

Gotthold Ephraim Lessing wurde als Sohn eines Pfarrers am 22. Januar1729 in Kamenz in der Oberlausitz geboren. Nach dem Besuch der Fürstenschule in Meißen besuchte er mit 17 Jahren die Universität Leipzig und studierte dort Theologie, Medizin und Philosophie. Schon früh nahm er mit der Theatertruppe der Caroline Neuberin, die Lessings 1747 geschriebenes Drama "Der junge Gelehrte" spielte, Beziehungen auf. 1752 schloss er in Wittenberg sein Studium mit dem Magisterexamen ab. 1752 bis 1755 sowie 1758 bis 1760 lebte er als freier Schriftsteller, in erheblichen finanziellen Schwierigkeiten, die ihn von da an sein ganzes Leben lang verfolgten, in Berlin²).

Während dieser Zeit verkehrte er vor allem mit Nicolai, Ramler und dem Philosophen Moses Mendelsohn, um mit ihnen zu diskutieren. Zur Zeit des Siebenjährigen Krieges war er für fünf Jahre Gouvernementsekretär des Generals von Tauentzien in Breslau. Die dort gemachten Beobachtungen verarbeitete Lessing in dem 1767 veröffentlichten Drama "Minna von Barnhelm". Im selben Jahr folgte Lessing einem Ruf an das neugegründete Hamburger NationalTheater als Dramaturg und Kritiker. In den drei Jahren dort entsteht seine "Hamburgische Dramaturgie" hervor. Nach dem Zusammenbruch dieser Bühne wurde er 1770 in Wolfenbüttel Bibliothekar des Herzogs von Braunschweig. 1776 heiratete Lessing Eva König, die bereits ein Jahr später starb. Mit dem dramatischen Gedicht "Nathan der Weise" von 1779 krönte Lessing seinen Ruhm als Theaterdichter. Auf einer Reise nach Braunschweig starb er am 15. Februar 1781 im Alter von 52 Jahren.

Eines der wichtigsten Werke Lessings ist das Trauerspiel "Emilia Galotti". Es handelt davon, wie "eine bürgerliche Familie zwischen den Ansprüchen ihrer eigenen privaten Moral und der mit politischer Macht verbundenen skrupellosen höfischen Unmoral zerrieben wird"3).

1) Internet -> Diskette

2) Mahnert, Detlev, Lektüre - Durchblick : Gotthold Ephraim Lessing, Emilia Galotti, München, 1. Aufl., 2000, S. 4 oben

Anhand dieses Werkes können auch auf hervorragende Weise Aussagen über die Welt des Adels und des Bürgertums im 18. Jahrhundert getroffen werden, sowie über Konflikte zwischen diesen beiden gesellschaftlichen Schichten.

Der Adel hat zu dieser Zeit die gesamte Macht inne, egal welche Bereiche der Politik oder Gesellschaft man betrachtet; diesen gesellschaftlichen Status nutzt er auch hemmungslos aus. Da die Adeligen in dem absolutistischen Regime keine Rücksicht auf andere nehmen müssen, handeln sie egoistisch. In Lessings Werk "Emilia Galotti" wird dies an der Tatsache verdeutlicht, dass sich der absolutistische Fürst Hettore Gonzaga herausnimmt, die Verlobte und künftige Frau des politisch weniger mächtigen Grafen Appianis für sich als Mätresse zu verlangen, der zwar Adelig ist, jedoch durch seine Moral eindeutig das Bürgertum vertritt. Dabei nimmt er keine Rücksicht auf den Grafen, der somit seine künftige Ehefrau verlöre 1). Dies zeigt wie egoistisch und besitzergreifend der Prinz handelt. Dieses Agieren kann man übertragen auf den gesamten Adel, da der Prinz ein exemplarischer Vertreter für sämtliche Fürsten der Klein- und Kleinststaaten im Deutschland des 18. Jahrhunderts ist.

