Die Marquise von O...
Die Marquise von O.../Das Erdbeben in Chili
Interpretation der ersten und letzten Sätze der beiden Erzählungen sowie je drei weiterer Schlüsselsätze
Inhaltsverzeichnis
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Vorwort
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Die Marquise von O. Interpretation der ersten Sätze Interpretation der letzten Sätze Interpretation drei weiterer Sätze Die Marquise löst sich vom Elternhaus Die Erzählung vom Schwan Thinka Die Versöhnung der Marquise mit ihrem Vater
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Das Erdbeben in Chili Interpretation der ersten Sätze Interpretation der letzten Sätze Interpretation drei weiterer Sätze Wiedersehen von Jeronimo und Josephe Das Gefühl einer falschen Sicherheit Der Tod von Juan
4. Vergleich mit einem weiteren Werk: "Der Findling"
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Selbständigkeitserklärung
6. Literaturverzeichnis
1.Vorwort
Die Aufgabe, einzelne Sätze und Abschnitte der beiden Erzählungen zu interpretieren, ist äusserst interessant. Beim normalen Lesen übersieht man häufig Stellen, die genauer betrachtet erheblich zum Verständnis der Geschichte beitragen würden. Um die mir gestellte Aufgabe aber erfüllen zu können, war es nötig, die Geschichten mit besonderer Aufmerksamkeit zu lesen. Dies war umso mehr notwendig, da auch der Schreibstil von Kleist kein einfacher ist. Die durch viele Kommas, Doppel - und Strichpunkte gespaltenen Sätze werden oft nur nach mehrmaligen lesen verständlich. Ein Problem, an das man sich aber gewöhnt, je länger man mit den Erzählungen arbeitet. Mit der Kenntnis über den Schluss und dem nochmaligen lesen des Buches aber ergaben viele Ausdrücke und Szenen erst einen Sinn, ein völlig anderes Verständnis der beiden Erzählungen war die Folge. In der vorliegenden Arbeit möchte ich einige dieser Erkenntnisse weitergeben. Sie können neue Perspektiven öffnen die es lohnend machen, das Buch ein weiters mal zu lesen und es unter diesen speziellen Gesichtspunkten zu betrachten.
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Die Marquise von O.
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Interpretation der ersten Sätze
Die Marquise von O... hat also in einer Zeitung ein Inserat veröffentlicht das besagt, sie suche den Vater ihres noch ungeborenen Kindes. Zu diesem Schritt bewegt sie die Rücksicht zur Familie, obwohl sie damit den Spott der Welt auf sich zieht. Einen Vorgeschmack, was uns in der Geschichte erwartet, erhalten wir hiermit schon im ersten Satz.
Es verbergen sich aber noch mehr Informationen im Anfang dieser Erzählung, die bei näherem Hinsehen schnell ersichtlich werden. Ausser der Situation werden ein Grossteil der Hauptfiguren sowie der Ort der Handlung bekanntgegeben. Beides wird jedoch sofort wieder eingeschränkt durch die Einleitung des Autors "[...] deren Schauplatz vom Norden nach dem Süden verlegt worden" (S.3) und durch die Verkürzung von Orts - und Familiennamen, die eine klare geographische Einordnung verunmöglichen. Durch diese Unsicherheiten ist bereits ein erstes Element entstanden, das den Leser aufmerksam werden lässt. Den grössten Teil der Spannung erzeugen jedoch die Widersprüche, die sich in den Aussagen des Erzählers verbergen. So sucht eine Frau durch die Zeitung den Vater ihres noch ungeborenen Kindes, um ihn heiraten zu können. Dies tut sie, wie sie selber schreibt, "aus Familienrücksichten"(S.3,Z.10). Rücksicht für die Familie würde aber bedeuten, diese Tat, in den Augen der Gesellschaft schändliche, versuchen zu verheimlichen, anstatt sie an die grosse Glocke zu hängen. Auch wie es dazu kommen konnte, dass eine verwitwete Frau von solch gutem Ruf, die darüber hinaus schon mehrere wohlerzogene Kinder hat, ungewollt schwanger wird ohne den Vater zu kennen, weckt die Neugierde des Lesers in hohem Masse. Die Geschichte setzt damit schon in einem Krisenpunkt ein, dessen Hintergründe noch nicht bekannt sind. Die Frage, wie es denn dazu kommen konnte und was nun daraufhin geschehen wird, lässt einen das Buch nicht mehr aus der Hand legen, bis man die Antworten gefunden hat.
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Interpretation der letzten Sätze
Zum Schluss ist dem Grafen nun doch noch von allen Seiten verziehen worden, sowohl von der Familie als auch von der Marquise. In V..., wo die ganze Familie hingezogen ist, folgen dem unehelich gezeugten Kind nun noch weitere, der anfängliche Missbrauch ist mit dem letzten Satz nun endgültig vom Tisch.
