Die Rote Efraim
Max Frisch am 9. März 1979
Inhaltsverzeichnis
Seite
Zeittafel 3Sozialisation 6
Nationalsozialismus und Krieg 7
Der Journalist 9
Die Arbeit als Autor 12
Zusammenfassungen:
Sansibar oder der letzte Grund 13
Die Rote 14
Quellenverzeichnis 16
Zeittafel 1914 - 1980
1914 Am 4. Februar wird Alfred Hellmuth Andersch im Nymphenburger Krankenhaus in München geboren.
1920 Besuch der Volksschule in München - Neuhausen.
1924 Wechsel auf Wittelbacher Gymnasium. Direktor Gebehard Himmler,
Vater von Heinrich Himmler. Andersch wird auf Grund schlechter
Leistungen vom Gymnasium verwiesen.
1928 Kaufmännische Lehre im WEGA - Velag München vom 1. September
1928 bis zum 31. August 1931. Andersch beschäftigt sich mit
sozialkritischer Literatur und liest die sozialistischen Klassiker.
1929 Vater stirbt am 20. November an den Folgen einer Kriegsverletzung.
1930 Eintritt in die Gewerkschaft und Ausschluß wegen Linksopposition.
Mitgliedschaft beim Kommunistischen Jugend Verband (KJV).
1932 Von Januar 1932 bis Herbst 1933 arbeitslos. Organisationsleiter des
KJV Südbayern.
1933 Verhaftung und Beschlagnahmung seiner Bücher am 8. März. Am 22.
März folgt die Einlieferung in das KZ Dachau. Freilassung Ende April.
Am 9. September erneute Verhaftung mit sofortiger Wieder - Entlassung.
Im Herbst antritt einer Stelle bei J.F. Lehmann's Verlagsbuchhandlung.
1934 Erste Italien Reise und erste literarische Arbeiten. Bekanntschaft mit
Angelika Albert.
1935 Zweite Italienreise mit Angelika. Heirat mit Angelika am 15. Mai im
Standesamt München III.
1937 Umzug der Familie nach Hamburg und Arbeit in der Werbeabteilung
der Leonar - Werke.
1938 Geburt der Tochter Susanne.
1939 Bekanntschaft mit der Malerin Gisela Groneuer.
1940 Als Bausoldat in die Armee eingezogen, später als Besatzungssoldat
nach Frankreich versetzt. Geburt des gemeinsamen Sohnes Gisela
Groneuers und Alfred Anderschs, Michael.
1941 Entlassung aus der Armee wegen seines KZ - Aufenthaltes. Arbeit bei
Mouson & Co. in Frankfurt am Main als Büroangestellter.
1943 Scheidung von Angelika Albert. Ausbildung bei den Infanterie -
Pionieren in Siegen. Der Suhrkamp Verlag lehnt drei Texte Alfred
Anderschs ab.
1944 Als Oberdrenandier nach Dänemark, dann nach Oberitalien. Am 6. Juni
Desertion zu den Amerikanern. Mit dem Schiff in die USA, wo er als
Kriegsgefangener in Louisiana unterkommt.
1945 Verlegung nach Rhode Island, wo er beim US - "Ruf" vom 15. April bis
zum 15. August mitarbeitet. Später wird er nach Darmstadt gebracht und
dort entlassen. Geburt von Martin, dem zweiten gemeinsamen Sohn von
Gisela Groneur und Alfred Andersch.
1947 Herausgeber des "Ruf" (mit Hans Werner Richter). Nach 16 Ausgaben
wird Andersch von der amerikanischen Militärregierung in Bayern
entlassen (Grund: politische Divergenzen). Ab August Mitarbeiter bei
der Zeitschrift "Frankfurter Hefte" und Umzug nach Frankfurt.
Teilnahme an den ersten Tagungen der "Gruppe 47".
1948 Gründer des "Abendstudios" im Sender Frankfurt, eine der ersten
Projekte in der Art des "3. Programms".
1950 Heirat von Gisela Groneuer und Alfred Andersch. Geburt der
gemeinsamen Tochter Annette.
1951 -
1953 Leiter der gemeinsamen Feature - Redaktion der Sender Hamburg und
Frankfurt. Herausgeber der Buchreihe "studio frankfurt", in der u. a.