In diesem Zusammenhang ist auch die verkommene Moral des Adels zu erwähnen. Das Mätressenwesen, d.h., dass der Adelige neben der Ehefrau, die meist nur aus politischen Gründen geheiratet wurde, noch eine Geliebte hat, die auch beliebig oft gewechselt werden kann, ist zu der Zeit - unter den Adeligen, nicht im Bürgertum! - allgemein anerkannt. Zu Beginn des Dramas ist noch Gräfin Orsina die Gespielin des Fürsten, dieser will sie jedoch durch Emilia "ersetzen" und kümmert sich überhaupt nicht mehr um Orsina. Sie ist "für [ihn] keine einzige Lüge mehr"2)wert. Dieses Verhalten erscheint umso bemerkenswerter als der Adel das Mätressenwesen akzeptiert, obwohl es im krassen Gegensatz zu dem steht, was die Kirche lehrt und mit dem sechsten Gebot postuliert: "Du sollst nicht ehebrechen" 3) .

Ein ganz anderes Gebot, das noch viel wichtiger ist, wird auch ohne jegliche Skrupel gebrochen, nämlich das fünfte: "Du sollst nicht töten" 4). Das Leben von Nichtadeligen und Adeligen bedeutet nichts für den Prinzen. Im achten Auftritt des ersten Aktes soll der Prinz ein Todesurteil unterschreiben und würde dies auch ohne darüber nachzudenken tun, würde nicht sein Rat Camillo vortäuschen, das Papier nicht mitgebracht zu haben 5).

Ein anderer Gesichtspunkt ist, dass der Adel jeglichen Respekt vor dem "Eigentum" anderer verlo-

1) Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Stuttgart, 1994, S. 16

2) Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Stuttgart, 1994, S. 57, Z. 27

3) Die Bibel, Herder Verlag Stuttgart, 1980, S. 72

4) Die Bibel, Herder Verlag Stuttgart, 1980, S. 72

5) Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Stuttgart, 1994, S. 18

ren hat. Der Prinz bricht neuerlich ein Gebot, diesmal ist es, dass man nicht die Frau seines Nächsten begehren solle1). Appiani und Emilia sind zwar noch nicht verheiratet, aber die Ehe ist beschlossene Sache und soll binnen weniger Stunden besiegelt werden. Also bricht Hettore Gonzaga auch hier eine christliches Gesetz.

Diese Beispiele zeigen dem Leser deutlich die Falschheit und Verlogenheit des Adels in Bezug auf die Moral. Einerseits lebt er in einer sehr christliche geprägten Welt im äußerlichen Einvernehmen mit der Kirche, andererseits scheren sich große Teile des Adels offenbar nicht im geringsten darum, deren Gebote einzuhalten.

Ganz anders dagegen ist das Verhältnis des Adels zur Kunst. So ist es dem Prinzen wichtig, dass in "[s]einem Gebiete [...] die Kunst nicht nach Brot gehen" 2)solle - womit er sich gleichzeitig aus der Menge (der anderen Fürsten) hervorheben will -, d.h., dass in seinem Fürstentum Kunst nicht vom Geld abhängig sein soll, sondern einen höheren Rang einnimmt als dieses.

Weiterhin glaubt der Prinz etwas von Kunst zu verstehen - deshalb fördert er sie auch (ansonsten ist er aber dekadent und schwach, womit Lessing einen typischen "Möchtegern - Renaissancefürsten" in dem Prinzen gezeichnet hat3)):

"Der Prinz (nach kurzer Betrachtung). Vortrefflich, Conti - ganz vortrefflich! - Das gilt ihrer Kunst, Ihrem Pinsel. - Aber geschmeichelt, Conti; ganz unendlich geschmeichelt!"4)

Die folgende Szene macht ein weiteres Charakteristikum des Adels im 18. Jahrhundert deutlich - seinen maßlosen, zur Prasserei neigenden Lebensstil: Der Maler Conti, der das Portrait Emilias und Orsinas gezeichnet hat, darf sich "soviel [er] w[ill]"5)für sein Bild nehmen, d.h., er wird sehr reichlich bezahlt. Dieses Verhalten haben sich die Fürsten dieser Zeit von dem großen Vorbild aus Frankreich, Ludwig "Louis" XIV. abgeschaut, der sehr viel Wert auf Prunk und Kunstvolles legte und dafür enorme Mengen an Geld ausgab.