Eben dieser Satz mutet sehr geheimnisvoll an, er beinhaltet religiöse Motive, sprich Engel und Teufel. Der Vergleich mit dem Engel ist wohl eher naheliegend und einfacher zu verstehen. Inmitten der wütenden und mordenden Soldaten, die versuchen, die Marquise brutal zu vergewaltigen, erscheint als Retter in der Not der Graf F. Obwohl er nicht minder brutal gegen seine verbündeten Soldaten vorgeht, um sie von ihrem Vorhaben abzuhalten, missachtet er gegenüber der Marquise niemals die Umgangsformen. Doch in dem Augenblick, als der Graf in das Zimmer der Marquise hereintritt, bricht für diese eine Welt zusammen. Das engelhafte, übermenschliche Bild des Grafen fällt von einer Sekunde auf die andere in ein durch und durch unmenschliches, eben teuflisches Bild. So sind im Grafen gleichzeitig zwei Wesensmerkmale sehr stark vertreten: er ist der edle Retter, kann charmant, kultiviert und feinfühlig sein. Gleichzeitig aber hat er die Marquise geschändet, ist brutal, unbeherrscht und wird geleitet von Triebhaftigkeit. Diese Vorstellung, das sowohl das Gute wie auch das Böse in einem Menschen verbunden sein können, dass die sexuelle Begierde den Verstand einfach ausschalten kann, verändert das Weltbild der Marquise völlig. Die zuvor heile Welt, in der die Marquise, beschützt durch ihr familiäres Dasein, gelebt hat, entpuppt sich nun als sehr instabiles, gebrechliches Gebilde. Ihre sentimentale, träumerische Einstellung zu einer durchaus übernatürlichen Welt verwandelt sich plötzlich in eine sehr nüchterne und realistische Betrachtungsweise.
Zum Schluss jedoch, als die Marquise dem Grafen um den Hals fällt, hat sie die Welt so wie sie ist akzeptiert. Sie versteht, dass der Graf für einen kleinen Moment das Gleichgewicht bei der Gratwanderung zwischen Vernunft und Triebhaftigkeit verloren hat und es zu diesem folgenschweren Ausrutscher kommen konnte. Die teuflische Tat wird ihm verziehen, da er schliesslich beweisen konnte - zum einen durch seine Geduld, zum andern aber auch durch die Schenkung an das Kind und durch sein Testament - dass das Engelhafte in ihm klar überwiegt.
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Interpretation drei weiterer Sätze
2.3.1 Die Marquise löst sich vom Elternhaus
Nach der Vertreibung der Marquise aus dem Elternhaus, dies durch die rasende Wut ihres Vaters, vollzieht sich eine wundersame Verwandlung in ihr. Anstatt in ein tiefes Loch zu fallen, in Selbstmitleid zu versinken, reisst sie sich zusammen und bringt sich selbst aus der Misere. Dies ist gut erkennbar dargestellt durch den Satz: "Durch diese schöne Anstrengung mit sich selbst bekannt gemacht, hob sie sich plötzlich, wie an ihrer eigenen Hand, aus der ganzen Tiefe, in welche das Schicksal sie herabgestürzt hatte, empor."(S.29, Z.6 - 9).
Es ist verwunderlich, von einer schönen Anstrengung zu reden, ist doch die Vertreibung aus dem Elternhaus ein sehr tragisches Ereignis. Dieser Ausdruck lässt aber erkennen, mit welchem Stolz die Marquise wohl zum ersten Mal in ihrem Leben dem Vater getrotzt hat, und damit auch der ganzen, durch die Männer dominierten, Gesellschaft. Obwohl ein Kind ohne Vater keine Anerkennung und keinen Respekt erhält, nimmt sie die Last auf sich, alleine damit fertig zu werden. Sie hat zwar ohne Vater und ohne Mann kein Einkommen und dadurch auch keine gesicherte Existenzgrundlage, aber das ist in diesem Augenblick ohnehin nicht wichtig. Sie hat ihre Stärke der ganzen Welt bewiesen, dadurch hat sie einen bedeutenden Schritt in ihrer Entwicklung gemacht und ein grosses Stück Selbstvertrauen gewonnen.
Die Marquise hat sich durch diesen Schritt auch selbst gefunden. Das Schicksal, das ihr so übel mitgespielt hat, lässt sie erkennen, was wirklich wichtig ist im Leben. Weder die Normen, die ihr durch die Gesellschaft aufgezwungen werden noch die Forderungen, die ihr Vater an sie stellt, sind entscheidend. Die äusseren Einflüsse sind nicht wichtig, sie tragen nicht zur eigenen Verwirklichung bei. Worauf es ankommt sind ihre eigenen Wünsche, ihre eigenen Vorstellungen vom Leben. Mit sich selbst bekannt werden heisst für die Marquise auch in ihr eigenes inneres zu schauen und dort zu erfahren was sie wirklich will. Mit der Verbannung aus dem Elternhaus, wobei sie aber ihre Kinder mitgenommen hat, obwohl der Vater ihr das Gegenteil befahl, ist ein erster Schritt in ihre eigene Freiheit getan, die Zwänge der Männerdominanz sind zum ersten Mal durchbrochen worden.
