Grundfragen philosophischer Ethik
1. Einführung
1.2. Bereiche ethischer Verbindlichkeit
Für sittliches Handeln gibt es verschiedene Bereiche:
1. Brauchtum umfasst überlieferte Verhaltensweisen einer Gemeinschaft. Seine Begründung erfolgt daher auf dem Boden von Traditionen. Zwischen einzelnen Bräuchen gibt es kaum Zusammenhänge.
2. Sitten zeigen gegenüber Bräuchen eine stärkere Systematisierung und hängen oft von religiösen Vorstellungen ab.
3. Im Recht werden dem Verhalten einer Gemeinschaft feste Grundlagen gegeben, die auf Dauer gelten sollen und dem Bedürfnis nach Gerechtigkeit entgegenkommen.
4. Moralisches Verhalten orientiert sich nicht nur an Rechtsnormen, sondern an grundsätzlichen Vorstellungen über das (richtige oder falsche) Handeln des Menschen.
5. Ethik ist die philosophische Reflexion über Moral. Sie sucht nach Begründungen für die Maßstäbe, nach denen gutes oder verwerfliches Handeln des Menschen beurteilt werden kann, wobei sie stets für die Kritik solcher Maßstäbe offen bleibt.
1.3 Drei ethische Grundbegriffe
1. Werte im ethischen Sinne benennen Zielvorstellungen für das, was im sittlichen Handeln erstrebenswert ist. Sie entstammen Bewertungen, die vom Menschen ausgehen und seinen jeweiligen Lebenssituationen entsprechen.
2. Normen sind notwendig um das menschliche Zusammenleben zu ordnen. Sie müssen begründbar und konsensfähig sein; nur dann können sie ihren Zweck erfüllen.
3. Pflichten ergeben sich aus den sittlichen Normen einer Gesellschaft. Wer als Mitglied einer Gemeinschaft deren Normen anerkannt hat, ist auch verpflichtet sich nach diesen Normen zu richten; sonst fällt er aus dem Rahmen der Gesellschaft heraus.
2. Moralisches Argumentieren
2.2 Ansätze ethischer Theorien
1. Bei ethischen Auseinandersetzungen treten bestimmte Satzformen auf, die man unterscheiden muss:
a) Werturteile (Bewertungen, die von Normen ausgehen),
b) Urteile, die eine Verpflichtung ausdrücken (>Imperative),
c) Tatsachenfestellungen
Die Argumentation baut sich aus einer möglichst schlüssigen Verknüpfung solcher Sätze auf.
2. Das ethische Argumentieren kann zunächst beschreibend vorgehen, indem es bestimmte Sachverhalte anführt, die in moralischer Hinsicht bedeutsam sind. Es kann dann zu Normen und Werten übergehen, die das Handeln des Menschen in bestimmten Situationen lenken bzw. lenken sollten. Schließlich kann gefragt werden, was diese Normen bedeuten, woher sie ihre Geltung nehmen und wie sie sich begründen lassen (Metaethik).
3. Aus bloßen Tatsachen lassen sich noch keine Normen herleiten. Das Sollen ist keine Folge irgendwelcher Fakten.
4. Ethische Argumentationen können von dem ausgehen, was für das Ziel menschlichen Lebens und Handelns gehalten wird. Sie sind dann teleologisch orientiert
5. Ethische Argumentationen können darauf verzichten, das moralische Handeln aus Zielen abzuleiten und stattdessen dem Sollen einen unbedingten Rang einräumen. Eine entsprechende Ethik heißt deontologisch.
3. Hauptströmungen philosophischer Ethik
3.1 Ethische Fragen bei Sokrates und Platon
Die griechische Philosophie begann mit Fragen nach dem Ursprung (arché) alles Seienden. Sie suchte diese Frage nicht durch mythische Geschichten, sondern durch reines Nachdenken zu beantworten.
Mit den Sophisten richtete sich das Interesse auf den Menschen. Die Frage nach der Geltung moralischer Maßstäbe wurde von Protagoras im relativistischen Sinne beantwortet ( der Mensch als Maß aller Dinge), während sich Sokrates um absolute ethische Normen bemühte.
Für Sokrates ist das tugendhafte Handeln an richtige Einsicht gebunden: Tugend ist Wissen. Nur das Wissen garantiert, dass jemand die richtigen Ziele in seinem Leben anstrebt. Wer aber das (moralisch) Richtige erkannt hat, will lieber Unrecht leiden als Unrecht tun.
