Bulimia nervosa

Definition:

psychogene Eßstörung, (grch. bous - Ochse, limos - Hunger: Heißhunger, Ochsenhunger)

Symptomatik:

Ÿ wiederholte Episoden von Freßanfällen (schnelle Aufnahme einer großen Nahrungsmenge)

Ÿ Kontrollverlust über das Eßverhalten während der Freßanfälle

Ÿ häufig starke Lustgefühle während eines Freßanfalles und danach Schuld- und Schamgefühle

Ÿ andauernde, übertriebene Beschäftigung mit Figur, Gewicht und Essen, krankhafte Furcht vor dem Dickwerden

Ÿ Anwendung gewichtsreduzierender Maßnahmen, um einer Gewichtszunahme entgegenzusteuern

(selbstinduziertes Erbrechen, Laxantien, Diuretika, Schilddrüsenpräparate, Diät, extreme körperliche Betätigung)

Ÿ ausgeprägtes Krankheits- und Leidensgefühl (i. Ggs. z. Anorexia nervosa)

Ÿ meist normales Körpergewicht, evtl. leichtes Übergewicht (i. Ggs. z. Anorexia nervosa)

Ÿ soziale Probleme (Verschuldung, sozialer Rückzug, evtl.Arbeitsplatzverlust)

Ÿ oft jahrelanges Intervall zwischen Symptombeginn und dem Aufsuchen der ersten therapeutischen Hilfe

Somatische Komplikationen der Bulimia nervosa

Eßanfall

- akute Magenerweiterung und Risiko der Magenruptur

- Störungen der Menstruation (Unregelmäßigkeiten oder Ausbleiben der Regel)

- endokrinologische Störungen

- schmerzlose Schwellung der Speicheldrüsen

Erbrechen

- Stoffwechselstörungen (hypokaliämische Alkalose) durch Elektrolytverschiebungen; Herzrhythmusstörungen

- Wasserverlust, Schädigung der Nieren

- Magensäureeinwirkung:

Zahnschmelzschäden und Karies

Schleimhautveränderungen: chronische Heiserkeit und Halsschmerzen gastrointestinaler Reflux und Ösophagitis

Abführmittelmißbrauch

- Durchfälle, Neigung zu Obstipation

- Ödeme

Differentialdiagnosen:

Erbrechen Urs.oberer GIT: Hiatushernie, Kardiospasmus, Gastritis, Ulcus duodeni /ventriculi, Pankreatitis

Erbrechen b. neurologischen Erkrankungen: SHT, Hirntumoren

Ausschluß / Bestätigung depressive Erkrankung

Anorexia nervosa - stärkere körperliche Gefährdung, Amenorrhoe-Kriterium

Polyphagie bei hirnorganischen Defekten

gestörtes Eßverhalten bei schizophrenen Psychosen

Erkrankungsbeginn & Epidemiologie:

1 bis 4 % aller Frauen zwischen dem 15. und 35. Lebensjahr(Adoleszenz, später als Anorexia)

emotionale Loslösung von der Ursprungsfamilie und die Entwicklung einer eigenen psychischen Autonomie Problem.

Männer eher in geringem Ausmaß

Epidemiologie und Medizingeschichte der Bulimie:

jungen Frauen in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg vereinzelt, in den letzten 30 Jahren in Publikationen und klinischen Erhebungen zunehmend häufig beschrieben worden.

hat die Anorexia nervosa überholt, allerdings nicht in klinischen Behandlungen.

mit erheblicher Dunkelziffer muss gerechnet werden

Welche intrapsychischen Konflikte liegen häufig der Bulimia nervosa zugrunde?

Eine Störung, die erst in diesem Jahrhundert und gehäuft in den letzten Jahrzehnten allein bei Frauen in immer größerer Häufigkeit beobachtet wird, ist auch unter psychosomatischen Störungen ganz ungewöhnlich. Das weist auf einen Zusammenhang mit den kulturellen Wertsystemen und den Lebensformen der Gesellschaft hin, macht eine "ethnische Störung" wahrscheinlich (Habermas 1990).