Dieser Schritt ist aber für die anderen Menschen weitaus weniger bewegend als für die Marquise selber. So zieht sie sich selbst aus der Tiefe empor und kommt somit mit sich selbst ins Reine. Für den Rest der Welt hat sich aber das schändliche Bild der Marquise wohl kaum geändert. Es dürfte sich eher noch verschlechtert haben, da sie jetzt ohne Vater für ihr Kind und dazu noch ohne Familie ist. Auch das Ende der Geschichte relativiert diesen vermeintlichen Schritt in die Unabhängigkeit, denn schlussendlich wird die Marquise wieder in Abhängigkeit der Männer versetzt. Zum einen, weil sie den Vater des Kindes suchen muss, denn ohne ihn wird ihm das ganze Leben hindurch ein Schandfleck anhaften. Die mütterliche Herkunft reicht nicht aus, denn in einer patriarchalischen, sprich in einer von Männern dominierten Gesellschaft, muss die Abstammung durch eine männliche Linie einordbar sein. Auch die Heirat mit dem Grafen und somit eine erneute wirtschaftliche Abhängigkeit machen ein alleiniges bestehen der Marquise, oder der Frauen allgemein, ausserhalb der gesellschaftlichen Normen unmöglich.
2.3.2 Die Erzählung vom Schwan Thinka
Ein sehr interessanter Abschnitt der Geschichte ist die Erzählung des Schwanes Thinka, eine Schilderung des Fiebertraumes, den der Graf F. während seiner schweren Verwundung erlebt hatte. Sie lautet wie folgt: "Hierauf erzählte er mehrere, durch seine Leidenschaft zur Marquise interessanten, Züge: wie sie beständig, während seiner Krankheit, an seinem Bette gesessen hätte; wie er die Vorstellung von ihr, in der Hitze des Wundfiebers, immer mit der Vorstellung eines Schwans verwechselt hätte, den er, als Knabe, auf seines Onkels Gütern gesehen; dass ihm besonders eine Erinnerung rührend gewesen wäre, da er diesen Schwan einst mit Kot beworfen, worauf dieser still untergetaucht, und rein aus der Flut wieder emporgekommen sei; dass sie immer auf feurigen Fluten umhergeschwommen wäre, und er Thinka gerufen hätte, welches der Name jenes Schwans gewesen, dass er aber nicht im Stande gewesen wäre, sie an sich zu locken, indem sie ihre Freude gehabt hätte, bloss am rudern und In - die - Brust - sich - werfen; versicherte plötzlich, blutrot im Gesicht, dass er sie ausserordentlich liebe: sah wieder auf den Teller nieder, und schwieg."(S.17,18).
Diese kurze Episode kann man deuten als Geständnis des Missbrauchs, das jedoch keiner der Anwesenden versteht. Der Graf spricht zwar von einer Verwechslung der Marquise mit dem Schwan, in Wirklichkeit kann man diese beiden Figuren aber gleichsetzen. In dieser kurzen Erzählung sind einige Begebenheiten enthalten, die man auf den tatsächlichen Verlauf der Geschichte übertragen kann. So ist zum Beispiel das bewerfen des Schwanes mit Kot gleichzusetzen mit der Vergewaltigung der Marquise während des Kampfes. Auch das umherschwimmen auf den feurigen Fluten lässt einen an die Schlacht um die Zitadelle denken, bei der zahlreiche Brände ausgebrochen sind. Anschliessend taucht der Schwan ab und kommt rein wieder aus den Fluten empor, was uns die Unschuld, die Unantastbarkeit und somit auch die Reinheit der Marquise vor Augen führt. Dass er den Schwan Thinka gerufen hat, dieser sich aber nicht anlocken liess, lässt uns an den tatsächlichen Verlauf der Handlung denken. Auch hier kann er seine Angebetete nicht für sich gewinnen, trotz dem Geständnis seiner Liebe und dem Heiratsangebot, dass er ihr unterbreitete. Die Worte, die Kleist in diesem Abschnitt der Erzählung wählt, stellen einen sehr engen Bezug zwischen dem Schwan und der Marquise dar, der auch wieder ihre Übereinstimmung erkennen lässt. Er nennt zuerst "diesen Schwan"(S.17, Z.37) und "worauf dieser"(S.18, Z.1) in seiner Erzählung, was unpersönlich klingt, dann aber "dass sie immer"(S.18, Z.2,3) und "sie an sich zu locken"(S.18, Z.6), wodurch man leicht auf die Marquise schliessen kann.
Dieses Geständnis lässt den Grafen sofort erröten, auch ein Zeichen dafür, dass er sich für seinen Missbrauch ausserordentlich schämt. Da nun aber keiner der Anwesenden das Geständnis deuten kann, nimmt es keinen Einfluss auf den direkten Verlauf der Geschichte und es kommt auch niemand mehr im späteren Verlauf darauf zu reden, es ist zum alleinigen Nutzen des Lesers, der so das Geschehene besser verstehen und deuten kann.
2.3.3 Die Versöhnung der Marquise mit ihrem Vater
Die Versöhnungsszene erscheint ziemlich bizarr und war zu der Zeit von Kleist wohl noch weitaus schockierender als sie es heute ist. Ich ziehe zur Interpretation einen Satz dieser Szene heran, der mir besonders markant erscheint: "Die Tochter sprach nicht, er sprach nicht; mit über sie gebeugtem Antlitz sass er, wie über das Mädchen seiner ersten Liebe, und legte ihr den Mund zurecht, und küsste sie."(S.44, Z.10 - 13).
