Preußen unter Bismarck
Seit der Revolution von 1848 war Otto von Bismarck in der preußischen Politik kein Unbekannter mehr. Seine Tätigkeit beim Frankfurter Bundestag bedeutete für ihn die Hinwendung zur Realpolitik, die sich stärker an den jeweiligen wirtschafts - und machtpolitischen Gegebenheiten ausrichtete. Seine Berufung zum Gesandten in Petersburg und in Paris betrachtete Bismarck als Kaltstellung, doch machte sie ihn mit den Besonderheiten der großen Diplomatie vertraut.
In Preußen betrieb seit 1860 Kriegsminister von Roon eine Verstärkung des Heeres und die Einführung einer dreijährigen Dienstzeit. Daraus entwickelte sich ein tiefer Konflikt zwischen König und Parlament. Eine starke liberale Mehrheit im Landtag verweigerte 1862 die Zustimmung zum Staatshaushalt, der König war nicht zum Nachgeben bereit. In dieser Situation vertraten konservative Parteigänger der Regierung die Theorie von einer Lücke in der Verfassung: Wenn zwischen Parlament und königlicher Exekutive keine Einigung zustande komme, habe der König das Recht, die Regierung aus eigener Machtvollkommenheit weiterzuführen. König Wilhelm I. trug sich bereits mit dem Gedanken an einen Rücktritt zugunsten des Kronprinzen, als Kriegsminister von Roon an Bismarck erinnerte, dem er einen Sieg in der Auseinandersetzung mit dem preußischen Abgeordnetenhaus zutraute. Bismarck stellte sich bedingungslos in den Dienst des Königs und wurde am 24. September 1862 zum preußischen Ministerpräsidenten ernannt.
Seine berühmte Blut - und - Eisen Rede vom 30.September 1862 verschärfte den Konflikt mit der liberalen Kammer. Das Parlament wurde vorzeitig aufgelöst, der Etat wurde ohne die gesetzlich geforderte Zustimmung verabschiedet. Im Mittelpunkt von Bismarcks Interesse stand jedoch die Außenpolitik, und hier vor allem das Zurückdrängen des österreichischen Einflusses im Deutschen Bund.
Der Deutsch - Dänische Krieg 1864
Einen weiteren Schritt auf dem Wege zu einer Lösung des preußisch - österreichischen Gegensatzes im Sinne preußischer Interessen bedeutete die seit 1848 ungelöste Schleswig - Holstein Frage. Das Londoner Protokoll von 1852 hatte die Nachfolge in den Herzogtümern Schleswig, Holstein und Lauenburg unter internationale Garantie gestellt. Entgegen diesen Vereinbarungen zielte Dänemark seit 1855 auf eine Einverleibung des zum Teil von Dänen bewohnten Schleswig ab. Auf der anderen Seite beanspruchte Friedrich von Augustenburg,
der Kandidat der deutschen Nationalisten, beide Herzogtümer als unabhängigen Staat für sich. Bismarck stand der national - revolutionären Bewegung ablehnend gegenüber; die in London festgelegte europäische Ordnung stellte er über deutsches Recht. Ihm kam es langfristig darauf an, Schleswig - Holstein stärker an Preußen zu binden. Österreich strebte danach den Status quo zu erhalten. Anfang 1864 gelang es Bismarck mit Österreich ein Bündnis zu schließen und es auf den preußischen Aktionsplan einzuschwören. Beide Mächte erklärten gemeinsam Dänemark den Krieg. Schleswig wurde besetzt, im Sommer ganz Jütland, die Londoner Garantiemächte griffen nicht ein. Im Oktober musste Dänemark Frieden schließen und auf alle Rechte an den Herzogtümern verzichten, die künftig von Österreich und Preußen gemeinsam verwaltet werden sollten.