Werke von Ingborg Bachmann und Heinrich Böll erscheinen.
1954 "Die Kirschen der Freiheit" erscheint nach Ablehnung durch Rowohlt in
Eugen Kogons Frankfurter Verlagsanstalt.
1955 Beginn der Niederschrift des Romans "Sansibar oder der letzte Grund"
1955 -
1957 Herausgeber der literarischen Zeitschrift "Texte und Zeichen", von der
sechzehn Hefte erschienen.
1955 -
1958 Gründer und Leiter der Redaktion "radio - essay" des Senders Stuttgart
(sein Assistent: Hans Magnus Enzensberger).
1956 "Sansibar oder der letzte Grund" erscheint. Beginn der Niederschrift des
Romans "Die Rote"
1957 Aufgabe aller öffentlicher Ämter. Übersiedlung in die Schweiz
(Berzona). Nachbarn: Max Frisch, Golo Mann. Deutscher Kritikerpreis
für " Sansibar oder der letzte Grund"
1960 "Die Rote" erscheint
1962 "Die Rote" wird von Erich Kästner verfilmt. 10 Monate Aufenthalt in
Rom.
1963 Beginn der Niederschrift zu "Efraim"
1964 Drei Monate Aufenthalt in West - Berlin
1965 Leitung einer Film - Expedition des Deutschen Fehrnsehns in die Arktis.
Die erste Hörspielsammlung erscheint unter dem Titel "Fahrerflucht".
Die erste Essaysammlung erscheint unter dem Titel "Die Blindheit des
Kunstwerks"
1966 Schwere Erkrankung
1967 "Efraim" erscheint nach Ablehnung durch den S. Fischer Verlag bei
Diogenes. Nelly - Sachs - Preis für das Gesamtwerk.
1970 Auf Einladung des Goethe - Institutes Vortragsreise durch Nordamerika.
1971 Beginn an der Arbeit zu dem Roman "Winterspelt".
1972 Reise nach Mexiko. "Die Rote" erscheint in neuer Fassung. Verleihung
der Schweizer Staatsbürgerschaft.
1974 "Winterspelt" erscheint. Schwere Erkrankung (Gürtelrose).
1975 Reisen nach Spanien, Portugalund die Sowjet - Union. Literaturpreis der
Bayrischen Akademie der Schönen Künste.
1976 Das Gedicht "artikel 3 (3)" über die Berufsverbote löst eine bundesweite
Diskussion aus. Tod der Mutter.
1977 Seine Gesammelten Gedichte und Nachdichtungen erscheinen unter
dem Titel "empört euch der himmel ist blau".Leicht veränderte
Taschenbuchfassung von "Winterspelt" erscheint. Schwere Erkrankung
(chronische Niereninsuffizienz), Dialyse - Behandlung.
1978 "Winterspelt" wird von Eberhard Fechner verfilmt. Am 13. August
Nierentransplantation.
1979 Zum 65. Geburtstag von Andersch erscheint eine Studienausgabe seiner
Werke in 15 Bänden. Beginn der Niederschrift zu "Der Vater eines
Mörders". Andauer der Krankheit. Übergabe des Nachlasses an das
Deutsche Literaturarchiv in Marbach.
1980 Alfred Andersch stirbt in der Nacht vom 20. auf den 21. Februar an
Nierenversagen. Im Herbst erscheint die Arno Schmidt gewidmete, kurz
vor seinem Tod fertiggestellte Erzählung "Der Vater eines Mörders".
Zusammengestellt aus: Stephan Reinhardt: Alfred Andersch Eine Biographie. Zürich 1990 und Bernhard Jendricke: Alfred Andersch. Hamburg 1994
Sozialisation
1914 - 1932
Alfred Hellmuth Andersch wurde am 4. Februar 1914 im Nymphenburger Krankenhaus in München geboren. Er lebte zusammen mit seinen Eltern, Hedwig und Alfred Andersch senior, und seinem älteren Bruder, Rudolf, im Münchner Stadtteil Neuhausen. 1921 der dritte Sohn, Otto Martin, zur Welt.