Gegenüber dem Argument, am besten lebe, wer sich über moralische Skrupel hinwegsetzt, betont Sokrates/Platon, über den Wert des menschlichen Lebens werde erst beim jenseitigen Totengericht entschieden. Die moralische Argumentation geht in eine religiöse über. Damit entsteht die Frage, ob sich der Geltungsanspruch einer Moral ohne außermoralische Gesichtspunkte überhaupt begründen lässt.
3.2 Die Ethik des Aristoteles
Für Aristoteles ist der Mensch immer in das Ganze einer Gemeinschaft (pólis) eingeordnet. Er muss deshalb in dieser Gemeinschaft tätig sein und sein Handeln auf Ziele ausrichten. Das führt auf die Frage nach dem obersten Ziel des menschlichen Lebens. Aristoteles sieht es in der Erlangung von eudaimonÃa (Glücklichsein).
Glücklich kann aber nur werden, wer tüchtig ist. Das griechische Wort für "Tüchtigkeit" (areté) wird meist mit "Tugend" übersetzt. Es gibt nach Aristoteles verschiedene Tugenden; grundsätzlich liegt eine Tugend in der Mitte zwischen zwei extrem gegensätzlichen Verhaltensweisen. Die höchste Tugend besteht darin, den vernunftbegabten Seelenteil zu entfalten und ein Leben im theoretischen Schauen zu führen. Das wäre das Glück der Philosophen.
3.3 Grundpositionen der Tugendethik
Im Zeitalter des Hellenismus bestimmen zwei Schulen das Nachdenken über Ethik:
Stoiker und Epikureer.
Für die Stoiker ist das Ziel ethischer Bemühungen die Lebenshaltung der Unerschütterlichkeit (ataraxÃa). Der Mensch soll sich weder durch Schicksalsschläge beugen lassen noch im Glück übermütig werden. Er muss sich bemühen ein mit der Natur übereinstimmendes Leben zu führen.
Für Epikur kommt es darauf an, sein Leben so zu gestalten, dass es möglichst wenig Schmerzen, aber viele Genüsse bereitet.
Im aufkommenden Christentum wird deutlich, dass der Mensch sein Leben nur bedingt in der Hand hat. Der Wille es selbst zu gestalten kann auf Grenzen stoßen.
Die christlichen Theologen des Mittelalters haben versucht, Glaubenserfahrungen und antike Ethik zusammenzubringen. Die Tugendlehre des Thomas von Aquin geht davon aus, dass die Vernunft den Willen lenkt, aber da der Mensch ein endliches Wesen ist, kann er trotz bester Absichten vom Vernünftigen abirren. Er muss sich aber stets an sein Gewissen halten, denn in ihm wird Gottes Wille offenbart. Das eigentlich Böse entsteht dort, wo der Mensch sich in seinem Handeln von Gott entfernt.
Mit dem Übergang zur Neuzeit wurden die mittelalterlichen Moralbegriffe fragwürdig. Neue Erfahrungen, die der Mensch mit sich selbst machte, führten zu neuen Bewertungen sittlichen Handelns, z.B. bei Montaigne, der sogar den so genannten Lastern etwas abgewinnen konnte.
Eine Neubegründung der Ethik stieß auf Schwierigkeiten. Sie sollte vom menschlichen Subjekt ausgehen, aber wie das möglich ist, blieb zunächst unklar. Descartes begnügte sich mit einer konventionellen Minimalethik, ehe etwas Besseres zur Verfügung stand.
Bei David Hume wird der erste Schritt in Richtung auf eine neue Ethik durch seine Unterscheidung von "sein" und "sollen" getan. Er ermöglichte damit die Entwicklung deontologischer Prinzipien, wie sie später bei Kant zu finden sind.
3.4 Immanuel Kant: Ethik der Pflicht
Für Kant gibt es zwei Bereiche der menschlichen Vernunft: Als theoretische Vernunft richtet sie sich auf den Gewinn von Erkenntnissen, als praktische Vernunft fragt sie nach den Prinzipien des menschlichen Handelns.
Erkenntnis geht von Erfahrungen aus und versucht die Gesetze der Natur zu finden. Die praktische Vernunft kann sich dagegen nicht auf Erfahrungen stützen, sondern muss aus sich heraus bestimmen, was das menschliche Handeln leiten soll. Für die theoretische Vernunft ist der Mensch ein Naturwesen und den Naturgesetzen unterworfen; für die praktische Vernunft ist er frei um moralisch zu handeln.
Moralische Gesetze müssen daher unbedingt gelten (ohne Gründe aus der Natur). Es sind Freiheitsgesetze, die nicht nach dem Verhältnis von Ursache und Wirkung oder dem vom Mittel und Zweck gedacht werden dürfen. Der kategorische Imperativ gilt ohne Wenn und Aber.