Die Verdrängung Österreichs aus dem Deutschen Bund
Die Liberalen vermochten sich der Faszination des Sieges über Dänemark nicht zu entziehen. Sie begannen sich aufzuspalten in Linksliberale, die am Vorrang der bürgerlichen Freiheitsrechte festhielten, und in Nationalliberale, die für die nationale Einigung auch bürgerliche Freiheitsideale preisgeben wollten. Auch im Bereich der Wirtschaft baute Preußen seine Vormachtstellung aus. Er schloß 1862 einen Handelsvertrag mit Frankreich ab, der es an die freihändlerischen Westmächte heranführte. Die mittel - und die süddeutschen Staaten nahmen im Juni bzw. Oktober 1864 dieses Vertragswerk an. Die Idee einer mitteleuropäischen Zollunion von Antwerpen bis an die Adria, die Österreich vertreten hatte, war damit gescheitert.
Es zeichnete sich allmählich auch die Bereitschaft Bismarcks ab, für eine Lösung der deutschen Einigungsfrage einen Krieg mit Österreich in Kauf zu nehmen.
Österreich widersetzte sich energisch preußischen Annexionsplänen und begünstigte im Gegenzug die angestammte Dynastie. Eine drohende Kriegsgefahr wurde noch einmal mit der Gasteiner Konvention vom 14 August 1865 beigelegt. Lauenburg fiel durch Kauf an Preußen, das fortan Schleswig verwaltete. Österreich erhielt die Verwaltung Holsteins zugesprochen. Es lag jedoch auf der Hand, dass seine Stellung in dem weit entfernten, politisch, militärisch und wirtschaftlich von Preußen umschlossenem Herzogtum auf die Dauer unhaltbar war. Als sich Preußen im Januar 1866 in innere Fragen Holsteins einmischte, wurde ein Krieg als unvermeidlich angesehen.
Der Bruderkrieg von 1866
Österreich versuchte, den Frankfurter Bundestag für seine Zwecke zu mobilisieren, mit der Folge, dass Preußen den Bundesvertrag für gebrochen erklärte. Die seit 1815 bestehende staatliche Ordnung Deutschlands wurde somit nicht durch die bürgerlich - liberale Bewegung gesprengt, sondern durch den preußisch - österreichischen Gegensatz. Dreizehn "bundestreue" Staaten, neben Österreich die Königreiche Bayern, Württemberg, Sachsen und Hannover, standen im Sommer 1866 Preußen und den mit ihm verbündeten Mittel - und Kleinstaaten Norddeutschlands mit Waffen gegenüber.
Bismarcks Diplomatie hatte es verstanden, die Interessenlage der europäischen Mächte für seine Ziele auszunützen. England und Rußland verhielten sich abwartend. Kaiser Napoleon III., der sich von einem deutschen Bruderkrieg Vorteile für Frankreich versprach, wahrte Preußen gegenüber Neutralität, ohne auf eine Gegenleistung zu bestehen.
Am 3. Juli kam es bei Königgrätz (Böhmen) zur Schlacht, die Preußen für sich entschied.
Bismarcks Ziel war es nun, einerseits die Machtstellung Preußens in Norddeutschland zu sichern, gleichzeitig aber auch einer friedliche Verständigung mit dem deutschen Süden offenzuhalten. Er rang dem preußischen König Wilhelm und seinen militärischen Führern eine Schonung Österreichs und der süddeutschen Staaten ab. Demgegenüber wurden Hannover, Kurhessen, Nassau, Frankfurt und Schleswig - Holstein dem Staat Preußen eingegliedert. Auf dieser Grundlage plante Bismarck, Deutschland nördlich des Mains in einem Bund zusammenzufassen, dem siech dich süddeutschen Staaten später in besonderen Verträgen anschließen sollten.
Österreich musste der Neuordnung Deutschlands im Sinne Preußens zustimmen. Ungeachtet der milden Bedingungen des Friedens war es von der Mitsprache in der deutschen Politik künftig ausgeschlossen und sah sich auf seine eigene Nationalitätenproblematik verwiesen.