1. Von jungen Mädchen und Frauen wird heute in der Schule und später im Beruf als Arbeiterin, Angestellte und Studentin erwartet, dass sie nicht weniger, sondern mindestens ebensoviel, wenn nicht mehr als die Männer leisten. Seit Anfang des Jahrhunderts, aber besonders seit dem letzten Weltkrieg wird von Frauen selbstverständlich erwartet, dass sie einen Beruf erlernen und mit Erfolg ausüben, dass sie in der Lage sind, sich selbst zu ernähren und zu erhalten. Immer weniger Frauen arbeiten im Familienbetrieb, sie müssen sich durch Aus-, Weiter- und Fortbildung qualifizieren. Bulimische Frauen haben die gesellschaftlichen Maßstäbe und Leistungerwartungen an Frauen durchaus intemalisiert, das zweite und dritte Lebensjahrzehnt ist bei ihnen durch berufliche Selbstverwirklichung bestimmt. Anders als in der Generation der Eltern ist Heirat, Schwangerschaft und Kinderaufzucht weit hinausgeschoben. Vordatiert ist aber der Zeitpunkt des ersten sexuellen Kontaktes und der Versuch fester Bindungen in diesen Lebensphasen.

2. Für die Attraktivität als Geschlechtspartnerin spielt der Körper der Frau, ihre Erscheinung, die dem gegebenen Schönheitsideal der befreundeten Menschen, der Bezugsgruppe der Gleichaltrigen und letztlich dem allgemeinen gesellschaftlichen Ideal entspricht, eine entscheidende Rolle. Das Ideal der letzten 50 Jahre hat sich immer mehr von dem der runden und vollbusigen Frau in Richtung einer eher kindlichen und schlanken Figur gewandelt. Das Schönheitsideal, wie man es anhand der Mannequins, der Idealfiguren des "Playboy" und in den alltäglichen, bunten Abbildungen der Zeitschriften ablesen kann. ist das einer sportlich attraktiven schlanken und mädchenhaften Frau. Die Wandlungen des Ideals lassen sich an Untersuchungen der Brust- und Hüftweite der abgebildeten Frauengestalten mit einem deutlichen und stetigen Abfall ablesen. -Dieses Ideal ist gerade in der Pubertät und in den folgenden Jahren, wo physiologischerweise eine Gewichtszunahme und im Vergleich mit Männern weniger Muskulatur als Fettgewebe vermehrt auftritt, schwer zu halten.- Es ist auch schwer zu halten angesichts eines übermäßigen Nahrungsangebotes., das in der Werbung, im selbstverständlichen gemeinsamen Konsum der Familie und bei gemeinsamen Mahlzeiten unter Freunden und Freundinnen auftritt. Die Zahl der jungen Frauen, die im Schulalter als Arbeiterinnen, als Angestellte oder als Studentinnen durch Einschränkungen des Nahrungsverhaltens, durch Diäten, oder durch sonstige Einschränkungen sich bewußt zurückhalten, übertrifft bei weitem die Zahl der bulimischen Frauen.

3. Nicht alle Frauen und Männer der Altersgruppe zwischen 15 und 30 Jahren sind von dem geschilderten Widerspruch von gesellschaftlichen Erwartungen an berufliche Leistung, Schlankheitsideal und Nahrungsüberangebot in gleicher Weise betroffen und geraten in einen bulimischen Zirkel.

Persönlichkeitsstruktur der Bulimiepatientin ist nicht einheitlich. Man findet dabei hysterische, depressive und schizoide Strukturen. Dabei sind keine gemeinsamen Traumata oder Umweltbedingungen feststellbar. Zwillingsstudien lassen auch eine genetische Komponente annehmen.

Lacey (1990) hat darüber hinaus insbesondere die Impulsivität in der Charakterstruktur von Bulimikerinnen beschrieben.