Er kann verschieden formuliert werden, wobei es aber in jedem Fall darauf ankommt, seine Allgemeinverbindlichkeit zu betonen. Menschliches Handeln soll so beschaffen sein, dass seine Grundsätze von allen Menschen befolgt werden können und dass dabei der Mensch nie als Mittel, immer nur als Selbstzweck gesehen wird.
Dem kategorischen Imperativ vorbehaltlos zu folgen ist Pflicht.
Wo äußere Umstände einen Menschen daran hindern seine Pflicht zu tun, oder wo sittliches Handeln keinen sichtbaren Erfolg bringt, kommt es für die Beurteilung dieses Handelns nur auf den guten Willen an. Er allein entscheidet über die moralische Qualität eines Menschen.
Wenn zwischen der empirischen Welt (der Natur) und der sittlichen Welt (der Freiheit) kein Widerspruch entstehen soll, muss man nach Kant fordern, dass Gott die Welt in einer Form geschaffen hat, die das Moralische möglich macht. Das führt auf die Postulate der praktischen Vernunft: Freiheit, Unsterblichkeit, Dasein Gottes.
3.5 Der Utilitarismus
Die englische Moralphilosophie war seit dem 17. Jh. um eine Ethik bemüht, die sich möglichst an gesellschaftliche Erfahrungen und an den "gesunden Menschenverstand" hält. Nach Thomas Hobbes brauchen Menschen eine (juristische und moralische) Ordnung um sich nicht gegenseitig umzubringen. Nach Francis Hutcheson sollte diese Ordnung so beschaffen sein, dass sie "das größte Glück der größtmöglichen Anzahl" garantiert.
Als "Utilitarismus" wird eine Theorie der Ethik bezeichnet, die den Wert sittlichen Handelns vom Nutzen her bestimmt.
Jeremy Bentham hatte zunächst versucht diesen Nutzen wie eine physikalische Größe zu berechnen. Als nützlich sah er das an, was Lust bereitet.
John Stuart Mill vertiefte die Gedanken Benthams, indem er den Nutzen allgemeiner definierte. Danach zählt nicht nur die Menge von Genüsse, sondern auch ihre Qualität. Grundsätzlich komme es darauf an, andere Menschen so zu behandeln, wie man von ihnen behandelt werden will (Goldene Regel der Moral); mit diesem Prinzip lässt sich nach Mill entscheiden, was gute - und damit nützliche - Taten sind.
Geht man davon aus, dass utilitaristische Handlungsvorschriften immer und unter allen Umständen gelten, so ergibt sich ein "Regelutilitarismus". Werden die Nützlichkeitserwägungen aber von den jeweiligen Umständen des Handelns abhängig gemacht, so muss man in jedem Einzelfall prüfen, was moralisch richtig oder falsch ist (extremer oder "Handlungsutilitarismus"; John J.C. Smart).
Die Orientierung der Ethik am Nutzen ist zwar auf den ersten Blick hin plausibel. Aber sie ist fragwürdig, wenn es um Handlungen geht, die auch ohne Berücksichtigung ihrer Folgen als moralisch richtig oder Falsch anzusehen sind.
Solche Handlungen spielen vor allem dann eine Rolle, wenn es um die Würde des Menschen geht. Im Umgang mit anderen Menschen sollten Nützlichkeitserwägungen dann aufhören, wenn durch sie der Respekt vor der Person des Anderen verloren geht.
3.6 Schopenhauers Ethik des Mitleids
Sie geht von der Grundüberzeugung aus, alles Dasein sei Leiden. Dann kann die Basis moralischen Verhaltens nur das Mitleiden sein, indem der Mensch seinen Egoismus überwindet und sich anderen Wesen zuwendet: nicht nur seinen Mitmenschen, sondern auch den Tieren. Diese Erweiterung der Ethik gibt Schopenhauers Gedanken eine gewisse Aktualität.
3.7 Existenzielle Ethik
Mit Sören Kierkegaard entwickelt sich ein neuer Stil des Philosophierens. Es wird nicht mehr versucht, ein gedankliches System des Weltganzen aufzubauen, sondern die Existenz des einzelnen Menschen zu durchleuchten. Wo dieser Mensch keine Möglichkeit findet er selbst zu sein, droht er in Verzweiflung zu fallen.