Alfred Andersch junior hatte zu seiner Mutter bis zu ihrem Tod im Alter von 92 Jahren immer eine herzliche Beziehung. Anders als zu seinem Vater, zu dem er ein zwiespältiges Verhältnis hatte. Er kam aus dem ersten Weltkrieg als geschlagener Mann zurück. Er machte "die Niederlage Deutschlands zu seiner eigenen" * und wurde dadurch in seinem nationalen Denken noch mehr bestärkt.
Beruflich konnte Alfred Andersch senior nie wieder richtig Fuß fassen. Weder als Antiquariatsbuchhändler wie vor dem Krieg, noch als Immobilienhändler oder Versicherungsvertreter. So setzte er sich mehr für die "nationalen Belange" ein und versuchte sein berufliches Scheitern mit nationalsozialistischen Ideologien zu rechtfertigen. Er trat als einer der ersten in die 1920 ausgerufene NSDAP ein. Alfred Andersch junior konnte sich, im Gegensatz zu seinem Bruder Rudolf, nie für das Nationale oder für die deutsche Militärgeschichte begeistern. Er interessierte sich schon früh für die sogenannte schöngeistige Literatur, von der in der großen Bibliothek des Vaters neben der deutschen Militärgeschichte reichlich vorhanden war.
Alfred Andersch senior hatte mit großem finanziellem Aufwand dafür gesorgt, dass seine beiden älteren Söhne das in München hoch angesehene Wittelsbacher Gymnasium besuchen konnten. Doch beide konnten die Erwartungen nicht erfüllen. Zwar erkannten die Lehrer die Intelligenz des frühreif wirkenden Alfred junior, doch konnten sie ihn nicht für die Schule begeistern. So musste er das Gymnasium auf Grund unzureichender Noten, die aus seinen Desinteresse hervorgingen, am 29. April 1928 verlassen. Sein Bruder Rudolf hatte die Schule schon ein Jahr zuvor verlassen müssen.
Kurze Zeit später fing er, wie sein Bruder, eine Lehre als Buchhändler an. Sein Vater hatte ihm die Stelle beim Münchner Wega - Verlag besorgt. Er studierte dort u. a. die Bücher von Berthold Brecht, Marx, Engels und Lenin. Ein Jahr darauf, 1929, stirbt sein Vater an den Spätfolgen einer Kriegsver - letzung. Wenige Monate später trat der damals sechzehn Jahre Alte Alfred Andersch in den Kommunistischen Jugendverband ein. Er hatte seine Schlüsse daraus gezogen, was der Nationalsozialismus aus seinem Vater gemacht hatte. Der letzten Anstoß, der Andersch zum Eintritt in den KJV bewegte, war wohl die drohende Arbeitslosigkeit, die nach dem Abschluß seiner Lehre auf ihn zukam. Nach dem die Arbeitslosigkeit tatsächlich eintrat, wand er sich intensiver dem KJV zu und wurde 1932 Organisationsleiter im Bereich Süd Bayern.
*aus: Alfred Andersch, Die Kirschen der Freiheit. Zürich 1968, S. 18
Nationalsozialismus und Krieg
1933 - 1945
Als die Nazis 1933 an die Macht kamen war Andersch durch seine Arbeit für die Kommunisten in einer gefährlichen Lage. So wurde er am 8. März verhaftet und seine gesamten Bücher beschlagnahmt. Er wird in das Konzentrationslager in Dachau eingeliefert. Da ein NS - Funktionär und ehemaliger Freund der Familie sich für Andersch verbürgt, kommt er im Mai wieder frei. Zu diesem Zeitpunkt blieb das Gefühl der Zugehörigkeit zur Kommunistischen Bewegung ungebrochen. Er arbeitete weiter für die Partei. Zwar nur als Bote, doch er unterstützte den Widerstand und akzeptierte die Gefahr, die er dafür in Kauf nahm. Der Preis war, dass er bei einer Razzia der Gestapo in einer kommunistischen Druckerei entdeckt wurde. Am 9. September wurde er zum zweiten mal verhaftet. In der Zelle, in der Andersch darauf wartete, zum Verhör geholt zu werden, befanden sich Personen, die aus dem Lager Dachau kamen. Was diese über die Praktiken, die jetzt dort durchgeführt wurden zu berichten hatten, raubte Andersch den letzten Funken seiner Selbstsicherheit. Zwar kam er an diesem Tag wie durch ein Wunder als einziger wieder frei, doch hatte er eine Entscheidung gefällt. "Als ich das Gebäude der Polizeidirektion verließ... wußte ich, dass ich meine Tätigkeit für die Kommunistische Partei beendet hatte."* Andersch entwickelte eine Todesangst davor, wieder ins KZ zu kommen. Himmlers Gestapo hatte bei Andersch, wie bei den meisten anderen, die ihm gleichgesinnt waren, mit ihrer Verfolgung von Oppositionellen ganze Arbeit geleistet.