Der Norddeutsche Bund als Vorstufe einer kleindeutschen Einigung
Dem 1867 gegründeten Norddeutschen Bund gehörten außer Preußen seine Bundesgenossen von 1866 an, aber auch die früheren Gegner Sachsen und Hessen nördlich der Mainlinie. Als Zentralbehörde wurde der Bundesrat aus Vertretern der einzelstaatlichen Regierungen geschaffen. Preußen stellte den Bundeskanzler, der dem Bundesrat präsidierte. Das Präsidium führe die Geschäfte des Bundes und vertrat ihn völkerrechtlich nach außen. Die Truppen unterstanden dem König von Preußen als Bundesfeldherrn. Die Abgeordneten des Reichstags wurden in allgemeiner, gleiche, geheimer und direkter Wahl bestimmt. Ein derartig demokratisches Wahlrecht war in allen Mitgliedstaaten bis dahin ohne Beispiel, Frauen durften natürlich noch nicht wählen. Der Reichstag war auf die Legislative beschränkt, die Gesetzgebung übte er zusammen mit dem Bundesrat aus.
Die Verfassung des Norddeutschen Bundes gab das Modell ab für die spätere Reichsverfassung.
1868 kam als weitere Nord - Süd - Klammer ein Deutsches Zollparlament hinzu.
Der preußische Machtzuwachs als europäisches Problem
Der preußische Sieg von Königgrätz über Österreich wurde von Frankreich als außenpolitische Niederlage empfunden. Bismarck hatte es verstanden, Kaiser Napoleon III. Die preußischen Vorstellungen über einen Frieden aufzudrängen. Das Begehren Napoleons, die bayerische Pfalz für die Machterweiterung Preußens in Norddeutschland zu erhalten, konnte Bismarck zunächst mit Aussichten auf das Großherzogtum Luxemburg ablenken.
Nach dem erzwungene Rückzug aus der deutschen Politik musste im Vielvölkerstaat Österreich ein neues Verhältnis zwischen der politisch bestimmenden deutschen Minderheit und den übrigen Nationalitäten gefunden werden.
Die Dynastie Habsburg - Lothringen verkörperte die Einheit des Reiches; Außenpolitik, Finanzwesen und Armee blieben in der Verantwortlichkeit der Krone. Im Innern erhielt der ungarische Reichsteil ein eigenes Parlament und die Verwaltungshoheit.
Bismarck störten auch die Absichten des französischen Kaisers, das seit 1839 mit den Niederlanden in Personalunion verbundene Großherzogtum Luxemburg zu kaufen. Preußen erreichte es, dass der niederländische König den Verkauf ablehnte. Luxemburg wurde unter internationale Garantie gestellt und für neutral erklärt.
Im Sommer des Jahres 1870 sah Napoleon III. Jedoch endlich eine Möglichkeit, Preußens Macht eine Grenze zu setzen. Die Spanier, die in einer Revolution ihre Königin abgesetzt hatten, boten den Thron einem mit dem preußischen Herrscherhaus verwandten Prinzen an. Bismarck unterstützte diese Kandidatur. Frankreich ließ jedoch keinen Zweifel daran, dass ein Hohenzoller auf dem spanischen Thron ein Kriegsgrund wäre. Die französische Regierung, die Preußen auch noch eine diplomatische Niederlage beibringen wollte, forderte durch ihren Botschafter vom preußischen König einer solchen Kandidatur nie wieder zuzustimmen. Der preußische König wies dieses Ansinnen zurück und ermächtigte Bismarck, den Vorgang der Presse bekanntzugeben. Bismarck tat dies mit verschärfenden Kürzungen, welche die Rolle des französischen Botschafters in einem sehr ungünstigen Licht erscheinen ließ. Durch diese "Emser Depesche" sah sich Frankreich ein seiner nationalen Ehre gekränkt und erklärte am 19. Juli 1870 Preußen den Krieg.
Der Deutsch - Französische Krieg 1870 / 71
Die süddeutschen Staaten zögerten im Juli 1870 keinen Moment, um den Krieg gegen Frankreich von Anfang an mitzutragen. Die Regierungen sahen den Bündnisfall der Verträge von 1866 gegeben und mobilisierten ihre Heere.
Soldaten, die sich vier Jahre zuvor noch als Gegner in Deutschland gegenüber gestanden hatten, kämpften nun miteinander.