Ein weiteres Merkmal des Adels ist, dass er versucht möglichst bequem und komfortabel durch das Leben zu kommen. Beim Lesen der Textstelle, an der der Prinz nebenbei ein Todesurteil unterschreiben will, fällt auf, dass er sich nicht im geringsten mit der Problematik des Urteils auseinandersetzen, sondern das Dokument einfach nur unterschreiben will6), sich also auf das Nötigstebeschränkt, indem er die Tötung eines Menschen zum reinen Verwaltungsakt degradiert.

1) Die Bibel, Herder Verlag Stuttgart, 1980, S. 72

2) Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Stuttgart, 1994, S. 11, Z. 6 ff

3) Mahnert, Detlev, Lektüre - Durchblick : Gotthold Ephraim Lessing, Emilia Galotti, München, 1. Aufl., 2000, S. 44

4) Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Stuttgart, 1994, S. 7, Z. 21 ff

5) Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Stuttgart, 1994, S. 11, Z. 15

6) Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Stuttgart, 1994, S. 18, Z. 18

Ein Vorgang, der mehr als 150 Jahre später unter der Hitler-Diktatur vom deutschem "Geist" perfektioniert werden sollte.

Alles was der Prinz nicht unbedingt selbst erledigen muss, gibt er aus der Hand. Ja er ist sogar zu faul für sich selbst zu denken und fordert deshalb Marinelli auf: " [...] denken sie für mich"1). Aus Bequemlichkeit lässt der Adel andere für sich arbeiten und denken. Meist hatten Adelige einen engen Vertrauten, hier Marinelli, der für sie diese Aufgaben übernahm. Er ist so etwas wie ein "Butler, Gesellschafter, Quartiermeister, Botschafter, Ratgeber und Mann fürs Grobe..."2)in einer Person und dient dem Fürsten.

Lessings Werk lässt auch deutlich werden, dass der Prinz eindeutige Unternehmungen und den eigenen Lustgewinn den politischen Aufgaben vorzieht und dadurch seine Rolle als Herrscher vernachlässigt.

Das alles überragende Charaktermerkmal des Adels ist jedoch die Willkür seiner Herrschaft. In der Exposition des Dramas etwa gewährt der Prinz Emilia Bruneschi die Bittschrift lediglich deshalb, weil ihr Vorname Emilia ist: "Was will sie, diese Emilia Bruneschi? (Er lieset.) Viel gefordert, sehr viel. - Doch sie heißt Emilia. Gewährt!" 3) .Dass es sich bei all diesen Bittschriften um Einzelschicksale handelt, ist dem Prinzen egal, er handelt nach Lust und Laune, völlig willkürlich.

Auch die Skrupellosigkeit mit der der Fürst regiert ist signifikant. Die bereits erwähnte Szene, in der Gonzaga das Todesurteil unterschreiben will, zeigt, wie kalt und grausam er über seine Untertanen regiert. Camillo Rota, ein Berater des Prinzen, ist erstaunt, dass der Prinz ein Schicksal mit einem Federstrich so einfach besiegeln will. Er betont deshalb extra, dass es sich um ein Todesurteil handle. Der Fürst ist sich dessen jedoch sehr wohl bewusst und behandelt die Sache dennoch so, als handle es sich um eine Lappalie 4).

Dass der Adel beim Regieren nicht an jene denkt, für die er "sorgt" - seine Untertanen -, sondern an sich selbst, wird in dem ersten Auftritt des ersten Aufzugs klar. Hier beschwert sich der Prinz über seine mühselige Arbeit, um ihr anschließend zu entfliehen, indem er den Maler eintreten lässt. Statt sich allerdings anschließend erneut der Arbeit zuzuwenden, kümmert er sich lieber um seine eigenen Angelegenheiten5).

1) Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Stuttgart, 1994, S. 16, Z. 21f.