Für Albert Camus ist diese Verzweiflung nicht das letzte Wort. Zwar befindet sich der Mensch in einer absurden Situation: Es gibt keinen Sinn seines Lebens, an dem er sich orientieren könnte, aber er kann die Absurdität annehmen und wir Sisyphos das Sinnlose mit einer "verschwiegenen Freude" bejahen.
Wo alle traditionellen Werte wertlos geworden sind und ihre verpflichtende Kraft eingebüßt haben, wird nach Friedrich Nietzsche der Nihilismus unausweichlich. Ob aber der Mensch vor dem Nichts (nihil) dieses Nihilismus resignieren muss oder zu einer neuen Freiheit gelangen kann, ist die Frage, die der Existentialismus (Jean-Paul Sartre) beantworten will.
Für Sartre ist der Mensch nicht etwas Fertiges wie ein Stein oder ein Tisch, sondern muss sich ständig neu bestimmen. Er ist zu seiner Freiheit verurteilt. Diese Situation kann ihn ängstigen, aber diese Angst lässt sich durch den Entschluss überwinden, die eigene Existenz bewusst und verantwortlich zu übernehmen. Dabei hilft kein Gott: Der Mensch ist auf sich selbst gestellt (wie Orest in den "Fliegen").
Gabriel Marcel wandte gegen diesen atheistischen Existentzialismus ein, die menschliche Freiheit sei ohne Beziehung zu Gott gar nicht zu verwirklichen. Freiheit setze die Gnade Gottes voraus, die dem Menschen ein freies, verantwortliches Handeln überhaupt erst ermögliche.
In Deutschland hat Karl Jaspers eine andere Form existenziellen Denkens entwickelt: die "Existenzphilosophie". Für Jaspers geht es darum, in einer Zeit drohender Nivellierung (Massenzeitalter) die Eigenständigkeit des Einzelnen zu bewahren. Das kann nicht dadurch geschehen, dass der Mensch sich als Teil irgendwelcher Systeme sieht; er darf sich nicht zur bloßen Sache machen. Er muss begreifen, dass jedes objektivierende Menschenbild an Grenzen stößt, weil das menschliche Existieren nie abgeschlossen ist. Erst wo ein Mensch mit seinen Lebensentwürfen scheitert, kann deutlich werden, was "existieren" tatsächlich heißt.
4. Ethik der Verantwortung
4.1 Ethische Probleme der Gegenwart
Drei Problemfelder haben wesentlich zur Entwicklung neuer ethischer Fragestellungen beigetragen:
1. die Erfahrung, dass ganz normale Menschen unter bestimmten Umständen zu unglaublichen Greueltaten fähig sind (Holocaust);
2. die Möglichkeit, dass die Menschheit durch den Einsatz von Atomwaffen globalen Selbstmord begeht;
3. die Gefahren der Umweltzerstörung.
Nach Hannah Arendt ist das Böse nichts, was wie eine fremde Macht über den Menschen kommt, sondern es kann ganz banal durch Gedanken- und Fantasielosigkeit einstehen. Gefordert ist daher eine geschärfte moralische Aufmerksamkeit.
Angesichts der Atombombe hat Günther Anders einen neuen "kategorischen Imperativ" formuliert, der verlangt, man dürfe nur mit solchen Dingen umgehen, deren Auswirkungen mit den ethischen Grundsätzen menschlichen Handelns vereinbar sind.
Angesichts einer durch Technik bedrohten Umwelt fordert Hans Jonas sehr ähnlich, man dürfe nur das tun, was mit dem Fortbestand menschlichen Lebens auf Erden verträglich ist. Jonas entwirft dabei das Projekt einer Ethik, die über den "Nahhorizont" bisheriger Moralvorstellungen hinausgeht und die Interessen zukünftiger Generationen genauso berücksichtigt wie die Belange der außermenschlichen Natur. Da unser Wissen hinter den Möglichkeiten unseres (technischen) Tuns zurückbleibt, ist Enthaltsamkeit (Demut!) und eine über das Private hinausgehende Verantwortlichkeit vonnöten.
Die Bemühungen, Folgen der Technik mit wissenschaftlichen Mitteln abzuschätzen, setzen die Forderungen von Hans Jonas in die Praxis um. Aber auch wenn die Risiken moderner Technologien abschätzbar wären, bleibt immer noch die Notwendigkeit, solche Risiken zu bewerten und den Einsatz der Technik moralisch verantwortbar zu gestalten.