Frankreich war für den Krieg schlecht gerüstet. Die Opposition gegen die autoritäre Regierung des Kaisers wirkte sich auch in der Armee aus; selbst die Generäle waren sich nicht einig.
Nach Anfangserfolgen der vereinigten deutschen Truppen im Elsaß und in Lothringen gelang es, die französische Hauptarmee in der Festung Metz einzuschließen. Eine Entlastungsarmee, die von Norden herangeführt werden sollte, musste am 1. September 1870 bei Sedan kapitulieren. Zu den Gefangenen gehörte auch Kaiser Napoleon III. - sein Kaisertum war zu Ende.
In Paris wurde am 4. September 1870 die Republik ausgerufen. Eine selbsternannte "Regierung der nationalen Verteidigung" unter dem Führer der Linken Léon Gambetta setzte den Krieg mit rasch ausgehobenen neuen Truppen fort.
Die siegreichen deutschen Streitkräfte wandten sich nach Süden und schlossen Paris ein. Gambetta entkam mit einem Freiballon aus der Stadt und organisierte den Widerstand von der Provinz aus. Als bekannt wurde, dass die Deutschen auf umfangreiche Gebietsabtretungen bestehen würden, nahm der Krieg mehr und mehr den Charakter eines französischen Volkskrieges an. Doch wurden die Entsatzheere der Republik nach ersten Erfolgen nacheinander besiegt. Paris wurde von deutsche Artillerie beschossen und musste im Januar 1871 kapitulieren. Am 28. Januar unterzeichnete Frankreich einen Waffenstillstand.
Während der Waffenruhe wurde in Frankreich eine neue Nationalversammlung gewählt. Sie bestimmte den greisen Historiker Thiers, einen erfahrenen Politiker aus liberalen Bürgertum, zum Regierungschef. Thiers nahm in Versailles Friedensverhandlungen mit Bismarck auf, ein Friedensvertrag wurde schließlich im Mai in Frankfurt geschlossen. Frankreich musste 5 Milliarden Francs als Kriegsentschädigung zahlen und das Elsaß sowie große Teile Lothringens an Deutschland abtreten.
Die Annexionen waren erst im Verlauf des Krieges von der öffentlichen Meinung Deutschlands, von Militärs und Wirschaftsführer gefordert worden.
Waren die Friedensbedingungen im Vergleich zu französischen Forderungen bei Kriegsbeginn auch nicht maßlos, so belasteten die willkürlichen Gebietsabtretungen die deutsch - französischen Beziehungen in den folgenden Jahrzehnten sehr stark. Bei der Bevölkerung Elsaß - Lothringens wog die zweithundertjährige Zugehörigkeit zu Frankreich stärker als die Erinnerung an historische Bindungen an das Reich oder der Hinweis auf ihre deutsche Umgangssprache. "Revanche" war fortan ein Leitmotiv der französischen Außenpolitik.
Die Kommune in Paris
Die Anfänge der Dritten Republik in Frankreich waren durch die Niederlage im Krieg und durch innere Unruhen belastet. Die Bevölkerung von Paris, die unter der deutschen Belagerung einen Winter des Hungers und harter Entbehrungen zu überstehen hatte, widersetzte sich den Verhandlungen der Regierung Thiers mit den Siegern.
Im März 1871 führte der Versuch der Regierung, 227 Kanonen aus Paris herauszuholen, zu einem Aufstand der städtischen Arbeitermassen und des Kleinbürgertums. Ein neuer Gemeinderat, die Kommune, wurde gewählt, i dem jakobinische Revolutionäre, Sozialisten und Kommunisten den Ton angaben. Die staatlichen Institutionen wurden durch Räte ersetzt, in denen alle Bürger mitbestimmen konnten.
In den Kirchen tagten wiederum die politischen Klubs, zahlreiche Geistliche wurden verhaftet und eingesperrt.
Anfang April, ging die Regierung mit der Armee gegen die Aufständischen in Paris vor. Zwei Monate lang tobte der Bürgerkrieg. Die Führer der Kommune ließen sich zu blutigen Gewalttaten hinreißen, nicht weniger grausam verlief das Strafgericht, das die Regierungstruppen, die Paris bis Ende Mai eroberten, über die Aufständischen verhängte.