Die Art der Liebe, die der Vater für seine Tochter empfindet, macht beim lesen dieses Satzes besonders stutzig. Es scheint sich nicht um eine Liebe zu handeln, die normalerweise zwischen Vater und Tochter herrscht, sondern vielmehr eine Liebe, wie wir sie unter jungen, zum ersten mal verliebten Menschen erkennen können. Sie ist geprägt durch Leidenschaft, Zuneigung, Vertrauen aber auch durch Erotik. Diese ist in einer Vater - Tochter Beziehung wohl unangebracht, lässt sie doch diese Versöhnungsszene eher wie eine Liebesszene aussehen.
Doch meiner Meinung nach sollte man diesen Abschnitt der Erzählung nicht so wörtlich nehmen wie er dasteht. Die Form eines Berichtes, der vermittelt wird von der Mutter der Marquise, die hier als Augenzeugin auftritt, mindert schon ein wenig die Brisanz. Wenn die Mutter dieses Verhalten nicht als anstössig oder unangebracht empfindet, sondern nur als eine übertriebene Art der Entschuldigung, so können auch wir das tun, denn wer trägt mehr Sorge um ein Mädchen als die eigene Mutter? Am ehesten ist dies der Vater, doch dieser ist so sehr um die Entschuldigung seiner Tochter bemüht, dass er dabei wohl keine Hintergedanken hegt. Vielmehr ist diese heftige Reaktion durchaus verständlich, vergleicht man sie mit der Heftigkeit, mit der die Marquise zuvor vom Vater vertrieben wurde. Jene Szene ist nicht minder übertrieben als die nun darauf folgende Entschuldigung.
Dass der Kommandant jetzt erfahren hat, er wurde von seiner Tochter nicht belogen und betrogen, sondern sie von Anfang an die Wahrheit sagte, stürzt ihn in einen Zustand endloser Reue, in dem er sich hilflos befindet und nicht mehr weiss was er tun soll. Dies ist scheinbar der tiefste Moment seelischer Erschütterung und Bewegtheit in der Ganzen Erzählung. So brutal und gnadenlos er bei der Vertreibung seiner Tochter vorging, so extremer sind jetzt seine Empfindungen bei der Versöhnung. Solch extreme Gefühle müssen auch mit extremen Worten ausgedrückt werden, um ihnen die richtige Tragweite zu verleihen. Wer diese Formulierungen allzu wörtlich nimmt, kann leicht auf eine falsche Spur gelenkt werden. Man erkennt die Intensität der Gefühle auch in der nun herrschenden Verbundenheit von Vater und Tochter. Beide brauchen keine Worte mehr, um den anderen verstehen zu können. Mit den Worten versteht man jeden Menschen, mit dem Herzen aber kann man nur jemanden verstehen mit dem man eng verbunden ist. So haben sich die beiden doch noch gefunden, das Vertrauen, welches anfänglich verloren ging, ist wieder aufgebaut. Durch die Versöhnung der Familie ist der erste Schritt getan zu Versöhnung mit dem Grafen, denn erst jetzt sind sie dazu bereit, den Unbekannten in ihrem Haus zu empfangen. Würde sich der Vater des Kindes als zu verkommen herausstellen, wären die Eltern auch dazu bereit das Kind zu adoptieren. Dies gibt der Marquise den nötigen Rückhalt um das, was sie sich vorgenommen hat, auch wirklich durchzuziehen.
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Das Erdbeben in Chili
3.1 Interpretation der ersten Sätze
Auf den ersten Blick sind die eröffnenden Sätze der Erzählung "Das Erdbeben in Chili" nicht sonderlich aufschlussreich. "In St.Jago, der Hauptstadt des Königreichs Chili, stand gerade in dem Augenblicke der grossen Erderschütterung vom Jahre 1647, bei welcher viele tausend Menschen ihren Untergang fanden, ein junger, auf ein Verbrechen angeklagter Spanier, namens Jeronimo Rugera, an einem Pfeiler des Gefängnisses, in welches man ihn eingesperrt hatte, und wollte sich erhenken. Don Henrico Asteron, einer der reichsten Edelleute der Stadt, hatte ihn ungefähr ein Jahr zuvor aus seinem Hause, wo er als Lehrer angestellt war, entfernt, weil er sich mit Donna Josephe, seiner einzigen Tochter, in einem zärtlichen Einverständnis befunden hatte. Eine geheime Bestellung, die dem alten Don, nachdem er die Tochter nachdrücklich gewarnt hatte, durch die hämische Aufmerksamkeit seines stolzen Sohnes verraten worden war, entrüstete ihn dergestalt, dass er sie in dem Karmeliterkloster unsrer lieben Frauen vom Berge daselbst unterbrachte"(S.51)
Der erste Satz macht den Leser vertraut mit Ort und Zeit der Handlung und gibt ihm einen Einblick in die momentanen Geschehnisse, die einen äusserst dramatischen Verlauf nehmen, jedoch ohne dass dem Leser die Hintergründe derselben bekannt sind. Sodann beginnt Kleist die Vorgeschichte zu diesem entscheidenden Ereignis nachzuholen. In zwei Sätzen zusammengerafft wird erzählt von einer verbotenen Liebesbeziehung zwischen dem Hauslehrer Jeronimo und der Tochter seines reichen und adeligen Arbeitgebers, Josephe. Diese Beziehung wird verraten vom Bruder des Mädchens, das daraufhin zur Bestrafung in ein Karmeliterkloster eingesperrt wird, Jeronimo wird sofort entlassen.