In den kommenden Jahren brach Andersch den Kontakt zu seinen ehemaligen Genossen ab. Er musste damit rechnen, von der Gestapo überwacht zu werden. Er versuchte das Scheitern seiner Partei und seiner politischen Hoffnung zu ver - drängen. "Ich antwortete auf den totalen Staat mit der totalen Introversion."**
Er bekam eine Stelle bei J.F. Lehmann's Verlagsbuchhandlung und lenkte sich mit allerlei europäischer Literaturgeschichte ab. 1937 nahm er einen Job in Hamburg bei der Werbeabteilung der Leonar - Werke an. Zwar erfüllte ihn die Arbeit dort nicht, doch er konnte für den Lebensunterhalt seiner Familie, er hatte 1935 kurz vor den Rassengesetzen eine Halbjüdin geheiratet, sorgen. Zu dieser Zeit lief sein eigentliches Leben nach der Arbeit ab. Er zog sich täglich zurück, um in Ruhe schreiben zu können.
1940 wurde Andersch, der wegen seiner schwachen Augen bei Kriegsanfang vorläufig ausgemustert wurde, erst als Bausoldat und später als Besatzungs - soldat in Frankreich eingesetzt. Nachdem er dort zufällig ein Mitteilungsblatt der Wehrmachtsführung in die Hände bekam, welches besagte, dass ehemalige KZ - Insassen sofort auszumustern seinen, konnte er seine Entlassung durch - setzen. Bis zu seiner erneuten Einberufung Ende 1943 arbeitete Andersch wieder als Büroangestellter bei der Kosmetikfirma J. G. Mouson & Co. Er faßte schon früh den Entschluß, den er am 6. Juni 1944 wahr machte. Die Desertion.
In Italien, ca. 60 km nördlich von Rom, überquerte Andersch die Frontlinie und wurde von den Amerikanern gefangen genommen.
Andersch 1942
Dieser Schritt war gleichbedeutend mit dem Ausbruch aus seiner Introvertiert - heit. Es war ein Aufstand gegen den eigenen Staat. Andersch konnte nicht akzeptieren, die faschistische Vernichtungsmaschinerie zu unterstützen. Andersch fand in der Gefangenschaft etwas wieder, was er in den letzten Jahren verloren hatte. Nämlich den Gedankenaustausch mit Gleichgesinnten. Die Amerikaner legten großen Wert darauf, dass die Antifaschisten vom Rest der Gefangenen getrennt untergebracht wurden. Ihnen sollte das Prinzip der Demokratie nahegelegt werden. Außerdem hatte Andersch jetzt wieder die Möglichkeit, Literatur zu genießen, die von den Nationalsozialisten in Deutschland verboten wurde. Neben Antifaschistischen Autoren lass Andersch viel aktuelle amerikanische Werke u. a. von Ernest Hemingway. Am 1. März 1945 kam das erste Exemplar des "Ruf" heraus. Es handelte sich dabei um eine Zeitschrift die von Antifaschistischen Gefangenen für die anderen Gefangenen in Amerika gemacht wurde, um unter anderem zur Demokratisierung der Inhaftierten dienen sollte. Ab Mitte April arbeitete auch Alfred Andersch bei der Redaktion der Zeitung mit. Er schrieb einige Artikel über die amerikanische Gegenwartsliteratur. Andersch legte sein Amt Mitte September 1945 nieder, kurz bevor er wieder entlassen wurde. Nachdem er 500 Tage in Gefangenschaft lebte, wird er über Bosten, Le Havre nach Darmstadt transportiert.