Ungeachtet ihrer kurzen Dauer hatte die Pariser Kommune weitreichende Wirkungen. Den führenden Politikern des liberalen Bürgertums in Frankreich und darüber hinaus galt sie als das Schreckbild einer drohenden sozialistischen Revolution. Für große Teile der Arbeiterschaft hingegen wurde sie zum Symbol einer wichtigen Etappe im proletarischen Klassenkampf.
Die Reichsgründung
Die Hoffnung Kaiser Napoleons III. Der Krieg mit Preußen werde die Kluft zwischen Nord - und Süddeutschland vertiefen, erwies sich als Fehlspekulation. Die Waffenbrüderschaft rief eine Welle nationaler Begeisterung hervor, der sich auch die süddeutschen Staaten nicht zu entziehen vermochten.
Nach dem Sieg in Sedan entfaltete Bismarck eine rege diplomatische Aktivität im deutschen Süden. Bei Verhandlungen in Versailles gelang es ihm im Oktober und November 1870, die leitenden Minister der süddeutschen Staaten gegeneinander auszuspielen. Mitte November erkannten Baden und Hessen den Zusammenschluß auf der Grundlage der Verfassung des Norddeutschen Bundes an. Württemberg und Bayern blieb schließlich nicht übrig, als sich diesem Schritt anzuschließen. Beide Königreiche schlossen über ihren Beitritt Einzelverträge mit Preußen ab. Bismarck gestand ihnen dafür Sonderrechte zu, die ihrem eigenstaatlichen Bewußtsein entgegenkamen.
Was dem neuen Deutschen Reich noch fehlte, war ein Oberhaupt. Bismarck veranlasste den bayerischen König Ludwig II.,, als angesehenster der deutschen Monarchen dem König von Preußen die Kaiserwürde anzutragen.
Bis zum letzten Tag blieb der genaue Kaisertitel umstritten. Geschickt umging der Großherzog von Baden dieses heikle Problem: Er brachte ein Hoch auf "Kaiser Wilhelm" aus, als sich die deutschen Fürsten am 18. Januar 1871 in Versailles versammelten, um das neue Deutsche Reich in einer feierlichen Zeremonie aus der Taufe zu heben.
Die Kirchen und das Reich
Die 1871 verwirklichte kleindeutsche Lösung wirkte sich auch auf da Verhältnis der beiden großen christlichen Kirchen aus. Waren im Deutschen Bund noch 52% der Bevölkerung Katholiken, so sank ihr Anteil im neuen Reich auf 37 %.
Seit der Reformationszeit waren die deutschen evangelischen Kirchen an die jeweiligen Landesherren und Territorien gebunden. Insgesamt 39 evangelische Landeskirchen im Reichsgebiet stellten sich der Obrigkeit vielfältig in Verkündigung, Religionsunterricht und den Anweisungen der kirchlichen Aufsichtsbehörden zur Verfügung.
Demgegenüber war die in sich klar gegliederte und straff organisierte katholische Kirche mit den Ländern durch die Kulturbürokratie nur locker verknüpft.
Es entzündete sich der sogenannte Kulturkampf, den Liberale und Protestanten als grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Katholizismus betrachteten. Gegen das päpstliche Dogma bildete sich um den Münchner Kirchenhistoriker Ignaz von Döllinger eine innerkatholische Opposition, die "Altkatholiken". Viele ihrer Anhänger waren als Professoren, Religionslehrer und Militärgeistliche Staatsbeamte. Als die Kirche forderte, die müssten aus ihren Ämtern entfernt werden, war das Verhältnis von Staat und Kirche berührt.
Der Kulturkampf wurde vornehmlich in den Einzelstaaten ausgetragen, in Preußen, Baden und Bayern, dessen Kultusminister und späterer Ministerpräsident Lutz von Bismarck als wichtiger Verbündeter eingestuft wurde.
Die Auseinandersetzung gliederte sich in zwei Abschnitte. Bismarck ging es zunächst darum, Staat und Kirche stärker voneinander abzugrenzen.