Wenn bei Testuntersuchungen gehäuft depressive Züge beschrieben wurden, so weist das nicht unbedingt auf die Ausgangspersönlichkeit, sondern auf die in der Auslösesituation oder als Folge des bulimischen Verhaltens auftretende Belastung. Die bulimische Attacke wird auf jeden Fall als Niederlage erlebt und wird zu Schuldgefühlen, Selbstvorwürfen und, wenn sie sich wiederholt, zu hoffnungslosen und verzweifelten Gefühlszuständen. Vielleicht neigen Frauen, die die hohen Leistungsmaßstäbe der Gesellschaft und das schlanke Schönheitsideal besonders ernstnehmen und hoch bewerten, noch mehr als andere dazu, sich selbst zu entwerten. Im Vergleich mit klassischen neurotischen Patienten erscheinen sie durchweg eher extrovertiert, handlungs-orientiert und zu affektiven Impulshandlungen geneigt, wie sie in der bulimischen Szene dann voll durchbrechen.

4. Auslösesituationen: bei normalen Belastungen und Schwellensituationen auf: Trennungen von nahestehenden Menschen, vom Freund, von Freundinnen oder berufliche Anforderungen wie frustrierende, eintönige Lernsituationen, lange und frustrane Studienzeiten und Prüfungsvorbereitungen, für die die Motivation schwindet. Die Mehrzahl der Frauen beschreiben ihre Befindlichkeit, in der die Freßanfälle auftreten, damit, dass sie sich alleingelassen, leer und von anderen enttäuscht und zurückgewiesen, gelangweilt, traurig und deprimiert fühlen. => Tröstung durch Essen und Trinken. Es ist eine Befriedigung, die von Kindheit bekannt ist, als Überangebot aufgedrängt wird, etwas was tröstet, entspannt und vorübergehend Befriedigung und Wohlbefinden schafft. Es ist aber zugleich das, wenn man nicht auf wesentliche Befriedigungen als Frau verzichten will, was unterdrückt, auf jeden Fall immer länger hinausgeschoben und solange wie möglich zurückgestellt werden muss. Und das führt irgendwann zum Heißhunger, zur Freßattacke und zu dem Zirkel, der die Bulimie eben ausmacht.

Die in diesem Konflikt entstehenden Spannungen können nur regressiv (d.h. durch "Sich-Gehenlassen" in infantiler Manier) bewältigt werden.

Regressives Verhalten bedarf des Schutzes durch andere und der Möglichkeit, diesen zu vertrauen (Hingabe). Dem Wunsch nach Hingabe stehen ausgeprägte Hingabeängste gegenüber, die beispielsweise in Ängsten vor Kränkung, Verlassenwerden, Selbstaufgabe, Kontrollverlust etc. begründet sein können. Der Eßanfall kann als Versuch verstanden werden, sich das Gefühl zu schaffen, gut versorgt, nicht allein und nicht verlassen zu sein, ohne sich von anderen abhängig zu fühlen. Mit der Übersättigung nach dem Eßanfall kommt es zu Schuld- und Schamgefühlen und zu ausgeprägtem Selbsthaß, weil die Gier im Eßanfall nicht beherrscht werden konnte. Gleichzeitig entstehen Ängste (z.B. Angst vor Selbstaufgabe, Selbstverlust), die mit der Bedürftigkeit nach Liebe und Zuwendung verbunden sind. Der Brechanfall kann nun als Versuch verstanden werden, den Triebdurchbruch rückgängig zu machen und die Kontrolle über die eigenen Bedürfnisse wiederzuerlangen.

Das bulimische Symptom wird auch teilweise als Versuch verstanden, ein gutes Objekt ("die Mutter, Mutterliebe") einerseits zu introjizieren, aufgrund früherer negativer Erfahrungen mit diesen Gefühlen und dies als Nahrung (die Mutter, die Mutterliebe) wieder auszubrechen und hierbei eigene (sexuelle) Lust zu empfinden.

Therapie:

ambulante Behandlung wird favorisiert, Patienten in seiner alltäglichen Welt belassen

bei Suizidtendenzen, Alkoholmißbrauch - stationäre Behandlung in strukturierter Form angezeigt

Welche therapeutischen Elemente muss die Behandlung von Patienten mit Bulimia nervosa enthalten?

Kombination von symptomorientierten und konfliktorientierten Therapien erforderlich:

· symptomorientiert: aktive Führung einer stützenden & begleitenden Behandlung durch Therapeuten

· konfliktorientiert: Aufdeckende (psychoanalytische) Verfahren zielen auf die Bewußtwerdung zugrundeliegender Konflikte.