*aus: Alfred Andersch, Die Kirschen der Freiheit. Zürich 1968, S. 43 - 44
**aus: Alfred Andersch, Die Kirschen der Freiheit. Zürich 1968, S. 46
Der Journalist
1945 - 1957
Die Rückkehr nach Deutschland war für Andersch mit widersprüchlichen Gefühlen versehen. In der Haft in Amerika führte er ein abgeschirmtes und vergleichsweise sicheres Leben. Im zerstörten Deutschland musste er sich ein neues Leben aufbauen. Doch durch die Bestätigung seiner journalistischen Fähigkeiten war Andersch mit viel Selbstvertrauen ausgestattet. Er fand schnell Arbeit bei der Neuen Zeitung in München. Der Chef der Zeitung, Hans Habe, teilte Andersch in den Redaktionsstab des Feuilleton ein, dessen Aufsicht Erich Kästner führte. Nach anfänglicher Euphorie merkte Andersch allerdings schnell, dass die Ziele der Zeitung und seine eigenen nicht identisch waren. Da die Neue Zeitung als offizielles Organ der US - Militärregierung fungierte, war man zur Loyalität gegenüber dieser Organisation verpflichtet. Alfred Andersch stand der Arbeit der Amerikaner eher kritisch entgegen. So hielt er die Durchführung der Politik der drei großen D's (Demokratisierung, Denazifizierung und Dezentralisierung) für unzureichend. Auch mit dem Begriff der Kollektivschuld wollte sich Andersch nicht abfinden. Seiner Meinung nach sollte dies nur davon ablenken, dass der Aufstieg der NSDAP durch die Wirtschaft und große Unternehmen unterstützt wurde.
Für Andersch war die Neue Zeitung bald nur noch eine Übergangslösung. Zwar entwickelte sich Andersch durch seine Arbeit unter Kästner journalistisch weiter, doch ware die Meinung der Beiden grundsetzlich verschieden. Andersch wollte seine eigene Zeitung machen. Sie sollte den Titel "Verlorene Generation. Kritische Blätter für junge Menschen" tragen und völlig anders als die von Kästner sein. Doch das Projekt kam nie zustande. Statt dessen traf Andersch im Frühjahr 1946 die beiden ehemaligen Redaktionskollegen, Curt Vinz und Walter Kolbenhoff, vom "US - Ruf". Sie beschlossen einen neuen Ruf in München herauszubringen. Als Herausgeber taten sich Alfred Andersch und Hans Werner Richter, der auch schon für den US - Ruf arbeitete, zusammen. Der Rest der Redaktion war schnell gefunden. Am 15. August erscheint die erste Ausgabe des Münchner Rufs. Anders als alle bisherigen Nachkriegszeitungen waren alle Mitarbeiter aus dem gleichen Lager. Neben den Redakteuren verstanden sich auch die ständigen Mitarbeiter als Sozialisten ohne Bindung an Parteiprogramme. Wonach die Zeitschrift suchte, war die Synthese von Freiheit, Demokratie und Sozialismus. Mit der Zielsetzung, sich von jeglicher politischen, ideologischen und moralischen Bevormundung loszusagen, wollte man der Generation der heimkehrenden jungen Soldaten, die sich betrogen fühlten und genug von Staat und Parteien hatten, ein Sprachrohr sein. Die aggressive Schreibweise, die den Ruf kennzeichnete, führte häufig zu Ermahnungen durch regierungsamtliche Stellen. Dies sorgte allerdings auch dafür, dass der Ruf schnell als wirklich unabhängige Zeitschrift in der Öffentlichkeit an Ansehen gewann. Der Ruf hatte bald mehr als 100 000 Abonnenten in den vier Besatzungszonen.
Nachdem die Redaktion nach mehreren Ermahnungen ihren kritisch aggressiven Stil gegen die Besatzungspolitik weiter beibehielt, sorgte die amerikanische Aufsichtsbehörde dafür, dass die beiden Herausgeber, Andersch und Richter, nach der 16. Ausgaben des Ruf ausgeschaltet wurden. Der offizielle Kündigungsgrund lautete, sie hätten im Ruf nationalistischen Tendenzen Vorschub geleistet und nihilistische Parolen verbreitet. Als neuen Herausgeber fand der Nymphenburger Verlag Walter von Cube, der die Zeitschrift auf antikommunistischen Kurs steuerte. Mit Andersch und Richter verließ nach und nach fast die gesamte Redaktion den Ruf.