Mit den Stimmen der nationalliberalen Abgeordneten wurde auf Antrag Bayerns der "Kanzelparagraph" in die Reichsgesetzgebung übernommen, der es Geistlichen verbot, in de Ausübung ihres Amtes die staatliche Politik zu kritisieren.
Die zweite Phase seit 1872 war durch den Kampf Bismarcks gegen das Zentrum gekennzeichnet, das er wegen seiner Verbindungen zu katholischen Minderheiten als reichsfeindlich einstufte. Nunmehr waren Geistliche wie Laien gleichermaßen von den Regierungsmaßnahmen betroffen. Die Liberalen setzten 1872 ein Verbot des Jesuitenordens durch, die "Maigesetze" von 1873 unterwarfen den Klerus der staatlichen Aufsicht, 1874 wurde die Zivilehe verbindlich für alle eingeführt, ein Jahr später wurden die Standesämter eingerichtet. Als der Klerus auf die "Maigesetze" mit passivem Widerstand reagierte, gaben neue verschärfte Strafgesetze die Möglichkeit zu Polizeiaktionen und Verhaftungen, die die katholische Bevölkerung noch weiter dem Reich entfremdeten. 1876 waren zeitweilig alle Bischöfe in Preußen verhaftet oder ausgewiesen, waren fast ein viertel der Pfarreien unbesetzt.
Staat und Kirche arrangieren sich
Der Widerstand von Papst Pius IX., der Anfang 1875 alle preußischen Kirchengesetze für ungültig erklärte, die breite Unterstützung der Kirche in den Gemeinden und die Kritik des Auslandes ließen nach 1876 Bismarcks Kampf gegen die Kurie scheitern. Die meisten Gesetze wurden nach und nach aufgehoben, unter der Bedingung, dass die staatliche Schulaufsicht und die Zivilehe bestehen blieben, zeigte sich Bismarck zu einem Ausgleich mit der Kirche bereit.
Insgesamt wurde der Prozeß zunehmender Trennung von Staat und Kirche fortgeführt, auch wenn die enge staatliche Einbindung des deutschen Protestantismus bis 1918 erhalten blieb.
Die konservative Wende in der deutschen Innenpolitik
Die Jahre 1878 / 79 markierten einen tiefen Einschnitt in der Entwicklung des noch jungen Reichs. In der Außenpolitik trat Bismarck als Vermittler und Friedensstifter auf, im Innern versöhnte er sich mit dem katholischen Bevölkerungsteil. Dieses Bild des Friedens trog jedoch..
Die Gemeinsamkeiten zwischen Bismarck und den Liberalen waren nach dem Ausbau einer einheitlichen Reichsgesetzgebung und mit dem Ende des Kulturkampfes erschöpft.
Der 1876 gegründete Zentralverband deutscher Industrieller und die 1878 gebildete volkswirtschaftliche Vereinigung des Reichstags forderten gegenüber der Konkurrenz des Auslands Schutzzölle für die heimische Landwirtschaft und Industrie.
Sie kamen damit Bismarcks eigenen Plänen entgegen, der mit Zöllen und indirekten Steuern auf Konsumgüter (Tabak) die Finanzkraft des Reichs erhöhen und zugleich die konservativen Schichten an sich binden wollte. Im Frühsommer 1878 nahm der Reichstag mit den Stimmen des Zentrums, der konservativen Parteien und einiger Nationalliberaler die Zoll - und Steuervorlagen an. Die Linksliberalen standen von nun an in Opposition zum Regierungskurs, die nationalliberale Fraktion brach auseinander.
Das Groß - und Bildungsbürgertum übernahm seitdem immer mehr konservative Verhaltensformen.
Neben dieser Feudalisierung des Bürgertums zeigte sich eine andere Auswirkung der Krisenzeit, die das gesellschaftliche Zusammenleben in Deutschland belastete, nämlich eine Welle des Antisemitismus. Die Juden, die nach ihrer bürgerlichen Gleichstellung zu Beginn des Jahrhunderts zahlreiche Schlüsselstellungen in Handel und Industrie, im Pressewesen und im künstlerischen Leben innehatten, wurden als Sündenböcke für die Wirtschaftskrise und andere, mit dem raschen sozialen Wandel verbundene Probleme gebrandmarkt.