2) Mahnert, Detlev, Lektüre - Durchblick : Gotthold Ephraim Lessing, Emilia Galotti, Mentor München, 1. Aufl., 2000. S. 47

3) Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Stuttgart, 1994, S. 5, Z. 12 ff.

4) Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Stuttgart, 1994, S. 18, Z. 15 ff.

5) Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Stuttgart, 1994, S. 5-11

Das Gegenstück zum Adel des 18. Jahrhundert bildet in vielen Punkten das Bürgertum. Die Bürger sind dem Adel untergeben, und müssen deshalb seine Befehle befolgen. Sie sehen in ihrer politischen Ohnmacht allerdings nicht den Anlass dafür, gegen den Adel zu revoltieren. So soll etwa Graf Appiani - der zwar eigentlich adelig ist, durch seine moralischen Werte allerdings das Bürgertum vertritt - auf "de[n] Befehl des Herrn" 1) hin nach Dosaloreisen, nur weil dies zum Plan des Prinzen gehört.

Im Drama sieht man deutlich, dass die Bürger vom Adel abhängig sind, als sich der an Kunst interessierte Prinz mit dem bürgerlichen Maler Conti unterhält, der ein Bild von Orsina malen soll: "Conti: Prinz, die Kunst geht nach Brot." 2). Diese Aussage bedeutet, dass der Prinz sozusagen der "Brotgeber" für den Maler ist und dieser damit vom Fürst Gonzaga abhängig ist.

Lessings "Emilia Galotti" öffnet auch den Blick für das Familienleben seiner Zeit: Der Vater ist das "unangefochtene" Oberhaupt der Familie und "regiert" - ähnlich wie der Fürst über das Land - über seine Familie. Da der Vater der einzige Geldverdiener ist, ist die Familie wirtschaftlich von ihm abhängig und respektiert deshalb seine Entscheidungsgewalt ebenso wie die Gesellschaft. In Lessings Werk kommt deshalb der Vater kurz vor der Hochzeit Emilias noch einmal nach Hause - normalerweise lebt Odoardo außerhalb der Stadt getrennt von seiner Frau und seinem Kind - um zu kontrollieren, ob die "dummen" Frauen alles richtig gemacht haben3): "wie leicht vergessen sie etwas, fiel mir ein"4). Dass der Vater das Recht hat, andere zu bestrafen, sieht man an der verängstigten Aussage Claudias" "Zürnen Sie nicht, mein Bester" 5). Das Zitat macht ferner deutlich, dass Frau und Tochter den Vater mit "Sie" anreden, während er sie duzt 6). Ein Hinweis auf die "Ranghöhe" des Vaters.

Die Erziehung ist autoritär, wie die beiden folgenden Aussagen erkennen lassen:

"Sie wissen, meine Mutter, wie gern ich Ihren besseren Einsichten mich in allem unterwerfe."7)

"Nun ja, meine Mutter! Ich habe keinen Willen gegen den Ihrigen."8)

Durch diese Erziehung soll Emilia Teil der funktionierenden Familie werden, und durch die so erlernte Disziplin später in der bürgerlichen Welt zurechtkommen.9) Ein Element dieser heilen Bürgerwelt ist die sexuelle Unberührtheit bis zur Vermählung. Sie zu garantieren ist Aufgabe des Vaters.10)

1) Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Stuttgart, 1994, S. 33, Z. 33

2) Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Stuttgart, 1994, S. 6, Z. 16

3) Mahnert, Detlev, Lektüre - Durchblick : Gotthold Ephraim Lessing, Emilia Galotti, München, 1. Aufl., 2000, S. 50

4) Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Stuttgart, 1994, S.19, Z. 21

5) Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Stuttgart, 1994, S. 20, Z.1

6) Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Stuttgart, 1994, S. 20, Z.4

7) Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Stuttgart, 1994, S. 27, Z. 37f.

8) Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Stuttgart, 1994, S. 28, z. 6f

9) Mahnert, Detlev, Lektüre - Durchblick : Gotthold Ephraim Lessing, Emilia Galotti, München, 1. Aufl., 2000, S. 52 f

10) Mahnert, Detlev, Lektüre - Durchblick : Gotthold Ephraim Lessing, Emilia Galotti, München, 1. Aufl., 2000, S. 53

Das Auffälligste am Bürgertum ist jedoch die Moral, nach der gelebt wird. Sie ist größtenteils völlig überzogen und übertrieben, und bildet somit oft den genauen Gegensatz zu der Unmoral des Adels - was auch "Absicht" des Bürgertums ist, da man sich so vom Adel unterscheiden, ja gar von ihnen abheben will. Dies ist damit erklärbar, dass die Bürger dem Adel politisch untergeben sind und sich dessen sehr wohl bewusst sind. Deshalb suchen sie Bereiche, in denen sie sich über den Adel stellen können.

Die beim Adel verloren gegangene Gläubigkeit ist im Bürgertum zu dieser Zeit sehr stark ausgeprägt. Emilia geht an dem Tag ihrer Hochzeit in die Kirche, um dort "Gnade von oben zu erflehen" damit alles gut verlaufen wird an diesem Tag.1)Auch macht die Redewendung Claudia Galottis, der Mutter von Emilia, "O gesegnet sei" 2)deutlich, dass die Bürger stets an Gott denken.

Ferner sind v.a. die Männer sehr stolz auf ihre Ehre. Als Marinelli Appiani zum Duell auffordert - "Graf ich fordere Genugtuung"3) - lehntdieser nicht feige ab oder sucht Ausflüchte wie "Marinelli [] der sich losreißt und abgeht" 4)- der quasi als Adeliger im Auftrag des Prinzen handelt! - sondern will gleich gehen: "Kommen Sie, kommen Sie!" 5).

Im Gegensatz zum Adel ist das Bürgertum sehr gefühlvoll und bringt das auch durch die Sprache zum Ausdruck. Synonyme, die betonend wirken, wie "Teuerste" 6)oder Hyperbeln wie "größter Stolz"7)veranschaulichen, wie das Geschehen die Akteure mitnimmt.

Die Sexualmoral des Bürgertums ist jedoch das, was mit am meisten auffällt. Eine Frau wird nur "anerkannt", wenn sie bis zur vom Vater vermittelten8)Ehe ihre Jungfräulichkeit nicht verliert. Dass Emilia voll und ganz von diesen Tugenden überzeugt ist, zeigt der siebte Auftritt des fünften Aufzugs, in der sie den Tod der Verführbarkeit vorzieht. Geschlechtsverkehr außerhalb der Ehe ist streng verboten. Sexualität ist nur für die Fortpflanzung "nützlich". Dass diese Moral zweifelsohne begründbar ist, formuliert fünf Generationen nach Lessing im 20. Jahrhundert Sigmund Freud. Nach ihm

"ist es der - zeitweilige - Verzicht auf Triebbefriedigung, der erst Kultur und Zivilisation möglich gemacht hat. Insofern sind die strengen Moralvorstellungen des erwachenden deutschen Bürgertums durchaus eine Voraussetzung für seinen wirtschaftlichen und politischen Aufstieg gewesen."9)

1) Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Stuttgart, 1994, S. 19, Z. 25 f

2) Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Stuttgart, 1994, S. 26, Z. 16

3) Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Stuttgart, 1994, S. 34, Z. 28 f

4) Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Stuttgart, 1994, S. 34, Z. 39

5) Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Stuttgart, 1994, S. 34, Z. 37f

6) Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Stuttgart, 1994, S. 28, Z. 30

7) Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Stuttgart, 1994, S. 29, Z. 5

8) Mahnert, Detlev, Lektüre - Durchblick : Gotthold Ephraim Lessing, Emilia Galotti, München, 1. Aufl., 2000, S. 53

9) Mahnert, Detlev, Lektüre - Durchblick : Gotthold Ephraim Lessing, Emilia Galotti, München, 1. Aufl., 2000, S. 53