Doch Andersch und Richter waren nicht bereit aufzugeben. Sie wollten eine neue Zeitung gründen, die den Titel "Der Skorpion" tragen sollte. Im August 1947 lud Richter Freunde und ehemalige Mitarbeiter des Ruf ein, die weiter zu ihm und Andersch hielten, um an der ersten Probenummer zu arbeiten. Andersch war bei dieser ersten Tagung nicht anwesend. Obwohl schnell klar war, dass "Der Skorpion" nie zustande kommen würde, trafen sich die Teilnehmer weiter, um über Literatur zu diskutieren und eigene Werke zu verlesen. Daraus entwickelte sich die wichtigste nachkriegsdeutsche Schriftstellervereinigung, die später als "Gruppe 47" betitelt wurde. Andersch nahm nur selten an diesen Tagungen teil, da er u. a. die Programmlosigkeit, die bis zur Theoriefeindlichkeit ging, nicht akzeptieren wollte.
In den kommenden zehn Jahren machte sich Andersch durch seine fortschrittliche Arbeit im Rundfunk und seiner Förderung literarisch begabter, doch bisher unbekannter, Schriftsteller verdient. Im August 1947 zog er nach Frankfurt, um dort für die Zeitschrift "Frankfurter Hefte" zu schreiben. Einer der Herausgeber, Eugen Kogen, empfahl Andersch dem Rundfunksender "Radio Frankfurt" (später Hessischer Rundfunk). Andersch sollte daraufhin ein kulturell anspruchsvolles Nachtprogramm, das "Abendstudio", schaffen. Dies wurde der Vorreiter für die heutigen 3. Programme. Ab 1. August 1948 zog Andersch in sein Büro im Sendehaus ein und ging am 19. Oktober mit einer Arbeit über Ernest Hemingway auf Sendung. Nachdem dieses Projekt sehr erfolgreich lief, machte sich Andersch einen Namen im Rundfunkbereich. Er bekam vom Nordwestdeutschen Rundfunk das Angebot, eine gemeinsame Feature - Redaktion des Hamburger und Frankfurter Senders zu übernehmen. 1952 zog Andersch mit seiner zweiten Frau, Gisela Groneuer, und seinen Kindern nach Hamburg, um für zwei Jahre dort zu arbeiten. Ab 1955 wechselte er zum Süddeutschen Rundfunk nach Stuttgart, wo er Gründer und Leiter der Abteilung "radio - essay" wurde. Aus dem Projekt "Frankfurter Hefte" entstand der Ableger "studio frankfurt" der von Andersch geleitet wurde. Er setzte hier einen Gegenpol zu der überkommenen spießbürgerlichen Kultur - und Literaturansicht. Es wurden Werke veröffentlicht, die auf dem literarischen Markt keine Chancen gehabt hätten. Unter den bis dahin so gut wie unbekannten Autoren waren u. a. Heinrich Böll, Wolfgang Hildesheimer, Arno Schmidt, Hans Werner Henze und Ingeborg Bachmann mit ihrem ersten Gedichtband "Die gestundete Zeit". Im Programm von "radio - essay" setzte Andersch diese Linie fort.
Sein nächstes Projekt war die Zeitschrift "Texte und Zeichen". In dieser Zeitschrift erschienen in einer bis dato nie dagewesenen Breite deutsche Erstveröffentlichungen ausländischer Autoren. Außerdem fanden viele, teilweise noch nie vorher in Erscheinung getretene Nachkriegsautoren hier ein Forum. Darunter waren u. a. Günter Grass und Hans Magnus Enzensberger.
Zum Jahresende 1957 legt Andersch alle öffentlichen Ämter nieder.