Das Sozialistengesetz
Einen neuen politischen Gegner machte Bismarck in der politischen Arbeiterbewegung aus.
Erste Bemühungen Bismarcks um ein Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie waren 1874 und 1875 noch am Widerstand der liberalen Reichstagsmehreit gescheitert. Doch in der Zwischenzeit hatte das politische Gewicht der Sozialdemokraten erheblich zugenommen. Nun gewann diese Auseinandersetzung für Bismarck Vorrang vor dem Kulturkampf. Dabei kamen ihm zwei Attentate auf Kaiser Wilhelm I. zustatten, die er fälschlich den Sozialisten zur Last legte.
Bismarck nutzte die allgemeine Erregung zu Neuwahlen, aus denen die liberalen Parteien stark geschwächt und die Konservativen als Sieger hervorgingen. Am 18.Oktober 1878 nach der neue Reichstag das "Sozialistengesetz" an, das alle sozialistischen Vereine, Versammlungen und Druckschriften verbot, polizeiliche Maßnahmen gegen Partei - und Gewerkschaftsangehörige erlaubte und zu zahlreichen Verhaftungen und Ausweisungen führte.
Bis 1890 blieb das mehrfach verlängerte Gesetz in Kraft. Es drängte Sozialdemokratie und Gewerkschaften in die Illegalität ab und bewirkte eine tiefgreifende Entfremdung der deutschen Arbeiterschaft gegenüber dem jungen Nationalstaat.
Trotz aller Verfolgung lebte die Arbeiterbewegung fort und erstand 1890 mächtiger als je zuvor.
Staatliche Sozialpolitik
Bismarck kündigte die Vorlage eines umfangreichen Gesetzgebungswerks zur Verbesserung der Situation der Arbeiter an. Dieses Vorhaben erregte Aufsehen. Einerseits lag es auf der Hand, dass die Regierung damit de aufstrebenden Arbeiterbewegung den Wind aus den Segeln nehmen wollte. Zum anderen machte nunmehr der Staat deutlich, dass er bereit war, über die herkömmlichen Forderungen de Liberalen nach einer rechtlichen und konstitutionellen Absicherung der Bürger hinauszugehen und sich direkt um die sozialen Belange der breiten Volksschichten zu kümmern. Man hat diese Bestrebungen als "Staatssozialismus" im konservativen Sinne bezeichnet.
1839: preußisches Regulativ über die Kinderarbeit .
Einer weitere Etappe markierte die Allgemeine Gewerbeordnung von 1845 in Preußen ,die jedoch in erster Linie den kleineren Handwerksbetrieben zugute kam.
Die Pläne Bismarcks für eine staatliche Sozialpolitik fanden zahlreiche Befürworter vor allem in kirchlichen Kreisen und im Bildungsbürgertum. Die Kirchen hatten sich schon vor der Jahrhundertmitte für eine Besserung der Situation der Handwerker und der Arbeiter eingesetzt.
Aus den Entwürfen, die Bismarck im November 1881 in den Reichstag einbrachte, gingen folgende grundlegende Sozialgesetze hervor:
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1883 das Gesetz über die Arbeiterkrankenversicherung 1884 das Gesetz über die Unfallversicherung 1889 das Gesetz über die Invaliditäts - und Altersversicherung
Insgesamt wurde ein in der ganzen Welt beispielloses Sozialversicherungssystem geschaffen, das nachfolgend auf andere Länder ausstrahlte.
Der weitere Ausbau der Sozialpolitik nach Bismarcks Entlassung 1890 verlief stockend und war von vielen Rückschlägen begleitet. Dennoch vermochte sie einen Teil der Arbeiterschaft mit dem Nationalstaat zu versöhnen.
Die Bismarckschen Sozialgesetze wurden 1911 noch einmal revidiert und zur Reichsversicherungsordung zusammengefaßt. Wesentliche Teile davon sind in ihren Grundzügen bis heute in Geltung.
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