4.2 Dimensionen von Verantwortung
Im Begriff der Verantwortung steckt eine Beziehung zwischen drei Positionen: Jemand trägt Verantwortung für etwas vor jemanden. Wenn dabei die dritte Position unklar bleibt, kann die Verantwortung nicht mehr genau bestimmt werden. Das ist u.a. der Fall bei der "Verantwortung vor sich selbst", der "Verantwortung vor der Geschichte" u.ä. Zudem kann die Verantwortlichkeit überstrapaziert werden, wenn sich jemand für die Wahrung bestimmter Tugenden verantwortlich fühlt. Dabei ist zwischen primären und sekundären Tugenden zu unterscheiden. Sekundäre Tugenden (z.B. Pflichterfüllung) haben nur einen ethischen Sinn, wenn sie im Dienst übergeordneter Tugenden bzw. Werte stehen (z.B. Dienst am Nächsten).
Verantwortlichkeiten ergeben sich aus der Bindung des Einzelnen an den gesellschaftlichen Rahmen, in dem er lebt. Wo aber die Rahmenbestimmungen fraglich werden, werden es auch die Verantwortlichkeiten. Das kann der Fall sein, wenn traditionelle Formen des Zusammenlebens ihre prägende Kraft verlieren. Der dann einsetzende Wertewandel fordert eine Neubestimmung der Verantwortlichkeiten. Orientierungsdefizite können dabei zu einer Flucht aus der Verantwortung führen. Sie kann durch einen Rückzug ins Private erfolgen oder durch Übertragung von Verantwortung, z.B. an Mächte, über die man nicht verfügen kann. Bsp. für diese Strategie wäre die Beschäftigung mit okkulten Phänomenen, mit Astrologie oder der UFO-Wahn. Es handelt sich um Entlastungsversuche, als läge die eigentliche Verantwortung für menschliches Handeln nicht beim Menschen selbst, sondern bei außerirdischen Kräften.
4.3 Problemfehler heutiger Ethik
Die Behauptung, angesichts einer technisch geprägten Zivilisation brauchten wir eine neue Ethik, ist nicht stichhaltig. Die ethischen Grundsatzfragen wurden bei den Klassikern der praktischen Philosophie bereits so erschöpfend untersucht, dass wesentliche Erweiterungen kaum mehr zu erwarten sind.
Dagegen haben sich neue Problemfelder in der Anwendung ethischer Prinzipien eröffnet. Sie betreffen Fragen der Medizin- bzw. Bioethik, der Wirtschaftsethik, der Technikethik und der Ethik im Umgang mit der Natur.
In der Medizin- und Bioethik sind die Bestimmungen über Anfang und Ende eines menschlichen Lebens unsicher geworden. Ob dieses Leben mit der Zeugung, der Geburt oder irgendwann dazwischen beginnt, lässt sich nicht eindeutig definieren. Entsprechend unklar ist, ob das Ende aller Hirnfunktionen als Todeskriterium ausreicht. Wie hier entschieden wird, betrifft den Umgang mit Embryos bzw. Feten (Abtreibungsproblematik), mit Euthanasie- und Transplantationsproblemen. Außerdem werfen die Möglichkeiten genetischer Manipulation (Klonen) neue Fragen auf.
Für die Wirtschaftsethik haben Veränderungen der Produktionsformen und des Marktes neue Probleme geschaffen. Wie eine ökonomische und soziale Gerechtigkeit herzustellen ist, muss genauso diskutiert werden wie die Frage, wer eigentlich die Verantwortung für ökonomisches Handeln trägt, wenn nicht mehr einzelne Menschen, sondern international agierende Konzerne das Wirtschaftsgeschehen bestimmen.
Die Formen der Technik haben sich im 20. Jh. wesentlich geändert. Seit Datenverarbeitung in Computern zum Muster technischer Abläufe geworden ist und seit sich die Informationsgesellschaft an neuen Medien (Fernsehen, Internet) orientiert, ergeben sich Fragen nach dem verantwortlichen Umgang mit diesen Potenzialen.
Der Zugriff des Menschen auf die Natur ist so umfassend geworden, dass es eine unberührte, reine Natur nicht mehr gibt. Wenn trotzdem von "Naturschutz" die Rede ist, so kann das nur heißen, dass die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen nicht zerstört werden dürfen. Ob darüber hinaus die Natur ein eigenes Recht auf Schutz und Bewahrung hat, ist eine Frage, die bis in religiöse Vorstellungen führt und sich kaum allgemein gültig beantworten lässt.
Gerade die Offenheit der in diesem Kapitel angesprochenen Problemfelder zeigt, dass eine Auseinandersetzung mit den entsprechenden ethischen Fragen unausweichlich ist. Sie geht jeden von uns an, was nicht heißt, dass jeder fertige Antworten haben muss.
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