Andersch bei der Arbeit Die erste Ausgabe von
Für den Ruf Texte und Zeichen
Andersch mit Ingeborg Bachmann
bei einem Treffen der Gruppe 47
Die Arbeit als Autor
1955 - 1980
In den Jahren 1955 bis 1957 arbeitete Alfred Andersch an vielen verschiedenen Projekten, die ihn viel Zeit und Einsatz kosteten. In einem Brief an Arno Schmidt schrieb Andersch am 15. Juli 1957: "Unter uns darf ich Ihnen freilich sagen, dass ich der Sache unendlich müde bin, zurzeit auch völlig überarbeitet und aller Kurzschlußhandlungen fähig."* Er musste einen Schlußstrich ziehen, bevor ihn die Arbeit kaputt machte. Nachdem 1956 sein erster Roman "Sansibar oder der letzte Grund", mit dessen Niederschrift er 1955 begonnen hatte, erschien und sich herausgestellt hatte, dass er und seine Familie von dem Erlös seines freien Schriftstellerdaseins leben konnten, siedelte er mit seiner Familie in die Schweiz um. Sie bezogen dort ein Haus im Achtzig - Seelen - Dorf Berzona. Ihre Nachbarn wurden Max Frisch und Golo Mann.
Andersch beim signieren
von Winterspelt, 1974
In Deutschland reagierte man mit Hohn auf die Übersiedlung Anderschs, der sich mit seiner eigenwilligen oppositionellen Haltung immer wieder Feinde gemacht hatte. Es fielen Worte wie Flucht oder strategischer Rückzug. Doch Andersch änderte nicht seine Haltung, sondern nur die Art, wie er sie verkündete. "Auf jeden Fall werde ich Deutschland nicht kampflos räumen."** Andersch sah nicht mehr genügend Wirkung in der journalistischen Arbeit, die sich nur auf die Tagespolitik bezog. Seine Hoffnung lag jetzt in der langfristigen Entwicklung des Kunstwerks, das vom aktuellen Tagesgeschehen unabhängig ist. Er versuchte jetzt zeitlose Werke zu schaffen, was ihm mit "Sansibar oder der letzte Grund" hervorragend gelang.
Mit seinem zweiten Buch "Die Rote" (1960) hatte Andersch bei den Kritikern weniger Erfolg. Er begründete das damit, dass dieses Werk nicht wie "Sansibar oder der letzte Grund" die politische "Rechte" in der Vergangenheit, sondern die aktuelle angriff. Sein dritter Roman "Efraim" bescherte Alfred Andersch den größten Erfolg. Nach der Veröffentlichung von "Efraim" 1967 wurde dem Autoren auf Vorschlag von Nelly Sachs der nach ihr benannte Nelly Sachs Preis für sein Lebenswerk verliehen. 1974 erscheint mit "Winterspelt" der umfang - reichste Roman Anderschs, der die Situation des Dorfes Winterspelt bei Kriegsende widerspiegelt.
Kurz nach Erscheinen des Romans erkrankte Andersch an Gürtelrose. Er kommt zwar wieder auf die Beine, erkrankt aber 1977 erneut schwer, diesmal an chro - nischer Nierensuffizienz. Ein Jahr darauf muss er sich einer Nierentransplanta - tion unterziehen. In der Nacht vom 20. auf den 21. Februar 1980 stirbt Alfred Andersch an Nierenversagen.
Im Herbst erscheint die vor seinem Tod fertiggestellte Geschichte "Der Vater eines Mörders", die sich mit seiner Schulzeit am Wittelsbacher Gymnasium, dessen Direktor der Vater des Nazi - Himmlers war, befaßt.