Wer jedoch diesem ersten und oberflächlichen Blick auf diese Sätze nicht eine zweite, genauere Betrachtungsweise folgen lässt, erkennt die Wichtigkeit von Kleists Eröffnungsfeuerwerk nicht richtig. In einem ersten Satz wird der Leser unvermittelt in die Vorgänge in St.Jago hineingerissen. Die Geschichte beginnt bereits mit einem Höhepunkt, dessen Herleitung erst später, in Form eines Rückblicks, geschildert wird. Trotz der Grausamkeiten, "[...]in dem Augenblicke der grossen Erderschütterung vom Jahre1647, bei welcher viele tausend Menschen ihren Untergang fanden[...]"(S.51,Z.2 - 5), hat man als Leser genug Distanz zu den Ereignissen, da sie in einer Art geschildert werden, wie es heutzutage in den Nachrichten vorkommt. Diese Entfernung wird aber plötzlich aufgehoben, als man mit der Person des jungen Jeronimo Rugera konfrontiert wird, der sich zu diesem Zeitpunkt gerade erhängen will. Zu der Naturkatastrophe, die einen erschauern lässt, kommt nun auch noch das Schicksal eines namentlich genannten Individuums dazu, das der ganzen Szene einen persönlichen Charakter verleiht.
Auffallend ist auch, wie durch die Naturkatastrophe tausende von Menschen unfreiwillig den Tod finden, im Hintergrund dieses grossen Ereignisses ein Mensch aber willentlich seinen eigenen Tod selbst herbeiführen will. Ein Gegensatz, oder fachlich ausgedrückt eine Antithese, die auch zur Spannung dieses Eröffnungssatzes beiträgt, da sich die Frage stellt ob alles nur ein Zufall ist, oder ob die Geschehnisse nicht doch von einer höheren Macht beeinflusst werden. Denn die Katastrophe kommt Jeronimos eigenen Todesplänen zuvor. Ein Selbstmordversuch ausgelöst, wie wir später erfahren werden, durch die Einwohner von St.Jago und eine gesellschaftliche Norm, die zum Todesurteil von Josephe und zur Inhaftierung Jeronimos geführt hat. Was die anderen für eine Strafe Gottes halten, ist für Jeronimo und Josephe, die gottes Zorn ja erst auf St.Jago gelenkt haben sollen, die Wiedererlangung ihrer Freiheit.
Auf jeden Fall ist die Eröffnung von Kleists Novelle weit mehr als nur eine lapidare Bekanntgabe von Ort und Zeit der Handlung. Vielmehr ist es ein offensichtlich geschickt konstruierter Satz, der bereits zu Beginn der Erzählung die volle Aufmerksamkeit des Lesers fordert. Sein Interesse ist geweckt durch die nun aufgeworfenen Fragen: Was für Auswirkungen hat das Erdbeben auf den Vortlauf der Geschichte? Was genau wird Jeronimo Vorgeworfen? Weshalb will er sich erhängen und wird er sein Vorhaben auch wirklich vollenden? Bis zur Befriedigung seiner Neugier wird er das Buch nicht mehr so schnell aus den Händen legen, dies ist wohl auch das Ziel einer gelungenen Einführung.
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Interpretation der letzten Sätze
Donna Elvire nimmt die Nachricht vom Tode Juans mit grosser Trauer auf, was ja nicht verwunderlich ist. Umso erstaunlicher scheint dagegen, dass die Befürchtungen von Don Fernando sich als absolut falsch erweisen. Durch sein langes Zögern würde man eher eine negative Reaktion Donna Elvires erwarten, etwa eine Schuldzuweisung oder ein Wutausbruch. Doch diese trägt den Schmerz wie eine treffliche Dame, wird mit ihrer Trauer alleine fertig und akzeptiert das, was geschehen ist. Mehr noch, sie verzeiht Don Fernando ohne Einschränkung, was sehr gut aus der bildhaften Szene ersichtlich ist, als sie ihm um den Hals fällt und ihn küsst. Beide erklären sich nun einverstanden damit, den kleine Philipp als Sohn zu adoptieren, vielleicht auch um so den schmerzlichen und grausamen Verlust von Juan etwas zu mildern.
Der rätselhafteste Satz ist und bleibt jedoch der Schlusssatz. Er ist so raffiniert geschrieben, dass er in einer Art Schwebe zu hängen scheint. Egal wie man ihn betrachtet, eine wirklich befriedigende Lösung bietet sich nicht an, da es dem Leser verunmöglicht wird, einen klaren Schluss zu ziehen. Hat die Geschichte trotz aller unmenschlichen Ereignisse doch noch einen glücklichen Schluss gefunden oder ist selbst die Adoption von Philipp und somit auch das Weiterleben der Liebe zwischen Jeronimo und Josephe noch als tragisch zu werten?