Die Gegenüberstellung dieser unterschiedlichen Einstellungen und Verhaltensweisen der zwei gesellschaftlichen Schichten des 18. Jahrhunderts, macht deren Konflikte deutlich. So ist zum einen die stets vorhandene gegenseitige Verachtung beider Seiten füreinander auffällig. Der Adel bringt das nicht direkt zum Ausdruck, aber wie im Drama der Prinz, denken die Aristokraten, dass ein Bürger nicht mit leeren Händen zu ihm kommen dürfe, sondern immer etwas bringen müsse. Dies sieht man an der fordernden Aussage des Prinzen: "Sie kommen doch nicht leer, Conti?"1). Darüber hinaus dünkt sich der Adel aufgrund seiner Privilegien gegenüber den Bürgern als etwas Besseres, und spielt sich wegen seines Vermögens und Reichtums auf. Der Adel gibt sich hochmütig und stolz, und sondert sich von dem Bürgertum ab, das in der Stadt lebt.

Umgekehrt ist festzustellen, dass auch die Bürger von sich überzeugt sind und sich etwas auf sich einbilden ("Bürgerstolz"). Dies allerdings nicht wegen ihres materiellen Besitzes oder weltlicher Dinge, sondern aufgrund ihrer Moral. Odoardo - der in Lessings Werk "das Muster aller männlichen Tugend" 2)ist - sagt von sich selbst "Ich fühle mich anders und besser."3). Man kann hier sogar von Arroganz sprechen.

Da dieses Drama im 18. Jahrhundert, der Zeit der Aufklärung spielt, wir heute aber gerade auf der Schwelle zum 21. Jahrhundert stehen, erscheint mir die Frage interessant, ob auch die Menschen unserer Zeit aufgeklärt sind.

Die Aufgeklärtheit einer Person hängt, so glaube ich, immer von deren Erziehung und dem Umfeld ab. Außerdem spielt die Kultur des Landes eine große Rolle. Einerseits gibt es Menschen, die in einem Land mit Unterdrückung, Gewalt und willkürlichen Bestimmungen leben, in denen die Grund- und Menschenrechte nicht beachtet werden. Diese Menschen können nicht als aufgeklärt gelten, da sie sich sonst zur Wehr setzen würden. Doch das ist leichter gesagt als getan, wenn sie es niemand gelehrt hat, es ihnen keiner sagt und sie sich v.a. in große Gefahr begeben würden.

Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die sehr wohl aufgeklärt sind, weil sie von aufgeklärten Eltern erzogen worden sind, und in ihrem Land Gleichberechtigung und keine soziale Differenzierung herrscht.

Natürlich spielt bei der Aufklärung der Menschen auch die Zeitepoche eine wichtige Rolle. Im 18. Jahrhundert kam diese Wende vom Spätabsolutismus zur Aufklärung, heute ist es, vor allem bei uns, selbstverständlich, selbständig und aufgeklärt zu sein.

1) Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Stuttgart, 1994, S. 6, Z. 23

2) Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Stuttgart, 1994, S. 29, Z. 10

3) Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Stuttgart, 1994, S. 35, Z. 4f

Legt man diesen Maßstab der Jetzt-Zeit an Lessings Drama "Emilia Galotti" an, erscheint mir die Behauptung nicht gewagt, dass es einen anderen Ausgang genommen hätte. Gemessen an den Vorstellungen und Verhaltensnormen der bürgerlichen Gesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts - das 21. ist noch keine 100 Tage alt! - erscheint ein tragisches Ende der Titelheldin wie es Lessing für seine Zeit exemplarisch aufbaut, nicht zwingend.

Literaturverzeichnis:

Primärliteratur:

- Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. Stuttgart, 1994,

Sekundärliteratur:

- Detlev Mahnert:

Lektüre · Durchblick Gotthold Ephraim Lessing Emilia Galotti

München, 1. Auflage, 2000

- Im Auftrag der Bischöfe Deutschlands, Österreich, der Schweiz, des Bischofs von Luxemburg, des Bischofs von Lüttich, des Bischofs von Bozen-Brixen: Die Bibel, Stuttgart, 1980

- Internet -> Diskette

3109 Worte in "deutsch"  als "hilfreich"  bewertet