*aus: Arno Schmidt: Briefwechsel mit Alfred Andersch, Zürich 1985, S. 124
**aus: Arno Schmidt: Briefwechsel mit Alfred Andersch, Zürich 1985, S. 15
Sansibar oder der letzte Grund
Die Geschichte beginnt an einem Herbsttag 1937. Gregor, Kurier des Zentralkomitees der verbotenen Kommunist - ischen Partei kommt in das Hafenstädtchen Rerik in Mecklenburg. Sein Auftrag lautet, dem Fischer Knudsen, der als einziger im Ort noch der Partei angehört, neue Richtlinien des Zentralkomitees, das Fünfergruppen - system, zu überbringen. Ihre geheime Zusammenkunft findet in der Kirche von Rerik statt. Deren Pfarrer, Helander, versucht den Fischer Knudsen zu überreden, eine Holzplastik (der lesende Klosterschüler von Ernst Barlach, Foto), die die Nationalsozialisten beschlagnahmen wollten, weil sie "entartete Kunst" sei, mit dem Schiff nach Schweden zu bringen. Gleichzeitig versucht Judith, ein jüdisches Mädchen, von Rerik aus ins Ausland zu fliehen. Als fünfte Person kommt nun noch der vaterlose Schiffsjunge von Knudsen hinzu, der, von Fernweh und Abenteuerlust getrieben, nach einer Möglichkeit sucht, aus dem langweiligen Dorf Rerik zu entkommen. Die Handlungsfäden kreuzen sich, bis sie schließlich in eine einzige gemeinsame Aktion münden. Gregor bringt Knudsen dazu, das jüdische Mädchen Judith und den Klosterschüler mit dem Schiff nach Schweden zu fahren. Er selbst bleibt, obwohl er die Möglichkeit hat, nach Schweden zu flüchten, allein zurück. Der Pfarrer, der mit seiner Kriegsverletzung schwer zu kämpfen hat und sich in seinem Glauben an Gott seit dem Sieg der "Anderen" nicht mehr sicher ist, opfert sich und wird von den Nazis erschossen.
Andersch lässt in seinem Roman fünf voneinander verschiedene Charaktere aufeinandertreffen. Er stellt dar, wie sie alle durch den Nationalsozialismus in ihrer Persönlichkeit mehr oder weniger eingeschränkt sind. Er zeigt die Kontrolle und das Denunziantentum auf. Die fünf Personen, so verschieden ihre Ansichten und Probleme auch sind, können die Situation nur zusammen meistern. Und sie schaffen es. Hier kann man eine Parallele zur Geschichte finden. Die Nationalsozialisten konnten ihre Machtansprüche verwirklichen, während die SPD und KPD gegeneinander arbeiteten. Sie haben es versäumt, zusammen gegen denn aufbäumenden Nationalsozialismus vorzugehen.
Die Rote
Die Hauptfigur des Romans, die einunddreißigjährige Sekretärin Franziska Lukas, flieht aus ihrem bisherigen Leben, in dem sie zwischen zwei Männern steht, nach Venedig.
Bei den beiden Männern handelt es sich um ihren Mann Herbert, den sie nur geheiratet hat, weil der andere, ihr Chef und Liebhaber Joachim sie nicht heiraten wollte. Franziska wird in dieser Dreiecksbeziehung von beiden Partnern ausgenutzt. Ihr Mann weiß zwar, dass sie immer noch eine Affäre mit ihrem Chef hat, doch er sieht sie wie ein Schmuckstück an, mit dem er sich ziert. Joachim, der es gewohnt ist Macht auszuüben, braucht Franziska zur Vervollständigung seines Erfolgsanspruchs. Andersch stellt mit den beiden Männern die Unmoral und Menschenverachtung des bundesrepublikanischen Systems dar.
Andersch lässt Franziska in Venedig gleich wieder in die nächste Dreiecks - beziehung rutschen. Sie lernt den Briten Patrick kennen, der in Venedig ist, um Kramer, einen ehemaligen Gestapo - Mann, zu töten. Und schon steht sie wieder zwischen zwei Männern die sie ausnutzen. Erst als sie erkennt, in welcher Situation sie sich befindet, kann sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen und sich von allen Personen lösen.
Quellenverzeichnis
1. Stephan Reinhardt: Alfred Andersch Eine Biographie. Zürich 1990
2. Bernhard Jendricke: Alfred Andersch. Hamburg 1994 (3. Auflage)
3. Arno Schmidt: Briefwechsel mit Alfred Andersch, Zürich 1985
4. Alfred Andersch: Die Kirschen der Freiheit. Zürich 1968
5. Alfred Andersch: Sansibar oder der letzte Grund. Zürich 1970
6. Alfred Andersch: Die Rote. Zürich 1969, 1972
7. Alfred Andersch: Efraim. Zürich 1976
8. Alfred Andersch: Der Vater eines Mörders. Zürich 1980
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