Die Geschichte endet mit den beiden Worten sich freuen. Darin könnte man den Versuch erkennen, dem Leser ein gutes Gefühl mit auf den Weg zu geben, ihn den Schluss als positiv erkennen zu lassen. Philipp ist zwar ein Kind das in Schande, jedoch aus einer starken Liebe zwischen Jeronimo und Josephe gezeugt wurde. Er ist, mit der Liebe zusammen, die sich in ihm versinnbildlicht, ein Hoffnungsschimmer in einer ansonst zerstörten Welt. Durch ihn überdauert das Gute das Böse, die gewalttätige und ungerechte Welt erlebt eine Art Rechtfertigung, einen Sinn, weiterzuexistieren. Auch die Herzlichkeit die Donna Elvire und Don Fernando ausstrahlen zeigt uns, dass es Menschen gibt, die ihre Menschlichkeit nicht verloren haben. Durch solche Menschen lässt sich annehmen, dass die Welt nicht so schlecht sein kann wie man meint, wenn man sich an die Grausamen Szenen auf dem Kirchplatz erinnert.
Aber es ist auch ein durchaus negativer Beigeschmack vorhanden. Schon die Gefahr, die Philipp darstellt, lässt nichts gutes erahnen. So ist es denkbar, dass die Mörder von Josephe, Jeronimo, Juan und Donna Constanze keine Ruhe geben, bis sie auch den letzten Schandfleck der Stadt, den kleinen Philipp, ermordet haben. Mit ihm zusammen befinden sich auch seine beiden Pflegeeltern in grosser Gefahr.
Das Auffälligste an diesem Satz ist jedoch der Vergleich von Philipp mit Juan und der Schlussfolgerung von Don Fernando, "...so war es ihm fast, als müsst er sich freuen."(S.69, Z.4,5). Diese letzte Aussage wird gleich dreifach gemindert. Zum einen durch den unpersönlichen Ausdruck "war es", der durchblicken lässt, dass seine Gefühle nur vage sind. Sie sind wie von einem Nebel verschleiert, so dass er sie nicht klar erfassen kann, sondern höchstens erahnen. Wie soll es da dem Leser möglich sein, einigermassen gesicherte Schlüsse zu ziehen? Auch das Adverb "fast" steigert die Verunsicherung nur, denn es ist ihm unmöglich, seine Gedanken und Gefühle in ihrer Ganzheit zu erfassen, er ist eben nur fast dazu imstande. Die Wirkung auf den Leser ist wieder dieselbe, er weiss nicht recht, wie er die Aussage deuten soll. Die Unklarheiten komplett macht schlussendlich der Konjunktiv "müsst". Er könnte sich darüber freuen, da er ja mit eigenem Willen darüber entscheiden kann. So aber hat man das Gefühl, als ob ein äusserer Einfluss ihn zur Freude zwingt, obwohl er eigentlich in seinem Innersten ganz und gar nicht glücklich darüber ist.
Da dieser Schluss so undeutlich gehalten ist, undeutlich für Don Fernando wie auch für den Leser, lässt einen die Geschichte nicht recht zur Ruhe kommen. Man wird leicht dazu verleitet, in seinen Anstrengungen den Satz mit Gewalt interpretieren zu wollen, obwohl er überhaupt nicht zu interpretieren ist. Doch eben diese Spannung lässt jeden einzelnen seine Phantasie benutzen, um so für sich selbst auf eine annehmbare Lösung zu kommen. Kleist hat in meinen Augen gut daran getan, den Schluss so rätselhaft zu belassen.
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Interpretation drei weitere Sätze
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Wiedersehen von Jeronimo und Josephe
Durch diesen Satz wird die Frage beantwortet, ob Josephe die vermeintliche Hinrichtung und das Erdbeben überlebt hat. Einer Phase von tiefer Trauer folgt direkt eine von höchstem Glück, die Schrecken des Erdbebens scheinen vergessen zu sein. Die Geschichte nimmt hier inhaltlich eine Wendung, denn nach einer Zeit mit durch und durch schlechten Erlebnissen kündigt sich nun ein positiver Fortlauf der Handlung an, zuvor folgt aber noch ein Rückblick, der die Erlebnisse von Josephe während des Erdbebens schildert.