Kurzfristig können z.B. bei schwerer depressiver Symptomatik Psychopharmaka zum Einsatz kommen.

spezielles symptomzentriertes, aber auch aufdeckendes Behandlungsprogramm von Lacey (London), weiterentwickelt von Psychosomatischen Universitätsklinik Heidelberg:

1. Erstgespräche mit der Patientin: Offenlegen gegenwärtiges Eßverhalten und gesamte Lebenssituation Eßverhalten in allen Einzelheiten, die Zahl der Mahlzeiten, die Menge, die Vorbereitungen, die Lebenssituationen, in denen das Verhalten auftritt, vor allem auch die Stimmungen vorher, danach und die Gestimmtheit in der gegenwärtigen Lebenslage

2. Vorschlag: neue Eßordnung mit fester Regelung der Mahlzeiten, Uhrzeit, Menge, Nahrungsart

werden in schriftlichen Programm festgehalten

Dazu werden auf einer Seite eines Heftes, das von der Patientin für jeden Tag zu führen ist, alle Einzelheiten der Nahrung eingetragen. Auf der anderen Seite dieses Heftes werden die wichtigsten Ereignisse des Tages, die Stimmungen und vor allem die Situationen, in denen bulimische Rückfälle aufgetreten sind. in ihrem szenischen Zusammenhang und ihrer Verbindung mit der Stimmungslage festgehalten.

3. wöchentliches Einzelgespräch: (Dauer: ca. 30 min) Die Entwicklung der allgemeinen Lebens- und Konfliktsituation sowie die Symptomlage mit den Rückfällen in bulimisches Verhalten wird einmal in der Woche in einem Einzelgespräch mit einem Therapeuten besprochen.

Der Eß- und Lebensplan wird im Hinblick auf die kommende Woche in einem an physiologischem Kohlenhydratbedarf orientierten Eßplan festgestellt.

Die Patientin wiegt sich in Gegenwart ihres Therapeuten, der damit auch Verantwortung für ihr Körpergewicht und ihren Gesundheitszustand dokumentiert.

5. Gruppensitzung: möglichst direkt an Einzelgespräch,

mit jeweils 6 Bulimie-Patientinnen und 2 Therapeuten (meist gemischtgeschlechtlich, wobei Schwestern, Sozialarbeiter neben Ärzten und Psychologen, die Erfahrung mit der Störung haben, mitwirken).

Dauer dieses Therapieabschnitts: 10 Wochen

Einzel- und Gruppensitzungen: jeweils an einem Nachmittag oder Abend in der Ambulanz

meistens miteinander kombiniert

nach der ersten Sitzung ist unbedingt mit Rückfällen noch zu rechnen .

nach Ende des 10 wöchigen Intensivprogramms: weitere Einbestellung zu fest terminiertenEinzelgesprächen in zunächst engen, dann immer großeren, mehrwöchigen, dann mehrmonatigen Zeitabständen

Es ist für diese Patientinnen eine große Stütze, dass jemand weiter an ihrem Ergehen interessiert und mitverantwortlich zur Verfügung steht, bei dem sie sich auch bei Rückfällen zwischenzeitlich wieder melden können.

Gleichzeitig Verweis an Selbsthilfegruppen

bulimische Attacken können immer wieder in späteren Krisensituationen auftreten - Einzelfälle.

Prognose: wird in Literatur nicht einheitlich beschrieben

Ÿ abhängig von der Schwere der psychischen Störung ab und von der Dauer des pathologischen Eßverhaltens wie bei Anorexia nervosa nicht gut

Ÿ Lacey: 20 Patientinnen im Laufe von 10 Sitzungen

Nachbehandlung in mehrmonatigen Abständen war Kontrolle für die nächsten 2 Jahre

mehr als 70% frei von bulimischen Episoden war, 25% hatten noch gelegentlich bulimische Attacken, knapp 5% bedurfte bedingt durch Schwere der Persönlichkeitsstörungen, Suchttendenzen usw. einer stationären, intensiven und längeren Therapie.

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