Jeronimo bekundet seine endlose Erleichterung mit einem Ruf zur heiligen Mutter Gottes, seine und Josephens Errettung scheint eine göttliche Fügung zu sein. Dieselbe religiöse Figur wird jedoch auch vom Karmeliterorden verehrt, in dessen Kloster Josephe eingesperrt wurde und in dessen Garten die Zeugung des kleinen Philipp stattfand. Ein erheblicher Widerspruch wird aufgezeigt, doch ist dies nicht so verwunderlich wie man meinen könnte. Die Beziehung von Jeronimo zu Gott ist nicht etwa konstant, sondern geprägt von einer eigenartigen Sprunghaftigkeit. Kurz zuvor nämlich, als er Josephe tot glaubt, denkt er von Gott weit weniger euphorisch, denn "[...]sein Gebet fing ihn zu reuen an, und fürchterlich schien ihm das Wesen, das über den Wolken waltet."(S.54, Z.29 - 31). In Schwierigen Zeiten findet er also keinen Halt im Glauben, vielmehr ist Gott ein fürchterliches Wesen. Dies scheint sich auch zu bestätigen, als am Schluss, wo sie Gott in einer Messe danken wollen, das schreckliche Massaker seinen Anlauf nimmt. Hier ist der Schuldige aber nicht im Himmel zu suchen, sondern auf Erden, wo die Menschen noch nicht Verstanden haben, was Nächstenliebe eigentlich zu bedeuten hat. Im Augenblick des Wiedersehens ist aber aller Gram gegen Gott schon wieder vergessen, das kaum fassbare Glück kann nur von einer höheren Macht geleitet worden sein.
Es ist auch für den Leser erstaunlich, welch überraschende Wendung die Erzählung hier wieder erlebt hat. Glaubt man, die Situation sei in Sicherheit, geschieht etwas unvorhergesehen schreckliches, scheint aber das Glück jemanden verlassen zu haben, renkt sich ohne Vorankündigung alles wieder ein, wie auch in diesem Fall geschehen. Man kann sich fragen, ob all diese Wendungen nur Schicksal sind oder ob nicht Gott tatsächlich das Geschehen zu beeinflussen vermag.
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Das Gefühl einer falschen Sicherheit
Josephe kann also der grausamen Naturkatastrophe sogar etwas gutes abgewinnen. Trotz unsäglicher Zerstörungen, sowohl von Menschen gemachtem wie auch an der Natur selber, geht von ihr ein positiver Aspekt aus, denn der menschliche Geist scheint sich zu öffnen. Der Respekt gegenüber anderen, das Interesse nicht nur für sich selbst sondern auch für die Probleme fremder dazusein wird dadurch erst ermöglicht. Die gesellschaftlichen und sozialen Schranken werden von der Katastrophe eingerissen wie die Häuser der Stadt. Die Reichen helfen den Armen, die Adligen den Bettlern, jeder ist für jeden da. In dieser Stimmung, einer unglaublichen Akzeptanz aller Klassen, glauben sich auch Josephe und Jeronimo in Sicherheit. Doch wie eine Blume verwelken muss, so ist auch diese Atmosphäre von Gleichheit und Verbundenheit zum Scheitern verurteilt. Sobald die unmittelbare Bedrohung vorbei sein wird, werden die Menschen zu ihrem gewohnten Leben zurückkehren. Bettler werden nichts anders mehr sein als Bettler, die Reichen werden wieder überheblich auf die Armen herunterschauen. Auch Jeronimo und Josephe werden nicht lange von der Brüderlichkeit der anderen zehren können, denn das Verbrechen das sie begangen haben ist zu gewaltig, die Verachtung durch die Bewohner der Stadt zu gross. Schlussendlich lernen die Menschen nichts von der Katastrophe, ihr Geist wird sich wieder verschliessen und sie werden weiterhin in einer Welt leben, in der die alten Gesetze und Verhaltensweisen bestehen bleiben.
Doch dieser Augenblick reicht, um Jeronimo und Josephe glauben zu lassen, dass alle Menschen so sind wie diejenigen, durch die sie aufgenommen wurden. Sie sind aber eine Ausnahme, die nicht mit dem Strom der restlichen Welt mitschwimmen, sondern für ihre eigenen Prinzipien bis zum bitteren Ende einstehen. Doch sie geben den beiden Verliebten, welche die Realität nicht mehr erkennen können oder vielleicht auch wollen, ein Gefühl der Hoffnung, einer falschen Geborgenheit, die sie schliesslich in den Tod führen wird.
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Der Tod von Juan
Diese deutliche, bildhafte Darstellung der körperlichen Gewalt ist sehr auffallend und in ihrer Darstellung auch der Höhepunkt einer Kette von gewalttätigen Aktionen. Anfangs steht die Gewalt der Kirche und des Staates über die Gesellschaft im Mittelpunkt. Nur durch sie ist es möglich die beiden jungen Verliebten, die aus heutiger Sicht nichts verbotenes getan haben, gleich zum Tode zu verurteilen. Die Gewalt findet sich aber auch in jedem einzelnen wieder. So wird die geplante Hinrichtung von Josephe zu einer amüsanten Unterhaltung für beinahe die ganze Stadt. Gross ist die Entrüstung, als der Tod durch verbrennen umgewandelt wird in eine Enthauptung. Auch die Natur scheint sich der Gewalt verschrieben zu haben, was im Ausbruch des ungeheuren Erdbebens unschwer zu erkennen ist. Zuletzt wird die Gewalttätigkeit einer rasenden Menge dargestellt, die einzelnen Personen, wie Pedrillo oder Jeronimos Vater erlaubt, Hinrichtungen ohne Urteil zu begehen. Gewalt macht einen Hauptteil der Geschichte aus und wird oft in langen Abschnitten deutlich geschildert. Nur im Mittelteil kommt die Geschichte zur Ruhe, scheint sich alles zum guten zu wenden, aber dies ist nur ein Mittel um das unvermeidliche Ende der Geächteten herbeizuführen.
Die Tatsache, dass zufälligerweise Juan und nicht Philipp ermordet wurde, gestaltet das Ende der Erzählung noch tragischer, als es ohnehin schon ist. Bei Philipps Tod wäre eine Familie komplett ausgelöscht worden, die Überlebenden hätten aber ihr eigenes Kind behalten können. Nun aber hat Philipp seine Eltern, Don Fernando und Donna Elvire ihr einziges Kind verloren. Sie sind für ihre selbstlose Hilfe schlussendlich noch hart bestraft worden.
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Vergleich mit einem weiteren Werk: "Der Findling"
Obwohl "Die Marquise von O..." und "Das Erdbeben in Chili" durchaus ähnliche Erzählungen sind, sei es durch die sexuellen Handlungen als Konfliktauslösendes Element oder die unvorhersehbaren Entwicklungen innerhalb der Geschichten, werde ich sie getrennt zu einem Vergleich heranziehen.
Die auffallenderen Ähnlichkeiten mit dem "Findling" besitzt wohl das "Erdbeben in Chili". So wird in beiden Erzählungen nach dem tragischen Tod des eigenen Kindes ein weitgehend fremdes adoptiert, wobei dies im "Findling" am Anfang der Handlung geschieht, im "Erdbeben in Chili" jedoch erst ganz am Schluss. Auch sterben in beiden Geschichten viele der Haupt - und Nebenfiguren, sei es durch Mord, Krankheit oder die Todesstrafe. Nun aber zum Vergleich der ersten Sätze.
In beiden Geschichten wird zu Beginn der Ort der Handlung bekannt gegeben, damit sind die Parallelen jedoch bereits aufgezählt. So setzt im "Erdbeben in Chili" die Handlung mit einer Heftigkeit ein, wie sie grösser nicht sein könnte. Unmittelbar in das Geschehen hineingebracht ist der Leser von den ersten Zeilen an in Spannung versetzt. Darauffolgend wird mittels eines Rückblicks erklärt, wie es zu diesem Ereignis kommen konnte. Der "Findling" beginnt weitaus gemächlicher. Er setzt nicht mitten in der Handlung ein, sondern leitet zu ihr hin. Obwohl eine pestartige Krankheit in der Stadt ausgebrochen ist, ist dies nicht weiter schlimm, da die wichtigen Personen, Antonio Piachi und sein Sohn Paolo, nicht davon betroffen sind, weil sie vorher wieder abreisen. Auch die letzten Sätze weisen keine Parallelen auf. So wird im "Erdbeben in Chili" von Don Fernando, Donna Elvire und Philipp berichtet, die alle das Massaker auf dem Kirchplatz überlebt haben. Der Schluss ist unklar, der weitere Verlauf der Handlung noch weitgehend offen. Im "Findling" kommt Antonio Piachi, einer der Guten, im letzten Satz ums Leben, der Schluss ist klar tragisch. Auch bleiben keine offenen Fragen zurück, da Nicolo die einzige überlebende Hauptfigur darstellt und somit die Konflikte unter den Personen gelöst, oder besser gesagt nicht mehr vorhanden sind.
Bei der "Marquise von O..." sehe ich die Zusammenhänge vor allem im Umfeld in der sich die Handlung abspielt. In beide Erzählungen bestehen die Probleme weitgehend in der Familie, obwohl sie im "Findling" vermehrt durch Aussenstehende beeinflusst und geschürt werden. Mit den ersten Sätzen verhält es sich zum grössten Teil gleich wie beim "Erdbeben von Chile". Auch hier steht der abrupte Einstieg in die Handlung, die durch Widersprüche aufgebaute Spannung und der darauffolgende Rückblick im Gegensatz zur eher ruhigen Eröffnung des "Findlings". Der Unterschied der letzten Sätze erscheint mit hier noch drastischer. Die Versöhnung des Grafen mit der Familie von O... und die glückliche zweite Heirat mit der Marquise sind ein noch drastischerer Kontrast zur Hinrichtung von Antonio Piachi als dies beim "Erdbeben in Chili" der Fall ist. Höchstens die Tatsache, dass sich der Wunsch von Antonio Piachi, hingerichtet zu werden, doch noch erfüllt, lässt einen positiven Aspekt zum Abschluss der Geschichte erahnen. In Anbetracht der tragischen Entwicklung der Erzählung ist dies aber nicht von Gewicht.
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Literaturverzeichnis
Von Kleist, Heinrich: "Die Verlobung in St. Domingo", "Das Bettelweib von Locarno", "Der Findling". Stuttgart. Reclam. 1998
Bacher, Suzan: Lektürehilfen Heinrich von Kleist. "Die Marquise von O...", "Das Erdbeben in Chili". Stuttgart. Klett. 1998
Hinderer, Walter: Interpretationen. Kleists Erzählungen. Stuttgart. Reclam. 1998
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